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Tilman Fichter

Der Staat Israel und die neue Linke in Deutschland

Ein Beitrag zur Tagung in der Evangelischen Akademie Arnoldsheim "Solidarität und deutsche Geschichte. Die Linke zwischen Antisemitismus und Israelkritik." im  August 1984. Der Text ist ursprünglich veröffentlicht worden von Karlheinz Schneider und Nikolaus Simon für den "Deutsch-Israelischen Arbeitskreis für Frieden im Nahen Osten e.V., Schriften Band 9, Berlin 1984

 

Ich habe mein Thema in drei Abschnitte untergliedert. Im ersten Teil entwickle ich einige Thesen zur sozialen und geistigen Ausgangssituation in Deutschland nach Hitler. Im mittleren Teil berichte ich über die Diskussionen, - die in den 50er und 60er Jahren an den Hochschulen über Antisemitismus stattgefunden haben. Im Schlussteil werde ich dann über zwei konkrete Fälle von krassem Antisemitismus von links nach 1968 berichten. Denn Henryk Broder hat - bei all seiner Lust zum Polemisieren - hier einen wunden Punkt getroffen. Es hat tatsächlich Antisemitismus von links auch nach 1945 gegeben und ich will dies an zwei Beispielen darstellen, die nicht auf das Konto der ML-Bewegung gehen.

 I.                                        Thesen über die Ausgangsbedingungen der Linken nach 1945

  1. Niederlage statt Befreiung

Die Mehrheit der Deutschen erlebte den Zusammenbruch nicht als Befreiung, sondern als Niederlage. Das NS-Regime wurde nicht aus eigener Kraft von innen gestürzt, sondern von außen militärisch geschlagen. Die braune Barbarei wurde, wenn man sich die Geschichte genau anschaut, vom realen Stalinismus und vom US-Monopolkapitalismus niedergerungen, auch wenn diese Tatsache von den Linken in Deutschland heute nicht mehr so gerne zur Kenntnis genommen wird. Diese Ausgangskonstellation wirkt sich auch heute noch auf die Innen- und Außenpolitik beider deutscher Teilstaaten aus. Man lügt sich nur in die Tasche, wenn man das nicht sehen will.

 Die Legitimation für die bürgerlich-parlamentarische Demokratie in der Bundesrepublik und den real-existierenden Sozialismus in der DDR wurde von den Deutschen von außen geliehen. Diese Legitimation haben wir uns nicht erkämpft. Ich glaube, daß es gerade für die Neue Linke wichtig ist, dies wirklich einmal mit allen Konsequenzen zu realisieren. 

  1. Gescheiterter Widerstand

 Trotz aller Opfer war der Widerstand von innen völlig gescheitert. Dies galt sowohl für die Massen-Illegalität der KPD bis 1935 als auch für den späteren illegalen Kampf auf kleinerer Flamme. Laut Angaben der SED wurden im Dritten Reich von den ca. 300.000 Mitgliedern der KPD im Jahre 1932 rund 150.000 Parteimitglieder inhaftiert.

 Ähnlich erfolglos blieb auch der vorsichtigere sozialdemokratische Widerstand. Der Konflikt über den richtigen Weg Ende der 20er Jahre hatte in der SPD sogar zur Spaltung geführt. Ich erinnere an die "Sozialistische Arbeiterpartei" (SAP), den "Internationalen Sozialistischen Kampf-Bund" (ISK), die Gruppe "Neu Beginnen" oder die "Stoßtrupps". Allein 10 bis 20 Prozent der KZ-Insassen in den ersten Jahren des Dritten Reiches waren Sozialdemokraten.

 Erinnert sei aber auch an die Bekennende Kirche, den national-konservativen Widerstand um Carl Goerdeler, Henning von Treschkow oder Ludwig Beck, die Diskussionen zwischen Christen, Sozialisten und Liberalen im Kreisauer Kreis über die Zeit nach Hitler, die Militäropposition einiger aktivistischer junger Frontoffiziere um Claus Graf Schenk von Stauffenberg und die Militärspionage der Gruppe Schulze-Boysen/Harnack für die UdSSR. Sie alle versuchten, den Zweiten Weltkrieg abzukürzen. Ihr Widerstand war ehrenwert, blieb aber letztlich hilflos und machtpolitisch ohne Bedeutung. Er war von Anfang an ein Widerstand ohne Volk ! Die Einsamkeit der Illegalen war so groß, daß sie nicht einmal in der Gewißheit sterben konnten, die Nachgeborenen würden ihrer später einmal als Märtyrer für Deutschland gedenken. Im Gegensatz zur Résistance in Frankreich oder Italien blieb der deutsche Widerstand isoliert. Kein Staatsakt heute kann über diese Tatsache hinwegtäuschen.  

  1.  Warum keine Dolchstoß-Legende 

Die Werwolf-Konzepte der Nazis für einen illegalen Volkswiderstand gegen die Besatzungsmächte, aber auch die zahlreichen Versuche neonazistischer Ideologen, eine neue Dolchstoßlegende zu propagieren, fanden im Nachkriegsdeutschland letztlich deshalb keine Resonanz, weil in diesem Volk nichts so wenig populär ist wie eine Niederlage. 

Die bedingungslose Kapitulation führte zur vollständigen Besetzung Deutschlands; im Gegensatz zu 1918 wurden die Deutschen als Kriegsgefangene, als Flüchtlinge oder als Zivilisten, im besetzten Gebiet, in der kleinsten Landgemeinde, mit den Sieger-Armeen konfrontiert. Diese existenzielle Erfahrung mit den Siegern und ihre unmittelbaren Konsequenzen für das private Berufsleben jedes Einzelnen forderten gerade auch bei den 6,5 Millionen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und den rund 800.000 ehemaligen SS-Männern die Erkenntnis, daß das NS-Regime eine totale militärische, wirtschaftliche und moralische Niederlage erlitten hatte. Nur durch diese tiefe Niederlage konnten wir uns weitgehend, und zwar quer durch alle Klassen und Schichten, vom Nationalsozialismus befreien. Also nicht aus Humanität, nicht, weil wir ein aufgeklärtes, kulturell hochstehendes Volk waren, sondern weil wir bedingungslos kapitulieren mußten, hat der Neonazismus bei uns keine Chance. 

  1. Entnazifizierung statt Antifaschismus

 Die Entnazifizierung verlief so, daß die Nazi-Eliten nicht von einer antifaschistischen Gegen-Elite, sondern von einem Elite-Kartell abgelöst wurden. Dieses Kartell setzte sich anfangs aus Personen zusammen, die zumeist  w e d e r  engagierte National-Sozialisten  n o c h  engagierte Gegner gewesen waren. Es ist leider so, daß die Besatzungsmächte am Anfang oft  M i t l ä u f e r  engagierter Antifaschisten vorgezogen haben. Im Laufe der Rekonstruktion der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und des bürgerlichen Staates kamen dann große Teile der früheren E x p e r t e n  hinzu. Diese Entnazifizierung verstärkte Mitläufermentalität, Entpolitisierung sowie die Tendenz zum Rückzug ins Privatleben und in den Konsum. Antifaschismus galt schon bald wieder als störend. 

  1. Keine Analyse der Ursachen des Antisemitismus

Es gab nach 1945 in der Sozialdemokratie wie in der KPD zunächst keinen ernsthaften Versuch, die Ursachen des Antisemitismus zu analysieren. Ich habe mir die linke Literatur ziemlich genau angeschaut. Es ist verblüffend, daß selbst in den "Frankfurter Heften" oder in der Berliner Zeitschrift "Ost und West" die Analyse des Antisemitismus kein Thema war. Ab und zu einmal eine kleine Buchbesprechung. Ich komme noch darauf zu sprechen, warum eine solche Analyse damals nicht geleistet worden ist. 

Was es wohl gab, waren Studien von Menschen, die überlebt hatten. Es sind die  O p f e r   und nicht die  T ä t e r , die schreiben. Ich möchte in diesem Zusammenhang an zwei wichtige Arbeiten erinnern. Da gab es zunächst das Buch von Viktor Klemperer, L.T.I, "Lingua Tertii Imperii" - Die Sprache des Dritten Reiches - Notizbuch eines Philologen, eine ideologie-kritische Studie, die vom Aufbauverlag Berlin bereits 1947 veröffentlicht wurde.  Hier nur ein kurzes Zitat aus dem Notizbuch dieses jüdischen Philologen in Deutschland zwischen 1933 und 1945. Er schrieb: "...Mein Tagebuch war in diesen Jahren immer wieder meine Balancierstange, ohne die ich hundertmal abgestürzt wäre. In den Stunden des Ekels und der Hoffnungslosigkeit, in der endlosen Öde mechanischster Fabrikarbeit, an Kranken- und Sterbebetten, an Gräbern, in eigener Bedrängnis, in Momenten äußerster Schmach, bei psychisch versagendem Herzen - immer half mir diese Forderung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht - morgen sieht es schon wieder anders aus, morgen fühlst du es schon anders; halte fest, wie es jetzt eben sich kundgibt und wirkt. Und sehr bald verdichtet sich dann dieser Anruf, mich über die Situation zu stellen und die innere Freiheit zu bewahren zu der immer wirksameren Geheimformel L.T.I., L.T.I. ! " 

Das zweite Buch stammt von Eugen Kogon: "Der SS-Staat", ein mittlerweile klassisches Werk über das System der deutschen Konzentrationslager und das politische System, das dahinter stand, Auch dies kein bloßer Erlebnisbericht, sondern die Studie eines Links-Katholiken, der auch als Opfer ein scharf beobachtender Soziologe blieb. 

  1. Die Studentengeneration nach 1945

Das Denken der ersten Nachkriegs-Studentengeneration war, wie für die meisten Deutschen, noch wesentlich durch die Kriegserfahrungen geprägt. In Bayern zum Beispiel hatten 1948 nur circa 3 Prozent der männlichen Studenten nicht in der Wehrmacht oder der Waffen-SS gedient, fast 5 Prozent der Studenten hatten weniger als ein Jahr gedient; 10 Prozent zwischen ein und zwei Jahren; mehr als 34 Prozent zwischen 2 und 4 Jahren; fast 26 Prozent zwischen 4 und 6 Jahren; ca. 14 Prozent zwischen 6 und 8 Jahren; schließlich fast 8 Prozent mehr als 8 Jahre. Das heißt, an der Universität studierte im Grunde genommen das halbkasernierte entwaffnete deutsche Offizierskorps. Darüber muß man sich klar werden. 

Der SDS war natürlich weitgehend ein Spiegelbild dieser Konstellation. Es konnte auch gar nicht anders sein. Dies war seine Stärke und seine Schwäche. Themen, die im SDS damals diskutiert wurden, lauteten zum Beispiel: "Schuld und Eid", "Europa", "Die soziale Situation an den Universitäten", "Sozialismus und Christentum" und "Nationalbewußtsein und Sozialismus". Ich habe nirgends einen Hinweis dafür gefunden, daß über die gesellschaftlichen Ursachen des Antisemitismus öffentlich diskutiert worden wäre - an keiner Universität und in keiner politischen Hochschulgruppe. Dafür fehlten wohl einfach die intellektuellen und emotionalen Voraussetzungen. Trotzdem gilt auch hier die Ausnahme von der Regel: Anfang Dezember 1950 verhinderten 4000 Berliner Studenten ein Gastspiel des Wiener Burgtheaters mit Werner Kraus, der in dem antisemitischen Veit~Harlan~Film "Jud Süß" die Hauptrolle gespielt hatte. Und im Januar 1952 verhinderten der SDS und die SJ-Die Falken in Frankfurt am Main, Berlin, Göttingen, Marburg und Freiburg im Breisgau die Aufführung des Veit-Harlan-Films "Hanna Amman". 

  1. Lernunfähigkeit der Universitäten

Die große Mehrheit der jüdischen, linken und republikanischen Sozialwissenschaftler und Historiker hatte Deutschland nach 1933 verlassen müssen.  Helge Pross charakterisierte 1966 auf einer Diskussionsveranstaltung an der Freien Universität Berlin den Verlust durch die Emigration 1966 als "geistige Enthauptung Deutschlands". Wenn man aber seinen Geist enthauptet, so hat das Folgen. 

Dieser Verlust und die Kriegserfahrungen prägten das Denken an den Universitäten. Dies sollten auch Alexander Mitscherlich und Fred Milke bitter erfahren, als sie 1947 ihre Dokumentation "Das Diktat der Menschenverachtung" über den Nürnberger Ärzteprozeß veröffentlichten. Der Rektor der Universität Göttingen leugnete öffentlich jede Kooperation von Wissenschaft und Nationalsozialismus, und Mitscherlich stieß mit seiner Kritik an der Funktion der Wissenschaft im Dritten Reich auf völliges Unverständnis. Selbst in den Studentenzeitungen finden sich so gut wie  k e i n e  Indizien für eine Diskussion oder gar Unterstützung seines Themas in der Studentenschaft. Seine Dokumentation wurde von den meisten Kollegen als Nestbeschmutzung der eigenen Fachdisziplin abgelehnt. Unter der Überschrift "Vorbeigeredet" stellte der damalige Rektor in der Göttinger Universitätszeitung ohne Widerspruch fest: "Der Mitscherlich kämpft, wie mir scheint, gegen einen fiktiven Gegner eigener Anliegen." 

Mitscherlich hatte unter anderem nachgewiesen, daß  95 namhafte Vertreter der deutschen Wissenschaft 1942 an einer Tagung teil genommen hatten, auf der Ärzte der Luftwaffe über "Unterkühlungsversuche" an 360 bis 400 KZ-Häftlingen und russischen Kriegsgefangenen berichtet hatten. Laut Nürnberger Prozessunterlagen habe keiner der  95 Teilnehmer auf der Tagung eine genaue Aufklärung über diese Versuchsanordnung verlangt oder etwa gegen sie Protest erhoben. Mitscherlichs Nachweis stieß in der Universität nicht nur auf Unverständnis, sondern auf Empörung. 

  1. "Braun" gleich "Rot"

Im Kalten Krieg entstand die Parole "braun gleich rot". Die Totalitarismus-Doktrin, die in den 50er Jahren an Schulen, Universitäten und in den Medien verbreitet wurde, besagte, das faschistische, nationalsozialistische und kommunistische "totalitäre Systeme" grundsätzlich gleichartig seien, Dadurch wurde aber den ehemaligen Mitläufern und Aktivisten des NS-Regimes nachträglich die Möglichkeit eröffnet, den nicht-stattgefundenen Widerstand gegen die Nazis bzw. ihre aktive Teilnahme am Nationalsozialismus jetzt in einem militanten Antikommunismus nachzuholen. Überhaupt nahm die sich abzeichnende Spaltung Deutschlands seit der separaten Währungsreform in den drei westlichen Besatzungszonen im Juli 1948 die Phantasie der meisten Menschen in Anspruch. Über Auschwitz wurde nur noch selten geredet. 

II.                Zur Situation in den 50er und 60er Jahren

1.       Frankfurter Nischenkultur 

Erst mit der Rückkehr von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer an die Frankfurter Universität im August 1950 entstand ein neuer Focus für kritische Sozialforschung im Nachkriegsdeutschland, das "Café Max", wie die Studenten es bald nannten. Auf jeden Fall hatte die in ihre Heimat zuruckgekehrte Frankfurter Schule auf den SDS eine große Wirkung. Ich erinnere zum Beispiel an die Analyse des NS-Staates von Franz L. Neumann, Otto Kirchheimer, Arkadij R. Gurland und Paul Massing. Bereits Ende der 30er Jahre war diese Studie über die "Struktur und Praxis des NS-Systems" in New York entstanden. Dieses Buch blieb lange ein Geheimtip: Es wurde aber im SDS seit Anfang der 60er Jahr gelesen. Eine weitere wichtige Arbeit für unser Thema war natürlich die Studie von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno über Autorität und Familie. Auch diese Studie war in der damaligen etablierten Politik und im kirchlichen Bereich so gut wie unbekannt. In Frankfurt, Berlin und einigen anderen Universitätsstädten entstand nicht von ungefähr eine Nische, wo diese Literatur aus dem Exil - oft jenseits des offiziellen Wissenschaftsbetriebs - zur Kenntnis genommen wurde. 

Demgegenüber blieb die Gründung des Staates Israel und die Politik der Arabischen Länder gegenüber Israel in Deutschland sozusagen unbemerkt, zumindest undiskutiert. Man hatte andere Sorgen. Erst mit der Ratifizierung des "Wiedergutmachungsabkommens" im März 1953 durch den Bundestag setzt eine solche Diskussion ein - teilweise unter ganz unsympathischen Vorzeichen. Da wurde aufgerechnet, wieviele Menschen ermordet worden waren und wieviel Geld die Bundesrepublik Deutschland zu zahlen habe. Krämer-Argumentation statt Trauerarbeit. 

Aber im selben Monat März 1953 ratifizierte der Bundestag auch den Deutschlandvertrag und den Vertrag für eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Die Wiederbewaffnung und die Eingliederung der Bundesrepublik in das westliche und der DDR in das östliche Verteidigungssystem überlagerten alle an­deren Themen. Dies galt auch für die Universitäten und die akademische Linke. Nur in der "Frankfurter" Nischen-Kultur, die später oft als Seminar-Marxismus bespöttelt wurde, ent­stand zum ersten Mal nach Auschwitz überhaupt eine Grundlage für eine reflektierte Diskussion über den Völkermord.

 

2.      2. Legitimationskrise der Bundesrepublik 

Durch die Hakenkreuzschmierereien vom Dezember 1959 und Januar 1960 in Hamburg, Bremen, Dortmund, Nordbayern, Rheinland-Pfalz, Braunschweig und Coburg geriet die CDU/CSU-Regierung in eine Legitimationskrise. Der Prozeß gegen Eichmann 1961 hatte diese Legitimationskrise noch verstärkt. Denn zwischen 1949 und 1959 verdrängte die Union jede grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. 

Die Strategen der CDU haben damals intern die These vertreten, die Deutschen könnten eine solche Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit nicht bewältigen. Ihre Marschrichtung hieß deshalb: Augen zu, darüber wird nicht geredet !  Dieses Schweigen war durchaus überlegt. Das hieß natürlich nicht, daß Adenauer Antisemit gewesen wäre. Er war aber der Meinung, daß die Deutschen bis 1945 mehrheitlich Nazis oder Mitläufer gewesen sind. Er hielt sie für unfähig, über die Verbrechen reden zu können. Ließe man sie sagen, was sie wirklich dachten, so käme zum Vorschein, daß die Mehrheit der Deutschen nach wie vor nur besiegte Nazis seien. Adenauer war ein sehr harter, fast zynischer und sehr konservativer alter Mann, der sein eigenes Volk nicht sehr geliebt hat. 

Jetzt aber, durch die Hakenkreuz-Schmierereien, holte die Vergangenheit die Union wieder ein. Die bürgerlichen Parteien führten plötzlich in den Schulen das Pflichtfach "Gemeinschaftskunde" ein, und die CDU rief nach Politologen und Soziologen. Man hoffte, daß die kritische Intelligenz, die in Frankfurt und Berlin herangewachsen war, ihnen die unangenehme Arbeit einer demokratischen Umerziehung der Jugend abnehmen konnte, und zwar auf der vorpolitischen Ebene der Schule, also außerhalb der Öffentlichkeit. 

Zur selben Zeit startete damals der SDS eine Kampagne gegen nationalsozialistische Juristen, die in der Bundesrepublik erneut Ämter bekleideten. Reinhard Strecker veranstaltete eine Wanderausstellung, auf der zahlreiche Dokumente aus der Volksrepublik Polen, aus Israel und aus der DDR zu sehen waren. Außerdem kam es zu Demonstrationen gegen den Staatssekretär im Kanzleramt, Dr. Hans-Maria Globke, bis 1945 Beamter des Reichsinnenministeriums und in dieser Eigenschaft Kommentator der NS-Rassengesetze von Nürnberg. Nach 1945 war Globke als Widerstandskämpfer entnazifiziert worden, da er aufgrund von Zeugenaussagen als Vertrauensmann des Vatikans und des politischen Katholizismus rehabilitiert wurde. Plötzlich war die braune Vergangenheit wieder ein tagespolitisches Thema geworden. Obwohl man sich doch so angestrengt hatte, durch wirtschaftlichen Erfolg und Wohlverhalten dieses Problem zu einem Unproblem zu machen. Der damalige SPD-Parteivorstand distanzierte sich übrigens von den Kampagnen des SDS, da diese "kommunistisch" gesteuert seien.

 

3.      3. Abstrakte Faschismustheorien 

Nach der Trennung der SPD vom SDS entstanden im Umkreis der SDS-Hochschulgruppen theoretische Arbeitskreise, die sich nun gezielt mit den ökonomischen und historischen Ursachen des Nationalsozialismus in Deutschland beschäftigten. "Das Argument" veröffentlichte Anfang I960 in einer schnellen Reihenfolge Schwerpunkthefte zu diesen Themen. Ich möchte ein paar dieser Themen nennen: "Die nationalsozialistische Wirtschaft", "Kapitalismus, Faschismus und Demokratie", "Psychologische Theorien über den Faschismus". Dann ein Essay von Wolfgang Haug "Führerpersönlichkeiten". Ein anderes, sehr beliebtes Thema "Die Faschismustheorie in der DDR im kritischen Spiegel unserer Gedanken". 

Heute fallt auf, daß alle diese Themen sehr abstrakt waren. Zumeist hatten wir damals auch keinerlei persönliche Kontakte zu den Opfern der Nazi-Verbrechen, noch versuchten wir Verbindungen zu linken Israelis oder Juden in anderen Ländern aufzunehmen. Der Nationalsozialismus war für uns längst zu einem Gegenstand engagierter sozialwissenschaftlicher Forschung geworden. Hier liegt sicherlich eine Ursache dafür, daß der Antisemitismus zunehmend zu einem bloßen Nebenaspekt des Nationalsozialismus herunterdefiniert wurde. 

Über diesen intellektuellen Verdrängungsprozeß schrieb später unser Genosse Moshe Postone: "Dadurch wurden die Naziverbrechen gegen die Menschheit von der sozialhistorischen Untersuchung des Nationalsozialismus isoliert. Das Ergebnis ist, daß die Vernichtungslager entweder als bloße Beispiele imperialistischer oder totalitärer Massenmorde erscheinen oder unerklärbar bleiben". Letztlich hielten wir uns so die menschliche Dimension des Menschheitsdramas vom Leibe, indem wir die politische Struktur und Praxis des Nationalsozialismus analysierten und gegen die ungesühnte Nazi-Justiz auf den Straßen demonstrierten, glaubten wir, für  u n s  p e r s ö n l i c h  das Problem gelöst und eine eigenständige, internationalistische, antinationalistische Identität aufgebaut zu haben.  

Die Juden mit ihren oft allzu menschlichen Problemen - man schaue nur nach Israel - störten uns im Zweifelsfall nur dabei. Natürlich gab es auch in SDS Ausnahmen. In diesem Zusammenhang möchte ich an Rudi Dutschke erinnern, der in dieser Frage sehr differenziert und auch historisch fundiert argumentiert hat. Ähnlich dachten auch einige unserer intellektuellen Väter wie zum Beispiel Helmut Gollwitzer, Herbert Marcuse, Isaak Deutscher oder Heinz Brandt. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur an eine Auseinandersetzung auf einer Delegiertenkonferenz des SDS Mitte der 60er Jahre erinnern, als trotzkistische Genossen, die natürlich keine Antisemiten, sondern Internationalisten waren, auftraten und in ihrer zeitlosen Denkart den Antrag stellten, der SDS solle sich eindeutig gegen die staatliche Existenz eines Judenstaates aussprechen. Rudi wandte sich gegen diesen Antrag mit dem Argument, daß dieses Problem im Verband bisher nicht ausdiskutiert worden sei. Wenn man aber mit uninformierten Mehrheiten pseudodemokratisch abstimmen wolle, so würde der Berliner Landesverband ausziehen. Auch Heinz Brandt intervenierte gegen diesen ad hoc Antrag und plädierte für eine Diskussion. Es gab im SDS damals  immer wieder solche Kontroversen mit internationalistischen Idealisten -  also mit Trotzkisten und Luxemburgianern, die einen ahistorischen Internationalismus gegen den Zionismus auf Kosten Israels vertreten haben. Ich möchte hier noch einmal ausdrücklich betonen, das es sich hier nicht um linke Antisemiten gehandelt hat, doch hatte das, was sie vorschlugen, in der Konsequenz zu einer antisemitischen Politik im SDS geführt. Rudi Dutschke argumentierte historisch und bezog sich auf Isaak Deutscher: Nachdem die Arbeiterbewegung von den Nazis zerschlagen worden war, gab es für die Juden in Deutschland und später in ganz Europa kein Recht mehr. Trotz Widerstand und Opfer trägt deshalb die Arbeiterbewegung eine schwere Last. Und Isaak Deutscher hatte leider recht, als er 1954 schrieb; "Sechs Millionen Juden mußten in Hitlers Gaskammern umkommen, um Israel ins Leben zu rufen. Es wäre besser gewesen, Israel wäre ungeboren geblieben, und die sechs Millionen Juden wären noch am Leben - aber wer kann den Zionismus und Israel dafür verantwortlich machen, daß es anders gekommen ist?" 

4.      Die linke Wende 

Die Wende erfolgte in den Tagen des Sechs-Tage-Krieges. Am 2. Juni 1967 hatte der Polizei-Obermeister Karl-Heinz Kurras den FU-Studenten Benno Ohnesorg erschossen. In die damalige bürgerkriegsähnliche Stimmung in Berlin platzte am 3. Juni die Nachricht, israelische Truppenverbande stünden unmittelbar vor einem Angriffskrieg gegen Ägypten, Jordanien und Syrien. Während einer mehrstündigen Diskussion in der von der Polizei umzingelten wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität Berlin versuchte der Schriftsteller Günther Grass, die FU-Studenten zu einer Resolution für das seiner Meinung nach tödlich bedrohte Israel aufzurufen. Dies wurde jedoch abgelehnt. 

Ich glaube, hier lag genau der Wendepunkt im Verhältnis der studentischen Linken zu Israel. Zwei Tage später begann der Sechs-Tage-Krieg. Die Springerpresse unterstützte die offizielle israelische Position durch ein publizistisches Trommelfeuer. Postone schrieb 1981 zurückblickend: "Der Wendepunkt vom Philosemitismus zu jener Form des Antizionismus war der Krieg von 1967". Er meinte, "daß hier ein Prozeß psychologischer Umkehr stattfand, und zwar grotesker Weise bei der Rechten wie bei der Linken."  Von der Rechten wurden die Juden als Sieger - also jetzt als erfolgreich dargestellt, bei der Linken wurden sie jetzt nicht mehr als Opfer, sondern als Sieger - mit den Nazis identifiziert. 

In dem Moment, wo "der Jude" sich als Soldat bewährt, wird er für die Rechten ein normaler Mensch - und das nennt Postone die "psychologische Umkehr" des Jahres 1967. Von der Linken aber werden die Opfer "der Juden", also die Palästinenser als "die Juden der Nazi-Vergangenheit identifiziert". Es ist bemerkenswert, das der Auslöser für eine solche psychologische Wende nicht die Vertreibung und das Leid der Palästinenser gewesen ist, denn das hatte schon lange vor 1967 begonnen. Der Auslöser war vielmehr der siegreiche Blitzkrieg der Israelis. Die Wende-Analogie der Linken war verblüffend einfach konstruiert: Wenn die Juden keine Opfer mehr sind, und wenn andererseits die Israelis brutal und rassistisch sind, dann müssen sie Nazis sein. Nach der Schlacht von Karameh 1968 erwiesen sich die Palästinenser zudem als die besseren Juden, denn sie leisteten im Gegensatz zu den Juden im Dritten Reich Widerstand. 

So war endlich - für große Teile der westdeutschen Linken - eine Gelegenheit gegeben, sich mit den "Juden", also mit den Palästinensern, nachträglich zu identifizieren,. Der Kampf gegen den Zionismus verwandelte sich in den langersehnten Kampf gegen die Nazi-Vergangenheit, befreit von der Schuld. Jetzt konnte man sich endlich - ohne schlechtes Gewissen - mit den "modernen Juden", mit den Palästinensern identifizieren, und die hatten ja nichts mehr mit Auschwitz zu tun. Das heißt aber: man hatte die historische Bürde abgeschüttelt, und die Politik des Staates Israel hatte dabei geholfen.

 

III.             Beispiele eines konkreten linken Antisemitismus 

Im letzten Teil möchte ich mich mit konkreten Erscheinungsformen des linken Antisemitismus in der APO nach 1968 beschäftigen. Ich glaube, daß man sich mit diesem Problem ehrlich auseinandersetzen muß. Auch wenn Henryk Broder weitgehend nur aus der ML-Presse zitiert hat, so darf man es sich nicht so einfach machen und glauben, da8 die Sponti-Kultur damit nichts zu tun habe, und daß dies nur ein Problem der Parteikommunisten sei. Deshalb will ich zunächst ein Zitat aus unserer damaligen politischen Kultur bringen. 

1.      Der "Judenknacks" 

Die Berliner APO-Zeitschrift "AGIT 883", damals eine relativ bekannte Zeitschrift mit ungefähr 15- bis 20.000 verkauften Exemplaren pro Woche - das war also noch nicht so ein Kummerunternehmen wie viele Heftchen heute - dokumentierte am 13. November 1969 nach einem Bombenanschlag auf das jüdische Gemeindehaus ein Flugblatt der sogenannten "Schwarzen Ratten TW" ("Tupamaro Westberlin"). Zu den Mitgliedern der Tupamaros Westberlin gehörten damals unter anderem Dieter Kunzelmann, Georg von Rauch, Tommy Weißbecker und Bommi. In diesem Flugblatt  - das ganz eindeutig ein Produkt der antidogmatischen und anti-autoritären Linken war - hieß es unter anderem: "Die israelischen Gefängnisse, in denen nach Zeugenaussagen entkommener Freiheitskämpfer Gestapo-Foltermethoden angewandt werden, sind überfüllt.. .. Wieder einmal weiß die deutsche Öffentlichkeit von nichts. Springer läßt sich in Tel Aviv mit Ehrendoktorwürden behängen und baut Moshe Dajan zum Volkshelden à la Rommel auf ...  Am 31. Jahrestag der faschistischen Kristallnacht wurden in Westberlin mehrere jüdische Mahnmale mit 'Shalom und Napalm' und 'El Fath' beschmiert. Im jüdischen Gemeindehaus wurde eine Brandbombe deponiert. Beide Aktionen sind nicht mehr als rechtsradikale Auswüchse zu diffamieren, sondern sie sind ein entscheidendes Bindeglied internationaler, sozialistischer Solidarität. Das bisherige Verharren der Linken in theoretischer Lähmung bei der Verarbeitung des Nahost-Konflikts ist Produkt des deutschen Bewußtseins: 'Wir haben eben Juden vergast und müssen die Juden vor einem neuen Völkermord bewahren.'  Die neurotische historische Aufbereitung der geschichtlichen Nichtberechtigung eines israelischen Staates überwindet nicht diesen hilflosen Antifaschismus. Der wahre Antifaschismus ist die klare und einfache Solidarisierung mit den kämpfenden Feddayin."

 

In der folgenden Nummer dieser Zeitung "AGIT 883" habe ich dann selbst einen längeren Artikel unter der Überschrift "Was ist Antisemitismus?" geschrieben, in dem ich versucht habe, den antiautoritären Terroristen die Entstehung des modernen Antisemitismus zu erklären. Was war die Konsequenz auf meinen Ar­tikel ? Wir bekamen einen Brief von Dieter Kunzelmann, der sich angeblich in Amman aufhielt. In Wirklichkeit lebte Dieter Kunzel­mann - wie man mittlerweile weiß - mit angeklebtem Bart in der Winterfeldstraße in Berlin-Schöneberg. Ich zitiere nochmals ein bißchen O-Ton aus der Giftküche des Antisemitismus aus dem Jahre 1969:   "Hier ist alles sehr einfach. Der Feind ist deutlich. Seine Waffen sind sichtbar. Solidarität braucht nicht gefordert zu werden...  Die Menschen in ihrer aussichtslosen Lage waren sich trotz des gemeinsamen Elends feindlich. In dem Augenblick, als sie die Chance sahen einzugreifen in das, was mit ihnen passiert, als sie ihre Möglichkeiten entdeckten, als sie begriffen, daß sie nichts mehr zu verlieren und alles zu gewinnen hatten, konnte etwas Neues anfangen."  (Zwischenbemerkung: Hier hatte Kunzelmann schlicht bei Frantz Fanon abgeschrieben.)  "Was alles hier so einfach macht ist der Kampf. Wenn wir den Kampf nicht aufnehmen, sind wir verloren. Diese Erkenntnis ist hier sehr konkret. Unsere Erkenntnis ist nicht dieselbe. Ich meine nicht, daß wir uns mit dem Kampf der Palästinenser schlicht identifizieren können. Mir haben die Is­raelis nicht das Haus weggesprengt. Ich bin nicht im Flüchtlingslager geboren. Aber eines steht fest; Palästina ist für die BRD und Europa das, was für die Ami's Vietnam ist. Die Linken haben das noch nicht begriffen. Warum ? DER JUDENKNACKS."

 

Für mich spricht aus solchen Worten eine linke SA-Tradition, die es ja in den 20er Jahren in Berlin schon einmal gegeben hatte. Als Beleg für den linken "Judenknacks" zitierte Kunzelmann dann einen mir unbekannten Text, wahrscheinlich aus einer Presseerklärung des Republikanischen Clubs gegen das versuchte Brandbombenattentat im Jüdischen Gemeindehaus: "Wir haben sechs Millionen Juden vergast. Die Juden heißen heute Israelis. Wer den Faschismus bekämpft ist für Israel."  Seine eigene Meinung brachte er dann so auf den Begriff: "So einfach ist das, und doch stimmt es hinten und vorne nicht. Wenn wir endlich gelernt haben, die faschistische Ideologie Zionismus zu begreifen, werden wir nicht mehr zögern, unseren simplen Philosemitismus zu ersetzen durch eindeutige Solidarität mit Al-Fath, die im Nahen Osten den Kampf gegen das Dritte Reich von gestern und heute und seine Folgen aufgenommen hat."  Herr Kunzelmann ist heute Parlamentarier der Alternativen Lists (AL) in Berlin. 

2.  Keine linke Zivilcourage 

Was mir beim Lesen des Textes heute auffällt, ist die ständige Klage von Kunzelmann darüber, daß die Linke im Herbst 1969 immer noch nicht ihren "Judenknacks" überwunden hatte. Henryk Broder hat zwar Recht mit seiner These, daß es in der deutschen Linken eindeutige Fälle von Antisemitismus gegeben hat. Ich meine aber, er hat Unrecht, wenn er verallgemeinert. Jedoch hat die große Mehrheit zu diesem Antisemitismus geschwiegen. Nur ganz wenige hatten die Zivilcourage, etwas dagegen zu sagen. Ich glaube mittlerweile, daß die Linke nicht mutiger ist als die Deutschen insgesamt. Die deutsche Linke ist genau so feige, wenn die Mehrheit innerhalb der Linken falsche Parolen ausgibt; auch trauen sich nur ganz wenige gegen diesen Mehrheitsdruck ihre Stimme zu erheben. Ähnliches haben wir auch im bürgerlichen Lager erlebt. Es gibt in unserer Nationalkultur einen Mangel an Zivilcourage. 

Zwar hat die übergroße Mehrheit der undogmatischen Linken, trotz der psychologischen Umkehr nach dem Sechs-Tage-Krieg und einer wachsenden Identifizierung mit den Freiheitsbewegungen in der Dritten Welt, den Antisemitismus von links nicht mitgemacht. Sie hat ihn allerdings auch nicht bekämpft. 

3. Entebbe 

Für mich persönlich kam das Ende einer falsch verstandenen linken Toleranz mit Leuten wie Dieter Kunzelmann im Sommer 1976. Ich gehe jetzt auf einen Zwischenfall ein, von dem schon die Rede war, nämlich die Entführung einer Maschine der Air France mit 257 Personen an Bord, darunter 83 Israelis, auf dem Flug von Paris nach Tel Aviv durch sieben Terroristen, Unter den Entführern befand sich wahrscheinlich das deutsche RAF-Mitglied Wilfried Böse. In Entebbe, in Uganda, wurden von den Terroristen alle jüdischen Passagiere, nicht nur die Israelis, selektiert und getrennt gefangengehalten. 

Später gab es dann in der deutschen Linken eine Diskussion darüber, ob Böse Antisemit gewesen sei oder nicht. Mit einem alten Freund, dem Genossen Fritz Lamm, habe ich mich darüber fast zerstritten. Ich will über diese Kontroverse noch kurz berichten, weil sie die Vielschichtigkeit des Problems verdeutlicht. 

Fritz Lamm stammte aus einem jüdisch-deutschnationalen Elternhaus und war 1929 zur Arbeiterjugend gestoßen. Anfang der 30er Jahre nahm er an der Gründung der "Sozialistischen Arbeiterpartei" (SAP) teil. Im Mai 1933 wurde er verhaftet und als Illegaler vom Reichsgericht zu rund zwei Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Gefängniszeit gelang ihm die Flucht nach Prag mit Hilfe von Stuttgarter Freunden aus der Arbeiterjugendbewegung. Erst im Jahre 1948 konnte er - nachdem die US-Militärregierung seinem Gesuch, bereits 1945 aus Cuba nach Deutschland zurückzukehren, nicht stattgegeben hatte - nach Stuttgart einreisen. Dort arbeitete er bei der Stuttgarter Zeitung und wurde Anfang der 80er Jahre zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt. Fritz spielte für uns, die 68-Generation, eine wichtige Rolle, denn er war einer der ganz wenigen Vertreter der linken jüdischen Intelligenz aus der Weimarer Zeit, der trotz Haft und Exil ins Nachkriegsdeutschland zurückgekehrt war. Er war ein antifaschistischer jüdischer Genosse, vielleicht einer der letzten echten Vertreter der Gedanken von Rosa Luxemburg. 

Natürlich kritisierte er in den 70er Jahren die Politik oder besser Unpolitik der Roten Armee Fraktion. Auf einem Seminar der Kasseler Naturfreundejugend Ende 1976 kam es zwischen Fritz und mir zu der erwähnten Kontroverse. Genervt durch seine idealistische Ansicht, ein Antiimperialist könne kein Antisemit sein, versteifte ich mich in der Diskussion auf die Gegenposition, daß Böse ein Antisemit gewesen sei. Die undogmatischen jungen Genossen aus der Naturfreundejugend empörten sich damals über mich, Fritz machte sich zum Sprecher dieser linken Verharmlosung und griff mich scharf an. Wenige Wochen später starb er. Wir konnten unseren Dissens nicht mehr ausdiskutieren. 

4.  Für einen realistischen Internationalismus 

Für mich verdeutlichte die Position von Fritz Lamm die Krise eines  zeitlosen  idealistischen Internationalismus. Trotz der Erfahrungen von 1914 und 1939 vertrat er nach wie vor die These, daß aufgrund der universellen Entwicklung der Produktivkräfte weltweit die Voraussetzung für den Sozialismus entstanden sei. Daß die Geschichte aber faktisch anders verlaufen ist, wurde und wird von Genossen wie Fritz Lamm häufig mit dem Argument beantwortet, die Arbeiterbewegung habe sich schließlich immer mehr von der reinen marxschen Lehre entfernt. 

Aufgrund unserer historischen Erfahrungen bin ich im Gegensatz dazu der Meinung, daß nur eine kulturelle und politische Hegemonie der demokratischen Linken in den wichtigsten Industriestaaten langfristig der Menschheit das Überleben garantiert. Es wäre also ganz falsch, wenn die Linke zum Beispiel in Deutschland, Italien, Frankreich, Großbritannien oder Israel ihre nationale Identität zugunsten eines abstrakten Internationalismus aufgeben würde. Stattdessen sollten wir durch langfristige linke Mehrheiten in unseren Ländern ein tragbares Fundament für einen realistischen Internationalismus schaffen. Dies heißt aber auch, daß die demokratische Linke jede Form von Antisemitismus, Rassismus oder Sexismus in ihren eigenen Reihen erkennen und überwinden muß. Henryk Broder hat durch seine ständigen literarischen Provokationen zum Thema "Linker Antisemitismus" dazu einen Beitrag geleistet. 

Und nun noch eine kurze Bemerkung zu Dan Diner. Wer den Deutschen heute, fünfzig Jahre nach der Machtübergabe an Hitler, mit dem Hinweis auf den Völkermord jedes Recht auf eine nationale Identität abspricht, läuft Gefahr, daß er über die Köpfe der realen Menschen hinweg agiert. Die durch Arbeitslosigkeit, Waldsterben und Nachrüstung politisierte Jugend kann die Logik des Arguments, die Deutschen dürften schon deshalb keine nationale Identität entwickeln, weil auch die Gemordeten dazu keine Chance mehr hatten, nicht nachvollziehen. Internationalismus darf nicht Flucht aus der eigenen nationalen Verantwortung und Geschichte bedeuten. Dies gilt sowohl für die demokratische Linke in Deutschland als auch in Israel.

Tilmann Fichter (Politikwissenschaftler, freier Publizist)

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