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Diskussion im Willy-Brandt-Haus:
Die Erben der Studentenbewegung.
Von Birgit Güll, Vorwärts, 02. February 2012
„Dutschkes Deutschland“ – das Buch von
Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker, wurde am 27. Januar im
Berliner Willy-Brandt-Haus diskutiert. Bis heute sorgen die westdeutsche
Linke, ihre Radikalisierung und die Rolle der Polizei für Debatten.
Es soll kein West-Berliner Veteranen-Treffen werden. Das sagt
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse am Beginn der Veranstaltung
„Dutschkes Deutschland“. Ein Blick durch den gut gefüllten Saal legt die
Vermutung nahe, dass die Anwesenden – vornehmlich Männer – schon so
manches Plenum in den 60ern miterlebt haben. Als eine der wenigen Frauen
sitzt Gretchen Dutschke, die Witwe Rudi Dutschkes, im Publikum.
Der Schuss auf Benno Ohnesorg
Doch Thierse meint es Ernst und spricht schnell über Gegenwärtiges. Über
die „dumme Überwachung von Abgeordneten der Linkspartei durch den
Verassungsschutz“, die an Zeiten des Kalten Krieges erinnere. Vor allem
aber geht es um die neuen Erkenntnisse, die der aktuelle „Spiegel“
veröffentlichte.
Die Rechercheergebnisse des Magazins lassen den Schluss zu, dass der
Polizist Karl-Heinz Kurras den Studenten Benno Ohnesorg bei der
Demonstration gegen den Schah von Persien 1967 vorsätzlich tötete.
Kurras hatte sich stets auf Notwehr berufen. Nun zeigen bisher
unbekannte Fotos ihn bei der Abgabe des tödlichen Schusses in
Gesellschaft eines Kollegen und nicht, wie behauptet, bedroht von den
Demonstrierenden. Mehr noch, die West-Berliner Polizei habe die
Hintergründe der Tat offenbar vertuscht, so der „Spiegel“.
Diese Erkenntnisse sorgen für Gesprächsstoff und Wut im Raum.
Schließlich trug Ohnesorgs Tod maßgeblich zur Radikalisierung der
westdeutschen Linken bei. Bisher wurde den Studenten stets vorgeworfen
die Polizeigewalt provoziert zu haben. Tilman Fichter plädiert
angesichts der neuen Erkenntnisse nicht nur für eine grundlegende
Polizeireform, sondern vor allem auch dafür, die Umstände der Tötung des
unbewaffneten Ohnesorg von politischer Seite endlich vollständig
aufzuklären.
Eine sozialistische Neuordnung
Fichter sitzt gemeinsam mit dem Soziologen Klaus Meschkat, der 1954 in
den SDS eintrat, mit den Historikern Siegfried Heimann und Peter Brandt
auf dem Podium. Er betont, dass Dutschke immer von „sozialistischer
Studentenbewegung“ gesprochen habe – ein Aspekt, der im Buch von Fichter
und Lönnendonker zu kurz komme.
„Was uns als junge Sozialisten und Marxisten umtrieb war: Wie können wir
in weiten Teilen Deutschlands zu einer sozialistischen Neuordnung
kommen.“ Das schien zu der Zeit in keinem der beiden Teile Deutschlands
möglich, so Meschkat. Von der SPD habe sich der SDS entfernt, als diese
sich 1959 mit dem „Godesberger Programm“ von der Arbeiterbewegung
entfernte.
Der Abend, der mit so viel Aktuellem eingeleitet wurde, verliert im Lauf
des Podiumsgesprächs bald an Feuer. Die Männer auf dem Podium, die
weniger miteinander sprachen als einzeln Statements abgeben, beginnen
sich in Detailfragen zu verlieren. Die Frage der Spaltung der
westdeutschen Studentenbewegung, die Frage ihres Verhältnisses zur DDR,
sie rücken bald in den Hintergrund.
Auf der Bühne reden plötzlich ältere Herren, die gar nicht mehr viel
gemeinsam zu haben scheinen, nebeneinander her. Während sie das tun,
verlässt ein Herr den Raum, der früher mal einer von ihnen war: Bernd
Rabehl. Früher Mitglied im SDS hat er sich schon vor Jahren den Rechten
zugewandt. Tilman Fichter hält es für nötig ihm die Hand zu schütteln.
Doch Rabehl ist offenbar trotzdem bald klar, dass er fehl am Platze ist,
er geht. Vielleicht, weil auch darüber gesprochen wird, wie der SDS
gegen eine Versöhnung mit den Nazi-Tätern in Deutschland arbeitete.
Ein anderes Geschichtsbild
Auf der Bühne dreht sich das Gespräch inzwischen um ein hitziges
Wortgefecht zwischen Rudi Dutschke und Egon Bahr über die
Entspannungspolitik. Aus dem Gedächtnis wird zitiert, wie das früher so
war. Für jene die nicht dabei waren ist das wenig aufschlussreich. Das
ist auch den Herren auf dem Podium bald klar und so wird die Stelle aus
dem Buch vorgelesen. Jetzt erschließt sich die Situation, Dutschkes
revolutionäre Ideen zur Wiedervereinigung gegen Bahrs und Brandts
Diplomatie.
Das Buch gibt einen Überblick über den SDS und sein Verhältnis zu DDR
und Wiedervereinigung. Ein Dokument für jene, die sich nicht für die
Stasi-Fernsteuerungs-Theorien von Leuten wie dem Leiter der Gedenkstätte
Hohenschönhausen Hubertus Knabe interessieren. Dazu sind auch
Veranstaltungen wie an diesem Abend im Willy-Brandt-Haus gut: Sie
zeigen, dass es noch ein anderes Geschichtsbild gibt.
Tilman P. Fichter, Siegward Lönnendonker: „Dutschkes Deutschland. Der
Sozialistische Deutsche Studentenbund, die nationale Frage und die
DDR-Kritik von links“, Klartext Verlag, Essen 2011, 318 Seiten, 19,95
Euro, ISBN 978-3-8375-0693-8
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