Interview
mit Wolfgang Thierse: 1968 ist eine Chance
Der Streit um die Generation 68 bestimmt
das politische Tagesgeschäft. Was hat das alles mit
Ostdeutschland zu tun? Im Zitty-Gespräch erklärt Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse die Debatte zur Chance auf Gleichberechtigung
Von Claudia Wahjudi und Mirko Heinemann
Interview mit
Wolfgang Thierse: 1968 ist eine Chance
Der Streit um die Generation 68
bestimmt das politische Tagesgeschäft. Was hat das alles mit
Ostdeutschland zu tun? Im Zitty-Gespräch erklärt Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse die Debatte zur Chance auf Gleichberechtigung
Von Claudia Wahjudi und Mirko Heinemann
Studentenproteste in West-Berlin und der Tod von Benno Ohnesorg.
Demonstrationen gegen das Kernkraftwerk in Whyl, Fischers
„Putzgruppe“ in Frankfurt am Main, Trittins kommunistische
Vergangenheit in Göttingen. Die toten RAF-Kader in Stammheim. 1968
und die Folgen – eine einzig westdeutsche Angelegenheit?
Nein, meint Wolfgang Thierse. Als Bundestagspräsident
beaufsichtigt er den parteipolitischen Krawall über die Vergangenheit
der Regierungsmitglieder; als Geisteswissenschaftler, der 68 in
Ost-Berlin lebte, sieht er Zeitgeschichte aus einer gesamtdeutschen
Perspektive. Im Zitty-Interview schildert er, wie er 68 in der DDR
erlebte – und welche Folgen die Debatte für das vereinte
Deutschland hat. Die Diskussion um 68 und den Terrorismus der 70er
Jahre, meint der Sozialdemokrat, stellt Gleichberechtigung her: Nicht
nur der Osten, auch der Westen hat eine Vergangenheit mit Konflikten
und Widersprüchen. Für Thierse ist 68 aber das Jahr der
Niederschlagung des Prager Frühlings.
Wolfgang Thierse, das Sprachrohr des Ostens? Das Buch Zehn Jahre
deutsche Einheit, das Thierse mitherausgegeben hat, hat für Aufruhr
gesorgt. Die Aufsätze der mitwirkenden Autoren und Wissenschaftler
zeichnen ein kritisches Bild von Ostdeutschland, das nicht nur weit
entfernt ist von Kohls Versprechen der blühenden Landschaften,
sondern auch an Schröders Chefsache Ost zweifeln lässt. Für dieses
Buch haben ihn Parteigenossen hart kritisiert. Dazu Thierse: „Daran
muss man sich gewöhnen.“
CAW
Derzeit wird mit den 68ern abgerechnet. Herr Thierse, wie haben
Sie 1968 erlebt?
»Ein Atem von Befreiung, von Liberalität strahlte bis
in den Osten aus.« Wolfgang Thierse |
Dem Alter nach bin ich selbst ein 68er. Aber für uns war der
Prager Frühling das entscheidende Datum im Jahr 1968. Ich war schon
damals in Berlin und kannte zu jener Zeit eine Menge Studenten aus dem
Westen, die zu uns kamen. Wir waren den 68ern in einer Mischung aus
Sympathie und Distanz verbunden.
In den siebziger Jahren nahm die Sympathie ab und die Distanz zu,
als aus der „kulturrevolutionären Bewegung“ plötzlich
sektiererische und dann sogar terroristische Gruppen wurden. In der
heutigen Diskussion muss man insofern sehr genau zwischen den so
genannten 68ern und den Sektierern und Terroristen der siebziger Jahre
unterscheiden.
Lehnten Sie Militanz grundsätzlich ab?
Ich fand immer, dass Gewalt kein Mittel von Politik sein kann, und
dass ihre Anwendung eher zu kontraproduktiven Wirkungen führen muss.
Das war ja sichtbar. Wir haben im Osten mit Betroffenheit gesehen,
dass die Reaktionen auf den Terrorismus die Einschränkung von
Freiheitsrechten waren und es sein mussten - weil sich der
demokratische Staat gegen seine Gefährdung wehren musste.
Wie reagierte die DDR auf das westdeutsche 68?
Ein Atem von Befreiung, eine Atmosphäre zunehmender Liberalität
strahlte bis in den Osten aus. In der DDR hat man das mit Sympathie
und Neid verfolgt. In den Siebzigern dann kam das Erschrecken, wie das
umschlägt: Wie der Terrorismus Freiheit und Demokratie gefährdet,
und wie die Entwicklung zu einem apologetischen Argument der SED-Führung
gegen die westliche Demokratie gemacht wurde.
Bei Linksradikalen im Westen hieß es dazu, das System zeige mit
den Reaktionen auf den Terrorismus seine „faschistische Fratze“.
Wenn man in einer Diktatur sitzt, sind die strengen Maßnahmen des
demokratischen Staates gegen die Terroristen vergleichsweise harmlos.
Ich erinnere mich sehr genau. Wenn Wessistudenten über Verfolgung und
Berufsverbot klagten, haben wir nur gestaunt, den Kopf geschüttelt
und erwidert: Ihr habt keine Ahnung, was das ist. Schaut in die DDR,
in die Sowjetunion, dann wisst ihr erst, was Berufsverbote sind. Die
Scheidelinie war: Es ist das Eine, für den Sozialismus zu kämpfen,
und etwas Anderes, im Sozialismus leben zu müssen.
»Es ist sinnvoll, neu darüber zu diskutieren, dass die
Geschichte der Bundesrepublik nicht eine einzige, strahlende
Erfolgsstory ist.« |
Ist die gegenwärtige Debatte eine Selbstvergewisserung, eine
Diskussion um die Identität der neuen Republik?
Es ist sinnvoll, neu darüber zu diskutieren, dass auch die alte
Bundesrepublik ihre Widersprüche und Konflikte hatte. Dass die
Geschichte der Bundesrepublik nicht eine einzige, strahlende
Erfolgsstory ist – eine kontinuierliche heile Welt, während im
Osten ja immer Finsterstes zu bewältigen war.
So etwas wie eine Genugtuung Ostdeutschlands?
Nein, das ist nun eine Art von Gleichberechtigung: Nicht nur der
Osten, auch der Westen Deutschland hat eine Vergangenheit. Dass dies
vergegenwärtigt wird, das ist auch heilsam mit Sicht auf die
ostdeutsche Geschichte.
Welches Ergebnis dieser Debatte wünschen Sie sich?
Ich hoffe, dass die Debatte bald wieder dorthin kommt, wohin sie gehört
– auf die Ebene der Historiker, Publizisten und Memoirenschreiber.
Man dient der geschichtlichen Wahrhaftigkeit nicht dadurch, dass ihr
Stoff zum Gegenstand des tagespolitischen Streites wird.
Wieso soll dies kein Gegenstand der politischen
Auseinandersetzung sein?
Es gibt die Tendenz, politische Fragen zu personalisieren, zu
skandalisieren, alarmistisch auszuhandeln – und sie nimmt zu. Ich
leide zunehmend darunter, dass die politische Sphäre eine Sphäre der
bedingten Reflexe ist, von der die Journalisten ein ganz wesentlicher
Teil sind. Das Wichtigste ist die sofortige Schuldzuweisung.
Raufhauen, solange bis die Personen sich schuldig bekannt haben –
dann tritt wieder Ruhe ein. Kein Problem ist gelöst, aber Schuldige
sind benannt und zurückgetreten worden.
Gibt es für Sie Grenzen, wann ein Minister Minister sein darf?
Elementare Voraussetzung ist: Er muss gewählt werden. Er muss glaubwürdig
ein engagierter Demokrat sein und sich zu den Grundwerten unserer
Gesellschaft bekennen. Und das setzt immer auch voraus, dass die Wähler
die Möglichkeit haben, das kritisch beurteilen zu können. Aber das
scheint mir im Falle Trittin und Fischer der Fall zu sein. Da sind ja
nur in Einzelheiten Neuigkeiten heraus gekommen. Im Grundsatz waren
doch deren Biografien bekannt. Weil sie übrigens auffälliger waren
als die Biografien vieler anderer, die deswegen auch weniger bekannt
sind. Das sage ich ohne Vorwurf gegen die anderen.
Die Bundesrepublik ging gegen Linksextreme mit extremen Mitteln
vor. Sind die Maßnahmen gegen Rechtsextreme heute ausreichend?
Wir haben Gesetze, die ausreichen. Die müssen konsequent angewendet
werden. Ich glaube, das Problembewusstsein von Polizei und Justiz ist
in den letzten Jahren deutlich gewachsen. Und deshalb glaube ich auch,
dass die Anstrengungen, die der Staat jetzt unternimmt, auch größere
Erfolge zeitigen werden als bisher. Deutschland ist nicht in der
Gefahr, ein rechtsextremistischen Land zu werden. Aber der
Rechtsextremismus ist eine wirkliche Herausforderung für die
Demokratie. Polizei und Justiz haben ihre Pflicht zu tun. Die
wichtigste Aufgabe hat jedoch mit politischer Bildung, mit
Demokratie-Erziehung zu tun: Werteerziehung, der Anstand, die
Gesittung einer Gesellschaft ist Angelegenheit aller Bürger.
»Haben wir nicht alle die Erfahrung gemacht, dass aus
18-jährigen Idioten vernünftige 50-Jährige werden können?« |
Ihre Bemerkung in der Frankfurter Rundschau, auch ehemalige
Rechtsextreme können einmal Minister werden, hat Ihnen heftige Kritik
beschert.
Wenn ich heute darum kämpfe, den Rechtsextremismus zurückzudrängen
und junge Leute für die Demokratie zu begeistern, dann kann ich das
nur unter einer Voraussetzung tun: dass ich davon überzeugt bin, dass
sich Menschen ändern können. Sonst brauche ich gar nicht diesen
Versuch zu machen. Haben wir nicht alle die Erfahrung gemacht, dass
aus 18-jährigen Idioten vernünftige 50-Jährige werden können?
.
Hier gekürzt.
Wolfgang Thierse ist Berliner – und Präsident des Deutschen
Bundestags. Als Sprachrohr des Ostens wie als moralische Instanz
gleichermaßen wird der 57-jährige Sozialdemokrat in der Regierung
geschätzt. Trotzdem haben seine offenen Worte gleich mehrfach für
Aufregung gesorgt.
So sprach er das Problem des Rechtsradikalismus im Osten an und
benannte jüngst Missstände in der wirtschaftlichen Entwicklung in
den Neuen Ländern.
Thierse gilt als radikaler Demokrat. Regelmäßig wirbt er bei Schülern
für demokratische Grundwerte. Im Januar diesen Jahres erhielt
Wolfgang Thierse den ersten Ignatz-Bubis-Preis für Verständigung. In
den Bundestag rückte Thierse über einen Listenplatz ein. Das
Direktmandat in seinem Berliner Wahlkreis Mitte/Prenzlauer Berg verlor
er knapp gegen die PDS-Landeschefin Petra Pau.
MIR
Vollständiges Interview in: Zitty
Nr. 4, 2001
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