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Buch zu "Dutschkes Deutschland":

Alle Stasi außer Mutti

besprochen von:

Michael Sontheimer

Ein Buch von einstigen SDS-Aktivisten legt dar, dass die Studenten von 1968 keine Marionetten der ostdeutschen Kommunisten waren, sondern autonome Linksradikale.


Vietnam-Demo Februar 1968 in Berlin anlässlich des Internationalen Vietnamkongresses
Von links: Günter Amendt (mit Sonnenbrille), ein SEW-Genosse, Gaston Salvatore, Rudi Dutschke, Alain Krivine (im schwarzen Mantel, von der trotzkistischen Jeunesse Revolutionnaire aus Frankreich),. ein Berliner Genosse (mit Kamera)

 

Nachdem sowjetische Truppen in den Morgenstunden des 21. August 1968 in den angeblichen "Bruderstaat" Tschechoslowakei eingerückt waren, trafen sich in Westberlin im Republikanischen Club Vertreter verschiedener linksradikaler Gruppen. Sie waren über die gewaltsame Unterdrückung des "Prager Frühlings" aufgebracht. Am Nachmittag, auf einer Versammlung im Audimax der Technischen Universität, erklärte Wolfgang Lefèvre für den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), dass die "Zukunft des Sozialismus nicht mehr an die Sowjetunion gebunden" sei. Am Abend brachen 4.000 Studenten und Schüler zu einem Protestmarsch zur tschechoslowakischen Militärmission in Berlin-Dahlem auf. Sie skandierten: "Amis raus aus Vietnam, Russen raus aus Prag."

Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse ist es erstaunlich, dass in den letzten Jahren konservative Historiker und Journalisten versucht haben, die Studentenbewegung der 1960er Jahre als stark von Ostberliner Kommunisten und Agenten der Staatssicherheit beeinflusst darzustellen. Neben Hubertus Knabe, dem Leiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, haben der Springer-Journalist Sven Felix Kellerhoff und zuletzt der Exkommunist Peter Horvath ("Die inszenierte Revolte") Arbeiten vorgelegt, in denen sie die rebellierenden Studenten zu Marionetten der Kommunisten in der DDR degradierten. Sie zeichneten ein - durch eine Überdosis Stasi-Akten - verzerrtes, partiell paranoides Geschichtsbild: Alle Stasi außer Mutti.

Gegen Geschichtsrevision

Gegen diesen Versuch einer "Generalrevision der deutschen Geschichte", wie Kellerhoff seine Absicht beschrieb, haben nun wiederum Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker ein Buch veröffentlicht. Sein Titel: "Dutschkes Deutschland. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund, die nationale Frage und die DDR-Kritik von links." Fichter und Lönnendonker waren einst Mitglieder im SDS und - um es gleich vorwegzunehmen - ihr Buch schildert vorwiegend die Geschichte der deutschlandpolitischen Diskussionen des SDS, der Debatten über die deutsche Teilung und die Wiedervereinigung. All das, was traditionelle Linke unter dem unschönen Begriff "nationale Frage" zusammenfassen. Um Rudi Dutschke geht es nur in einem der drei Teile des sehr kompakt geschriebenen, faktenreichen Buches.

Eine "deutschlandpolitische Streitschrift" nennen die beiden Autoren ihren Aufsatz von 88 Seiten; dazu haben sie weitere 166 Seiten an Dokumenten gestellt. Taz-Redakteur Christian Semler erinnert in seinem Vorwort an Dutschke als politischen Denker und Aktivisten, "für den die deutsche Teilung kein Faktum" war, "das zu hinterfragen sich nicht mehr lohnte". Fichter und Lönnendonker verschweigen nicht, dass das Ministerium für Staatssicherheit der DDR ab 1959 Inoffizielle Mitarbeiter in die Führung des SDS einschleusen konnte. Dietrich Staritz, der es auch zum Redakteur im Westberliner Büro desSpiegels brachte, berichtete vom Oktober 1961 an der Stasi Details aus der Führung der linken Studentenorganisation.

Zumindest zwei der mindestens fünf Stasi-Mitarbeiter im SDS trugen auf beiden Schultern: Sie dienten auch dem westlichen Verfassungsschutz als Zuträger. Auf jeden Fall waren sie simple Spitzel und keine Einflussagenten. Sie versuchten nicht, und hätten auch nicht die Chance gehabt, den SDS auf DDR-freundlichen Kurs zu trimmen. Gleichzeitig weisen Fichter und Lönnendonker darauf hin, dass Rudi Dutschke, der führende Kopf des SDS in der Studentenrevolte, sich im Dissens mit der DDR politisiert hatte.

Wie Dutschke es später selbst erinnerte, hatte er in der Aula der Lenin-Oberschule in Luckenwalde 1958 erklärt, warum er nicht zur Nationalen Volksarmee gehen wolle: "Ich war nicht bereit, in einer Armee zu dienen, die die Pflicht haben könnte, auf eine andere deutsche Armee zu schießen, in einer Bürgerkriegsarmee, und zwar in zwei deutschen Staaten, ohne wirkliche Selbstständigkeit auf beiden Seiten, das lehnte ich ab."

Der Stasi-Spitzel Staritz charakterisierte Dutschke folgerichtig als "verschworenen DDR-Gegner". Aber wie Fichter und Lönnendonker zeigen, betrachtete der SDS schon bei seiner Gründung im Jahr 1946 den Sozialismus Moskauer Machart ausgesprochen kritisch. Nach der Niederschlagung des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 in der DDR hieß es in einer SDS-Resolution. "Die Arbeiter auf den Straßen Berlins haben für die Wiederherstellung der Einheit und Freiheit Deutschlands mehr getan als die Diplomaten in Bonn, Paris, London und Washington." Bei einem Treffen mit führenden Genossen der ostdeutschen Freien Deutschen Jugend (FDJ) Ende 1966 sprach ein SDS-Vertreter von "der historischen und aktuellen Nichtattraktivität der DDR". Zu einer Kundgebung am 1. Mai 1968 lud der Westberliner SDS den Ostberliner Sänger und Dissidenten Wolf Biermann ein - der keine Ausreisegenehmigung bekam.

Nebenbei antworten Fichter und Lönnendonker auch auf einen Vorwurf, der den Achtundsechzigern zunehmend von Rechten oder Renegaten aus den eigenen Reihen gemacht wird: Dass die antiautoritäre Bewegung, so lautete er, sich um die Konfrontation der Westdeutschen mit der NS-Vergangenheit verdient gemacht habe, sei eine selbstgefällige Propagandalüge. In Tat und Wahrheit startete der SDS frühzeitig eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die von der großen Mehrheit der Westdeutschen alles andere als erwünscht war. So versuchten Aktivisten des SDS bereits Anfang 1952 mit katholischen Studenten und Gewerkschaftern die Uraufführung eines Filmes des Nazi-Propaganda-Regisseurs Veit Harlan ("Jud Süß") zu verhindern. In Freiburg beschimpften Passanten die Demonstranten daraufhin als "Judenlümmel" und griffen sie an. Die Polizei schaute zu. Studenten protestierten damals in vier weiteren westdeutschen Städten.

Im Dezember 1968 gingen mehr als 5.000 Studenten in Westberlin auf die Straße, um gegen den Freispruch für den Kammerrichter Hans-Joachim Rehse zu demonstrieren, der als Beisitzer beim Volksgerichtshof in der NS-Zeit an mindestens 231 Todesurteilen beteiligt war. Allerdings lehnte es Rudi Dutschke ab, eine große Kampagne für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus zu starten. Sehr realistisch erkannte er: "Wenn wir das anfangen, verlieren wir unsere ganze Kraft. Man kann nicht gleichzeitig den Judenmord aufarbeiten und die Revolution machen. Wir müssen erst mal etwas Positives gegen diese Vergangenheit setzen." Dutschke war ein glühender Internationalist, aber konnte sich nicht mit der Teilung Deutschlands abfinden. Im Juli 1977 schrieb er: "In der DDR ist alles real, bloß nicht der Sozialismus." Und er fügt an: "In der BRD ist alles real, bloß nicht Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit." Im gleichen Artikel zitierte Dutschke einen westdeutschen Genossen, dem Portugal näher stand als die DDR.

Deutsche Teilung als Strafe

An diesem Hinnehmen der deutschen Teilung als Strafe für die NS-Verbrechen, das bei Grünen und Linken verbreitet war, rieb sich auch stets Tilman Fichter. Er trat 1982 in die SPD ein und sein Mantra lautete, die Linken dürften die "nationale Frage" nicht den Rechten überlassen. Vor diesem Hintergrund transportiert "Dutschkes Deutschland" gelegentlich den Subtext "Wie wir schon immer gesagt haben". Zum Glück aber gelingt es den beiden Autoren, aufdringliche Besserwisserei zu vermeiden.

Eines ihrer Verdienste ist es, das Protokoll einer Diskussion ausgegraben zu haben, das Rudi Dutschke in offener Kontroverse mit Egon Bahr zeigt, dem Architekten der Entspannungspolitik der SPD und Weggefährten Willy Brandts. Am 15. Juni 1979 - ein halbes Jahr vor Dutschkes Tod und über zehn Jahre vor dem Fall der Mauer - trafen sie und andere Genossen sich im Reichstag, der damals im Schatten der Mauer ein graues Dasein fristete. Das Thema lautete "30 Jahre DDR - über den Umgang mit der ,offenen deutschen Frage'". Dutschke, der ewige Revolutionär, kritisierte Bahr und die SPD, weil sie die deutsche Frage längst nur noch als "diplomatische Frage" behandelten und nicht als "Frage sozialer Emanzipation". Er träumte von einer revolutionären Überwindung der Spaltung Deutschlands.

Bahr antwortete scharf: "Wenn Sie den Kapitalismus gleichzeitig mit dem realen Sozialismus in die Luft sprengen wollen, dann ist das die neueste Form von Nihilismus."

Source: taz 11.7.2011