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Tilman Fichter Der Staat Israel und die neue Linke in Deutschland
Ich habe mein Thema in
drei Abschnitte untergliedert. Im ersten
Teil entwickle ich einige Thesen zur sozialen und geistigen
Ausgangssituation in Deutschland nach Hitler. Im mittleren Teil
berichte ich über die Diskussionen, -
die in den 50er und 60er
Jahren an den Hochschulen über Antisemitismus stattgefunden haben. Im
Schlussteil werde ich dann über zwei konkrete Fälle von krassem
Antisemitismus von links nach 1968 berichten. Denn
Henryk Broder hat - bei all seiner Lust zum Polemisieren -
hier einen wunden Punkt getroffen. Es hat tatsächlich Antisemitismus
von links auch nach 1945 gegeben und
ich will dies an zwei Beispielen darstellen, die
nicht auf das Konto der ML-Bewegung gehen.
Die Mehrheit der Deutschen erlebte den
Zusammenbruch nicht als
Befreiung, sondern als Niederlage. Das NS-Regime wurde nicht aus
eigener Kraft von innen gestürzt, sondern von außen militärisch
geschlagen. Die braune Barbarei wurde, wenn man sich die Geschichte
genau anschaut, vom realen Stalinismus und vom US-Monopolkapitalismus
niedergerungen, auch wenn diese Tatsache von den Linken in Deutschland
heute nicht mehr so gerne zur
Kenntnis genommen wird. Diese Ausgangskonstellation wirkt sich
auch heute noch auf die Innen- und Außenpolitik beider deutscher
Teilstaaten aus. Man lügt sich nur in die Tasche, wenn man das nicht
sehen will.
Die Werwolf-Konzepte der Nazis für einen illegalen Volkswiderstand
gegen die Besatzungsmächte, aber auch die zahlreichen Versuche
neonazistischer Ideologen, eine neue Dolchstoßlegende zu propagieren,
fanden im Nachkriegsdeutschland letztlich deshalb keine Resonanz, weil
in diesem Volk nichts so wenig populär ist wie eine Niederlage.
Die bedingungslose Kapitulation führte zur vollständigen Besetzung
Deutschlands; im Gegensatz zu 1918 wurden die Deutschen als
Kriegsgefangene, als Flüchtlinge oder als Zivilisten, im besetzten
Gebiet, in der kleinsten Landgemeinde, mit den Sieger-Armeen
konfrontiert. Diese existenzielle Erfahrung mit den Siegern und
ihre unmittelbaren Konsequenzen für das private Berufsleben jedes
Einzelnen forderten gerade auch bei den 6,5 Millionen ehemaligen
NSDAP-Mitgliedern und den rund 800.000 ehemaligen SS-Männern die
Erkenntnis, daß das NS-Regime eine totale militärische, wirtschaftliche
und moralische Niederlage erlitten hatte. Nur durch diese tiefe
Niederlage konnten wir uns weitgehend, und zwar quer durch alle Klassen
und Schichten, vom Nationalsozialismus befreien. Also nicht aus
Humanität, nicht, weil wir ein aufgeklärtes, kulturell hochstehendes
Volk waren, sondern weil wir bedingungslos kapitulieren mußten, hat der
Neonazismus bei uns keine Chance.
Die Entnazifizierung verlief so, daß die Nazi-Eliten nicht von
einer antifaschistischen Gegen-Elite, sondern von einem Elite-Kartell
abgelöst wurden. Dieses Kartell setzte sich anfangs aus Personen
zusammen, die zumeist w e d
e r engagierte
National-Sozialisten n o c h
engagierte Gegner gewesen waren. Es ist leider so, daß die
Besatzungsmächte am Anfang oft
M i t l ä u f e r
engagierter Antifaschisten vorgezogen haben. Im Laufe der
Rekonstruktion der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und des
bürgerlichen Staates kamen dann große Teile der früheren E x p e r t e n
hinzu. Diese Entnazifizierung verstärkte Mitläufermentalität,
Entpolitisierung sowie die Tendenz zum Rückzug ins Privatleben und in
den Konsum. Antifaschismus galt schon bald wieder als störend.
Es gab nach 1945 in der Sozialdemokratie wie in der KPD zunächst keinen
ernsthaften Versuch, die Ursachen des Antisemitismus zu analysieren. Ich
habe mir die linke Literatur ziemlich genau angeschaut. Es ist
verblüffend, daß selbst in den "Frankfurter Heften" oder in der Berliner
Zeitschrift "Ost und West" die Analyse des Antisemitismus kein Thema
war. Ab und zu einmal eine kleine Buchbesprechung. Ich komme noch darauf
zu sprechen, warum eine solche Analyse damals nicht geleistet worden
ist.
Was es wohl gab, waren Studien von Menschen, die überlebt hatten. Es
sind die O p f e r
und nicht die T ä t e
r , die schreiben. Ich möchte in diesem Zusammenhang an
zwei wichtige Arbeiten erinnern. Da gab es zunächst das
Buch von Viktor Klemperer, L.T.I, "Lingua Tertii Imperii" - Die Sprache
des Dritten Reiches - Notizbuch eines Philologen, eine
ideologie-kritische Studie, die vom Aufbauverlag Berlin bereits 1947
veröffentlicht wurde. Hier
nur ein kurzes Zitat aus dem Notizbuch dieses jüdischen Philologen in
Deutschland zwischen 1933 und 1945. Er schrieb: "...Mein Tagebuch war in
diesen Jahren immer wieder meine Balancierstange, ohne die ich
hundertmal abgestürzt wäre. In den Stunden des Ekels und der
Hoffnungslosigkeit, in der endlosen Öde mechanischster Fabrikarbeit, an
Kranken- und Sterbebetten, an Gräbern, in eigener Bedrängnis, in
Momenten äußerster Schmach, bei psychisch versagendem Herzen - immer
half mir diese Forderung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir
ein, was geschieht - morgen sieht es schon wieder anders aus, morgen
fühlst du es schon anders; halte fest, wie es jetzt eben sich kundgibt
und wirkt. Und sehr bald verdichtet sich dann dieser Anruf, mich über
die Situation zu stellen und die innere Freiheit zu bewahren zu der
immer wirksameren Geheimformel L.T.I., L.T.I. ! "
Das zweite Buch stammt von Eugen Kogon: "Der SS-Staat", ein mittlerweile
klassisches Werk über das System der deutschen Konzentrationslager und
das politische System, das dahinter stand, Auch dies kein bloßer
Erlebnisbericht, sondern die Studie eines Links-Katholiken, der auch als
Opfer ein scharf beobachtender Soziologe blieb.
Das Denken der ersten Nachkriegs-Studentengeneration war, wie für die
meisten Deutschen, noch wesentlich durch die Kriegserfahrungen geprägt.
In Bayern zum Beispiel hatten 1948 nur circa 3 Prozent der männlichen
Studenten nicht in der Wehrmacht oder der Waffen-SS gedient, fast 5
Prozent der Studenten hatten weniger als ein Jahr gedient; 10 Prozent
zwischen ein und zwei Jahren; mehr als 34 Prozent zwischen 2 und 4
Jahren; fast 26 Prozent zwischen 4 und 6 Jahren; ca. 14 Prozent zwischen
6 und 8 Jahren; schließlich fast 8 Prozent mehr als 8 Jahre. Das heißt,
an der Universität studierte im Grunde genommen das halbkasernierte
entwaffnete deutsche Offizierskorps. Darüber muß man sich klar werden.
Der SDS war natürlich weitgehend ein Spiegelbild dieser Konstellation.
Es konnte auch gar nicht anders sein. Dies war seine Stärke und seine
Schwäche. Themen, die im SDS damals diskutiert wurden, lauteten zum
Beispiel: "Schuld und Eid", "Europa", "Die soziale Situation an den
Universitäten", "Sozialismus und Christentum" und "Nationalbewußtsein
und Sozialismus". Ich habe nirgends einen Hinweis dafür gefunden,
daß über die gesellschaftlichen Ursachen des Antisemitismus öffentlich
diskutiert worden wäre - an keiner Universität und in keiner politischen
Hochschulgruppe. Dafür fehlten wohl einfach die intellektuellen und
emotionalen Voraussetzungen. Trotzdem gilt auch hier die Ausnahme von
der Regel: Anfang Dezember 1950 verhinderten 4000 Berliner Studenten ein
Gastspiel des Wiener Burgtheaters mit Werner Kraus, der in dem
antisemitischen Veit~Harlan~Film "Jud Süß" die Hauptrolle gespielt
hatte. Und im Januar 1952 verhinderten der SDS und die SJ-Die Falken in
Frankfurt am Main, Berlin, Göttingen, Marburg und Freiburg im Breisgau
die Aufführung des Veit-Harlan-Films "Hanna Amman".
Die große Mehrheit der jüdischen, linken und republikanischen
Sozialwissenschaftler und Historiker hatte Deutschland nach 1933
verlassen müssen. Helge
Pross charakterisierte 1966 auf einer Diskussionsveranstaltung an der
Freien Universität Berlin den Verlust durch die Emigration 1966 als
"geistige Enthauptung Deutschlands". Wenn man aber seinen Geist
enthauptet, so hat das Folgen.
Dieser Verlust und die Kriegserfahrungen prägten das Denken an den
Universitäten. Dies sollten auch Alexander Mitscherlich und Fred Milke
bitter erfahren, als sie 1947 ihre Dokumentation "Das Diktat der
Menschenverachtung" über den Nürnberger Ärzteprozeß veröffentlichten.
Der Rektor der Universität Göttingen leugnete öffentlich jede
Kooperation von Wissenschaft und Nationalsozialismus, und Mitscherlich
stieß mit seiner Kritik an der Funktion der Wissenschaft im Dritten
Reich auf völliges Unverständnis. Selbst in den Studentenzeitungen
finden sich so gut wie k e i
n e Indizien für eine
Diskussion oder gar Unterstützung seines Themas in der Studentenschaft.
Seine Dokumentation wurde von den meisten Kollegen als Nestbeschmutzung
der eigenen Fachdisziplin abgelehnt. Unter der Überschrift
"Vorbeigeredet" stellte der damalige Rektor in der Göttinger
Universitätszeitung ohne Widerspruch fest: "Der Mitscherlich kämpft, wie
mir scheint, gegen einen fiktiven Gegner eigener Anliegen."
Mitscherlich hatte unter anderem nachgewiesen, daß
95 namhafte Vertreter der deutschen Wissenschaft 1942 an einer
Tagung teil genommen hatten, auf der Ärzte der Luftwaffe über
"Unterkühlungsversuche" an 360 bis 400 KZ-Häftlingen und russischen
Kriegsgefangenen berichtet hatten. Laut Nürnberger Prozessunterlagen
habe keiner der 95 Teilnehmer auf
der Tagung eine genaue Aufklärung über diese Versuchsanordnung verlangt
oder etwa gegen sie Protest erhoben. Mitscherlichs Nachweis stieß in der
Universität nicht nur auf Unverständnis, sondern auf Empörung.
Im Kalten Krieg entstand die Parole "braun gleich rot". Die
Totalitarismus-Doktrin, die in den 50er Jahren an Schulen, Universitäten
und in den Medien verbreitet wurde, besagte, das faschistische,
nationalsozialistische und kommunistische "totalitäre Systeme"
grundsätzlich gleichartig seien, Dadurch wurde aber den ehemaligen
Mitläufern und Aktivisten des NS-Regimes nachträglich die Möglichkeit
eröffnet, den nicht-stattgefundenen Widerstand gegen die Nazis bzw. ihre
aktive Teilnahme am Nationalsozialismus jetzt in einem militanten
Antikommunismus nachzuholen. Überhaupt nahm die sich abzeichnende
Spaltung Deutschlands seit der separaten Währungsreform in den drei
westlichen Besatzungszonen im Juli 1948 die Phantasie der meisten
Menschen in Anspruch. Über Auschwitz wurde nur noch selten geredet. II. Zur Situation in den 50er und 60er Jahren
1.
Frankfurter Nischenkultur
Erst mit der Rückkehr von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer an die
Frankfurter Universität im August 1950 entstand ein neuer Focus für
kritische Sozialforschung im Nachkriegsdeutschland, das "Café Max", wie
die Studenten es bald nannten. Auf jeden Fall hatte die in ihre Heimat
zuruckgekehrte Frankfurter Schule auf den SDS eine große Wirkung. Ich
erinnere zum Beispiel an die Analyse des NS-Staates von Franz L.
Neumann, Otto Kirchheimer, Arkadij R. Gurland und Paul Massing. Bereits
Ende der 30er Jahre war diese Studie über die "Struktur und Praxis des
NS-Systems" in New York entstanden. Dieses Buch blieb lange ein
Geheimtip: Es wurde aber im SDS seit Anfang der 60er Jahr gelesen. Eine
weitere wichtige Arbeit für unser Thema war natürlich die Studie von Max
Horkheimer und Theodor W. Adorno über Autorität und Familie. Auch diese
Studie war in der damaligen etablierten Politik und im kirchlichen
Bereich so gut wie unbekannt. In Frankfurt, Berlin und einigen anderen
Universitätsstädten entstand nicht von ungefähr eine Nische, wo diese
Literatur aus dem Exil - oft jenseits des offiziellen
Wissenschaftsbetriebs - zur Kenntnis genommen wurde.
Demgegenüber blieb die Gründung des Staates Israel und die Politik der
Arabischen Länder gegenüber Israel in Deutschland sozusagen unbemerkt,
zumindest undiskutiert. Man hatte andere Sorgen. Erst mit der
Ratifizierung des "Wiedergutmachungsabkommens" im März 1953 durch den
Bundestag setzt eine solche Diskussion ein - teilweise unter ganz
unsympathischen Vorzeichen. Da wurde aufgerechnet, wieviele Menschen
ermordet worden waren und wieviel Geld die Bundesrepublik Deutschland zu
zahlen habe. Krämer-Argumentation statt Trauerarbeit.
Aber im selben Monat März 1953 ratifizierte der Bundestag auch den
Deutschlandvertrag und den Vertrag für eine Europäische
Verteidigungsgemeinschaft. Die Wiederbewaffnung und die Eingliederung
der Bundesrepublik in das westliche und der DDR in das östliche
Verteidigungssystem überlagerten alle anderen Themen. Dies galt auch
für die Universitäten und die akademische Linke. Nur in der
"Frankfurter" Nischen-Kultur, die später oft als Seminar-Marxismus
bespöttelt wurde, entstand zum ersten Mal nach Auschwitz überhaupt eine
Grundlage für eine reflektierte Diskussion über den Völkermord.
2.
2.
Legitimationskrise der Bundesrepublik
Durch die Hakenkreuzschmierereien vom Dezember 1959 und Januar 1960 in
Hamburg, Bremen, Dortmund, Nordbayern, Rheinland-Pfalz, Braunschweig und
Coburg geriet die CDU/CSU-Regierung in eine Legitimationskrise. Der
Prozeß gegen Eichmann 1961 hatte diese Legitimationskrise noch
verstärkt. Denn zwischen 1949 und 1959 verdrängte die Union jede
grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.
Die Strategen der CDU haben damals intern die These vertreten, die
Deutschen könnten eine solche Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit
nicht bewältigen. Ihre Marschrichtung hieß deshalb: Augen zu, darüber
wird nicht geredet ! Dieses
Schweigen war durchaus überlegt. Das hieß natürlich nicht, daß Adenauer
Antisemit gewesen wäre. Er war aber der Meinung, daß die
Deutschen bis 1945 mehrheitlich Nazis oder Mitläufer gewesen sind. Er
hielt sie für unfähig, über die Verbrechen reden zu können. Ließe man
sie sagen, was sie wirklich dachten, so käme zum Vorschein, daß die
Mehrheit der Deutschen nach wie vor nur besiegte Nazis seien. Adenauer
war ein sehr harter, fast zynischer und sehr konservativer alter Mann,
der sein eigenes Volk nicht sehr geliebt hat.
Jetzt aber, durch die Hakenkreuz-Schmierereien, holte die Vergangenheit
die Union wieder ein. Die bürgerlichen Parteien führten plötzlich in den
Schulen das Pflichtfach "Gemeinschaftskunde" ein, und die CDU rief nach
Politologen und Soziologen. Man hoffte, daß die kritische Intelligenz,
die in Frankfurt und Berlin herangewachsen war, ihnen die unangenehme
Arbeit einer demokratischen Umerziehung der Jugend abnehmen konnte, und
zwar auf der vorpolitischen Ebene der Schule, also außerhalb der
Öffentlichkeit.
Zur selben Zeit startete damals der SDS eine Kampagne gegen
nationalsozialistische Juristen, die in der Bundesrepublik erneut Ämter
bekleideten. Reinhard Strecker veranstaltete eine Wanderausstellung, auf
der zahlreiche Dokumente aus der Volksrepublik Polen, aus Israel und aus
der DDR zu sehen waren. Außerdem kam es zu Demonstrationen gegen den
Staatssekretär im Kanzleramt, Dr. Hans-Maria Globke, bis 1945 Beamter
des Reichsinnenministeriums und in dieser Eigenschaft Kommentator der
NS-Rassengesetze von Nürnberg. Nach 1945 war Globke als
Widerstandskämpfer entnazifiziert worden, da er aufgrund von
Zeugenaussagen als Vertrauensmann des Vatikans und des politischen
Katholizismus rehabilitiert wurde. Plötzlich war die braune
Vergangenheit wieder ein tagespolitisches Thema geworden. Obwohl man
sich doch so angestrengt hatte, durch wirtschaftlichen Erfolg und
Wohlverhalten dieses Problem zu einem Unproblem zu machen. Der damalige
SPD-Parteivorstand distanzierte sich übrigens von den Kampagnen des SDS,
da diese "kommunistisch" gesteuert seien.
3.
3.
Abstrakte Faschismustheorien
Nach der Trennung der SPD vom SDS entstanden im Umkreis der
SDS-Hochschulgruppen theoretische Arbeitskreise, die sich nun gezielt
mit den ökonomischen und historischen Ursachen des Nationalsozialismus
in Deutschland beschäftigten. "Das Argument" veröffentlichte Anfang I960
in einer schnellen Reihenfolge Schwerpunkthefte zu diesen Themen. Ich
möchte ein paar dieser Themen nennen: "Die nationalsozialistische
Wirtschaft", "Kapitalismus, Faschismus und Demokratie", "Psychologische
Theorien über den Faschismus". Dann ein Essay von Wolfgang Haug
"Führerpersönlichkeiten". Ein anderes, sehr beliebtes Thema "Die
Faschismustheorie in der DDR im kritischen Spiegel unserer Gedanken".
Heute fallt auf, daß alle diese Themen sehr abstrakt waren. Zumeist
hatten wir damals auch keinerlei persönliche Kontakte zu den Opfern der
Nazi-Verbrechen, noch versuchten wir Verbindungen zu linken Israelis
oder Juden in anderen Ländern aufzunehmen. Der Nationalsozialismus war
für uns längst zu einem Gegenstand engagierter sozialwissenschaftlicher
Forschung geworden. Hier liegt sicherlich eine Ursache dafür, daß der
Antisemitismus zunehmend zu einem bloßen Nebenaspekt des
Nationalsozialismus herunterdefiniert wurde.
Über diesen intellektuellen Verdrängungsprozeß schrieb später unser
Genosse Moshe Postone: "Dadurch wurden die Naziverbrechen gegen die
Menschheit von der sozialhistorischen Untersuchung des
Nationalsozialismus isoliert. Das Ergebnis ist, daß die
Vernichtungslager entweder als bloße Beispiele imperialistischer oder
totalitärer Massenmorde erscheinen oder unerklärbar bleiben". Letztlich
hielten wir uns so die menschliche Dimension des Menschheitsdramas vom
Leibe, indem wir die politische Struktur und Praxis des
Nationalsozialismus analysierten und gegen die ungesühnte Nazi-Justiz
auf den Straßen demonstrierten, glaubten wir, für
u n s p e r s ö n l i
c h das Problem gelöst und
eine eigenständige, internationalistische, antinationalistische
Identität aufgebaut zu haben.
Die Juden mit ihren oft allzu menschlichen Problemen - man schaue nur
nach Israel - störten uns im Zweifelsfall nur dabei. Natürlich gab es
auch in SDS Ausnahmen. In diesem Zusammenhang möchte ich an Rudi
Dutschke erinnern, der in dieser Frage sehr differenziert und auch
historisch fundiert argumentiert hat. Ähnlich dachten auch einige
unserer intellektuellen Väter wie zum Beispiel Helmut Gollwitzer,
Herbert Marcuse, Isaak Deutscher oder Heinz Brandt. Ich möchte in diesem
Zusammenhang nur an eine Auseinandersetzung auf einer
Delegiertenkonferenz des SDS Mitte der 60er Jahre erinnern, als
trotzkistische Genossen, die natürlich keine Antisemiten, sondern
Internationalisten waren, auftraten und in ihrer zeitlosen Denkart den
Antrag stellten, der SDS solle sich eindeutig gegen die staatliche
Existenz eines Judenstaates aussprechen. Rudi wandte sich gegen diesen
Antrag mit dem Argument, daß dieses Problem im Verband bisher nicht
ausdiskutiert worden sei. Wenn man aber mit uninformierten Mehrheiten
pseudodemokratisch abstimmen wolle, so würde der Berliner Landesverband
ausziehen. Auch Heinz Brandt intervenierte gegen diesen ad hoc Antrag
und plädierte für eine Diskussion. Es gab im SDS damals
immer wieder solche Kontroversen mit internationalistischen
Idealisten - also mit
Trotzkisten und Luxemburgianern, die einen ahistorischen
Internationalismus gegen den Zionismus auf Kosten Israels vertreten
haben. Ich möchte hier noch einmal ausdrücklich betonen, das es sich
hier nicht um linke Antisemiten gehandelt hat, doch hatte das, was sie
vorschlugen, in der Konsequenz zu einer antisemitischen Politik im SDS
geführt. Rudi Dutschke argumentierte historisch und bezog sich auf Isaak
Deutscher: Nachdem die Arbeiterbewegung von den Nazis zerschlagen worden
war, gab es für die Juden in Deutschland und später in ganz Europa kein
Recht mehr. Trotz Widerstand und Opfer trägt deshalb die
Arbeiterbewegung eine schwere Last. Und Isaak Deutscher hatte leider
recht, als er 1954 schrieb; "Sechs Millionen Juden mußten in Hitlers
Gaskammern umkommen, um Israel ins Leben zu rufen. Es wäre besser
gewesen, Israel wäre ungeboren geblieben, und die sechs Millionen Juden
wären noch am Leben - aber wer kann den Zionismus und Israel dafür
verantwortlich machen, daß es anders gekommen ist?"
4.
Die linke Wende
Die Wende erfolgte in den Tagen des Sechs-Tage-Krieges. Am 2. Juni 1967
hatte der Polizei-Obermeister Karl-Heinz Kurras den FU-Studenten Benno
Ohnesorg erschossen. In die damalige bürgerkriegsähnliche Stimmung in
Berlin platzte am 3. Juni die Nachricht, israelische Truppenverbande
stünden unmittelbar vor einem Angriffskrieg gegen Ägypten, Jordanien und
Syrien. Während einer mehrstündigen Diskussion in der von der Polizei
umzingelten wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der
Freien Universität Berlin versuchte der Schriftsteller Günther Grass,
die FU-Studenten zu einer Resolution für das seiner Meinung nach tödlich
bedrohte Israel aufzurufen. Dies wurde jedoch abgelehnt.
Ich glaube, hier lag genau der Wendepunkt im Verhältnis der
studentischen Linken zu Israel. Zwei Tage später begann der
Sechs-Tage-Krieg. Die Springerpresse unterstützte die offizielle
israelische Position durch ein publizistisches Trommelfeuer. Postone
schrieb 1981 zurückblickend: "Der Wendepunkt vom Philosemitismus zu
jener Form des Antizionismus war der Krieg von 1967". Er meinte, "daß
hier ein Prozeß psychologischer Umkehr stattfand, und zwar grotesker
Weise bei der Rechten wie bei der Linken."
Von der Rechten wurden die Juden als Sieger - also jetzt als
erfolgreich dargestellt, bei der Linken wurden sie jetzt nicht mehr als
Opfer, sondern als Sieger - mit den Nazis identifiziert.
In dem Moment, wo "der Jude" sich als Soldat bewährt, wird er für die
Rechten ein normaler Mensch - und das nennt Postone die "psychologische
Umkehr" des Jahres 1967. Von der Linken aber werden die Opfer "der
Juden", also die Palästinenser als "die Juden der Nazi-Vergangenheit
identifiziert". Es ist bemerkenswert, das der Auslöser für eine solche
psychologische Wende nicht die Vertreibung und das Leid der
Palästinenser gewesen ist, denn das hatte schon lange vor 1967 begonnen.
Der Auslöser war vielmehr der siegreiche Blitzkrieg der Israelis. Die
Wende-Analogie der Linken war verblüffend einfach konstruiert: Wenn die
Juden keine Opfer mehr sind, und wenn andererseits die Israelis brutal
und rassistisch sind, dann müssen sie Nazis sein. Nach der Schlacht von
Karameh 1968 erwiesen sich die Palästinenser zudem als die besseren
Juden, denn sie leisteten im Gegensatz zu den Juden im Dritten Reich
Widerstand.
So war endlich - für große Teile der westdeutschen Linken - eine
Gelegenheit gegeben, sich mit den "Juden", also mit den Palästinensern,
nachträglich zu identifizieren,. Der Kampf gegen den Zionismus
verwandelte sich in den langersehnten Kampf gegen die
Nazi-Vergangenheit, befreit von der Schuld. Jetzt konnte man sich
endlich - ohne schlechtes Gewissen - mit den "modernen Juden", mit den
Palästinensern identifizieren, und die hatten ja nichts mehr mit
Auschwitz zu tun. Das heißt aber: man hatte die historische Bürde
abgeschüttelt, und die Politik des Staates Israel hatte dabei geholfen.
III.
Beispiele eines konkreten linken Antisemitismus
Im letzten Teil möchte ich mich mit konkreten Erscheinungsformen des
linken Antisemitismus in der APO nach 1968 beschäftigen. Ich glaube, daß
man sich mit diesem Problem ehrlich auseinandersetzen muß. Auch wenn
Henryk Broder weitgehend nur aus der ML-Presse zitiert hat, so darf man
es sich nicht so einfach machen und glauben, da8 die Sponti-Kultur damit
nichts zu tun habe, und daß dies nur ein Problem der Parteikommunisten
sei. Deshalb will ich zunächst ein Zitat aus unserer damaligen
politischen Kultur bringen.
1.
Der "Judenknacks"
Die Berliner APO-Zeitschrift "AGIT 883", damals eine relativ bekannte
Zeitschrift mit ungefähr 15- bis 20.000 verkauften Exemplaren pro Woche
- das war also noch nicht so ein Kummerunternehmen wie viele Heftchen
heute - dokumentierte am 13. November 1969 nach einem Bombenanschlag auf
das jüdische Gemeindehaus ein Flugblatt der sogenannten "Schwarzen
Ratten TW" ("Tupamaro Westberlin"). Zu den Mitgliedern der Tupamaros
Westberlin gehörten damals unter anderem Dieter Kunzelmann, Georg von
Rauch, Tommy Weißbecker und Bommi. In diesem Flugblatt
- das ganz eindeutig ein Produkt der antidogmatischen und
anti-autoritären Linken war - hieß es unter anderem: "Die israelischen
Gefängnisse, in denen nach Zeugenaussagen entkommener Freiheitskämpfer
Gestapo-Foltermethoden angewandt werden, sind überfüllt.. .. Wieder
einmal weiß die deutsche Öffentlichkeit von nichts. Springer läßt sich
in Tel Aviv mit Ehrendoktorwürden behängen und baut Moshe Dajan zum
Volkshelden à la Rommel auf ...
Am 31. Jahrestag der faschistischen Kristallnacht wurden in
Westberlin mehrere jüdische Mahnmale mit 'Shalom und Napalm' und 'El
Fath' beschmiert. Im jüdischen Gemeindehaus wurde eine Brandbombe
deponiert. Beide Aktionen sind nicht mehr als rechtsradikale Auswüchse
zu diffamieren, sondern sie sind ein entscheidendes Bindeglied
internationaler, sozialistischer Solidarität. Das bisherige Verharren
der Linken in theoretischer Lähmung bei der Verarbeitung des
Nahost-Konflikts ist Produkt des deutschen Bewußtseins: 'Wir haben eben
Juden vergast und müssen die Juden vor einem neuen Völkermord bewahren.'
Die neurotische historische Aufbereitung der geschichtlichen
Nichtberechtigung eines israelischen Staates überwindet nicht diesen
hilflosen Antifaschismus. Der wahre Antifaschismus ist die klare und
einfache Solidarisierung mit den kämpfenden Feddayin."
In der folgenden Nummer dieser Zeitung "AGIT 883" habe ich dann selbst
einen längeren Artikel unter der Überschrift "Was ist Antisemitismus?"
geschrieben, in dem ich versucht habe, den antiautoritären Terroristen
die Entstehung des modernen Antisemitismus zu erklären. Was war die
Konsequenz auf meinen Artikel ? Wir bekamen einen Brief von Dieter
Kunzelmann, der sich angeblich in Amman aufhielt. In Wirklichkeit lebte
Dieter Kunzelmann - wie man mittlerweile weiß - mit angeklebtem Bart in
der Winterfeldstraße in Berlin-Schöneberg. Ich zitiere nochmals ein
bißchen O-Ton aus der Giftküche des Antisemitismus aus dem Jahre 1969:
"Hier ist alles sehr einfach. Der Feind ist deutlich. Seine
Waffen sind sichtbar. Solidarität braucht nicht gefordert zu werden...
Die Menschen in ihrer aussichtslosen Lage waren sich trotz des
gemeinsamen Elends feindlich. In dem Augenblick, als sie die Chance
sahen einzugreifen in das, was mit ihnen passiert, als sie ihre
Möglichkeiten entdeckten, als sie begriffen, daß sie nichts mehr zu
verlieren und alles zu gewinnen hatten, konnte etwas Neues anfangen."
(Zwischenbemerkung: Hier hatte Kunzelmann schlicht bei Frantz Fanon
abgeschrieben.) "Was alles
hier so einfach macht ist der Kampf. Wenn wir den Kampf nicht aufnehmen,
sind wir verloren. Diese Erkenntnis ist hier sehr konkret. Unsere
Erkenntnis ist nicht dieselbe. Ich meine nicht, daß wir uns mit dem
Kampf der Palästinenser schlicht identifizieren können. Mir haben die
Israelis nicht das Haus weggesprengt. Ich bin nicht im Flüchtlingslager
geboren. Aber eines steht fest; Palästina ist für die BRD und Europa
das, was für die Ami's Vietnam ist. Die Linken haben das noch nicht
begriffen. Warum ? DER JUDENKNACKS."
Für mich spricht aus solchen Worten eine linke SA-Tradition, die es ja
in den 20er Jahren in Berlin schon einmal gegeben hatte. Als Beleg für
den linken "Judenknacks" zitierte Kunzelmann dann einen mir unbekannten
Text, wahrscheinlich aus einer Presseerklärung des Republikanischen
Clubs gegen das versuchte Brandbombenattentat im Jüdischen Gemeindehaus:
"Wir haben sechs Millionen Juden vergast. Die Juden heißen heute
Israelis. Wer den Faschismus bekämpft ist für Israel."
Seine eigene Meinung brachte er dann so auf den Begriff: "So
einfach ist das, und doch stimmt es hinten und vorne nicht. Wenn wir
endlich gelernt haben, die faschistische Ideologie Zionismus zu
begreifen, werden wir nicht mehr zögern, unseren simplen Philosemitismus
zu ersetzen durch eindeutige Solidarität mit Al-Fath, die im Nahen Osten
den Kampf gegen das Dritte Reich von gestern und heute und seine Folgen
aufgenommen hat." Herr
Kunzelmann ist heute Parlamentarier der Alternativen Lists (AL) in
Berlin.
2. Keine linke Zivilcourage
Was mir beim Lesen des Textes heute auffällt, ist die ständige Klage von
Kunzelmann darüber, daß die Linke im Herbst 1969
immer
noch nicht ihren "Judenknacks" überwunden hatte. Henryk Broder hat
zwar Recht mit seiner These, daß es in der deutschen Linken eindeutige
Fälle von Antisemitismus gegeben hat. Ich meine aber, er hat Unrecht,
wenn er verallgemeinert. Jedoch hat die große Mehrheit zu diesem
Antisemitismus geschwiegen. Nur ganz wenige hatten die Zivilcourage,
etwas dagegen zu sagen. Ich glaube mittlerweile, daß die Linke nicht
mutiger ist als die Deutschen insgesamt. Die deutsche Linke ist genau so
feige, wenn die Mehrheit innerhalb der Linken falsche Parolen ausgibt;
auch trauen sich nur ganz wenige gegen diesen Mehrheitsdruck ihre Stimme
zu erheben. Ähnliches haben wir auch im bürgerlichen Lager erlebt. Es
gibt in unserer Nationalkultur einen Mangel an Zivilcourage.
Zwar hat die übergroße Mehrheit der undogmatischen Linken, trotz der
psychologischen Umkehr nach dem Sechs-Tage-Krieg und einer wachsenden
Identifizierung mit den Freiheitsbewegungen in der Dritten Welt, den
Antisemitismus von links nicht mitgemacht. Sie hat ihn allerdings auch
nicht bekämpft.
3. Entebbe
Für mich persönlich kam das Ende einer falsch verstandenen linken
Toleranz mit Leuten wie Dieter Kunzelmann im Sommer 1976. Ich gehe jetzt
auf einen Zwischenfall ein, von dem schon die Rede war, nämlich die
Entführung einer Maschine der Air France mit 257 Personen an Bord,
darunter 83 Israelis, auf dem Flug von Paris nach Tel Aviv durch sieben
Terroristen, Unter den Entführern befand sich wahrscheinlich das
deutsche RAF-Mitglied Wilfried Böse. In Entebbe, in Uganda, wurden von
den Terroristen alle jüdischen Passagiere, nicht nur die Israelis,
selektiert und getrennt gefangengehalten.
Später gab es dann in der deutschen Linken eine Diskussion darüber, ob
Böse Antisemit gewesen sei oder nicht. Mit einem alten Freund, dem
Genossen Fritz Lamm, habe ich mich darüber fast zerstritten. Ich will
über diese Kontroverse noch kurz berichten, weil sie die
Vielschichtigkeit des Problems verdeutlicht.
Fritz Lamm stammte aus einem jüdisch-deutschnationalen Elternhaus und
war 1929 zur Arbeiterjugend gestoßen. Anfang der 30er Jahre nahm er an
der Gründung der "Sozialistischen Arbeiterpartei" (SAP) teil. Im Mai
1933 wurde er verhaftet und als Illegaler vom Reichsgericht zu rund zwei
Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Gefängniszeit gelang ihm die
Flucht nach Prag mit Hilfe von Stuttgarter Freunden aus der
Arbeiterjugendbewegung. Erst im Jahre 1948 konnte er - nachdem die
US-Militärregierung seinem Gesuch, bereits 1945 aus Cuba nach
Deutschland zurückzukehren, nicht stattgegeben hatte - nach Stuttgart
einreisen. Dort arbeitete er bei der Stuttgarter Zeitung und wurde
Anfang der 80er Jahre zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt. Fritz
spielte für uns, die 68-Generation, eine wichtige Rolle, denn er war
einer der ganz wenigen Vertreter der linken jüdischen Intelligenz aus
der Weimarer Zeit, der trotz Haft und Exil ins Nachkriegsdeutschland
zurückgekehrt war. Er war ein antifaschistischer jüdischer Genosse,
vielleicht einer der letzten echten Vertreter der Gedanken von Rosa
Luxemburg.
Natürlich kritisierte er in den 70er Jahren die Politik oder besser
Unpolitik der Roten Armee Fraktion. Auf einem Seminar der Kasseler
Naturfreundejugend Ende 1976 kam es zwischen Fritz und mir zu der
erwähnten Kontroverse. Genervt durch seine idealistische Ansicht, ein
Antiimperialist könne kein Antisemit sein, versteifte ich mich in der
Diskussion auf die Gegenposition, daß Böse ein Antisemit gewesen sei.
Die undogmatischen jungen Genossen aus der Naturfreundejugend empörten
sich damals über mich, Fritz machte sich zum Sprecher dieser linken
Verharmlosung und griff mich scharf an. Wenige Wochen später starb er.
Wir konnten unseren Dissens nicht mehr ausdiskutieren.
4.
Für einen
realistischen Internationalismus
Für mich verdeutlichte die Position von Fritz Lamm die Krise eines
zeitlosen
idealistischen Internationalismus. Trotz der Erfahrungen von 1914 und
1939 vertrat er nach wie vor die These, daß aufgrund der universellen
Entwicklung der Produktivkräfte weltweit die Voraussetzung für den
Sozialismus entstanden sei. Daß die Geschichte aber faktisch anders
verlaufen ist, wurde und wird von Genossen wie Fritz Lamm häufig mit dem
Argument beantwortet, die Arbeiterbewegung habe sich schließlich immer
mehr von der reinen marxschen Lehre entfernt.
Aufgrund unserer historischen Erfahrungen bin ich im Gegensatz dazu der
Meinung, daß nur eine kulturelle und politische Hegemonie der
demokratischen Linken in den wichtigsten Industriestaaten langfristig
der Menschheit das Überleben garantiert. Es wäre also ganz falsch, wenn
die Linke zum Beispiel in Deutschland, Italien, Frankreich,
Großbritannien oder Israel ihre nationale Identität zugunsten eines
abstrakten Internationalismus aufgeben würde. Stattdessen sollten wir
durch langfristige linke Mehrheiten in unseren Ländern ein tragbares
Fundament für einen realistischen Internationalismus schaffen. Dies
heißt aber auch, daß die demokratische Linke jede Form von
Antisemitismus, Rassismus oder Sexismus in ihren eigenen Reihen erkennen
und überwinden muß. Henryk Broder hat durch seine ständigen
literarischen Provokationen zum Thema "Linker Antisemitismus" dazu einen
Beitrag geleistet.
Und nun noch eine kurze Bemerkung zu Dan Diner. Wer den Deutschen heute,
fünfzig Jahre nach der Machtübergabe an Hitler, mit dem Hinweis auf den
Völkermord jedes Recht auf eine nationale Identität abspricht, läuft
Gefahr, daß er über die Köpfe der realen Menschen hinweg agiert. Die
durch Arbeitslosigkeit, Waldsterben und Nachrüstung politisierte Jugend
kann die Logik des Arguments, die Deutschen dürften schon deshalb keine
nationale Identität entwickeln, weil auch die Gemordeten dazu keine
Chance mehr hatten, nicht nachvollziehen. Internationalismus darf nicht
Flucht aus der eigenen nationalen Verantwortung und Geschichte bedeuten.
Dies gilt sowohl für die demokratische Linke in Deutschland als auch in
Israel.
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