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"Herrn Fischer geht jede Demut ab"

 

FR-Interview mit der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel über Steinewerfen sowie die Versäumnisse und Verdienste der 68er-Generation

Aus dem Streit um die Vergangenheit der Minister Joschka Fischer und Jürgen Trittin ist eine Debatte um Verfehlungen, Versäumnisse und Verdienste der 68er-Generation geworden. So wie sich nach der Wiedervereinigung westdeutsche Politiker die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit angelegen sein ließen, melden sich nun ostdeutsche zum Thema "Was war damals los in der BRD?" Nichts, was das Werfen von Steinen gerechtfertigt hätte, sagt Angela Merkel. Über Fischer und das 68er-Erbe sprach die CDU-Chefin mit den FR-Korrespondenten Knut Pries und Axel Vornbäumen.

Frankfurter Rundschau: Frau Merkel, Sie haben im Bundestag gesagt, die Bundesrepublik Deutschland sei "seit 1949 ununterbrochen eine freiheitliche, solidarische, weltoffene Republik gewesen, auf die wir stolz sein können". Mit Verlaub - woher wissen Sie das?

Angela Merkel: Mit Verlaub - es ist doch ein perfides Argument, indirekt zu sagen: Die kennt uns ja gar nicht! Sie weiß nicht, was Feminismus ist, was Kernkraft ist und was "68" ist. Ich glaube, dass ich als jemand aus dem anderen Teil Deutschlands, wo die im Westen gesicherten Freiheitswerte nicht galten, die Differenz sehr gut ermessen kann. Auch die Grünen haben heute am Grundgesetz von 1949 wenig auszusetzen. Das ist für mich ein Beleg, dass die Grundfesten dieser Bundesrepublik keiner Sponti-Bewegung, keiner revolutionären Massenerhebung bedurften, um vom Kopf auf die Füße gestellt zu werden. Dieser Staat war zu keiner Zeit so, dass Gewalt legitim gewesen wäre. Das heißt nicht, dass alles immer vollkommen richtig war. Jede Gesellschaft hat auch ihre Defizite und entwickelt sich weiter.

Zum Beispiel eine peinliche Verdrängung der Nazi-Vergangenheit, eine spießige Repression von Homosexuellen, eine ungebrochene Diskriminierung von Frauen.

Diese Wortwahl lehne ich ab. Niemand bestreitet, dass es Verbesserungsnotwendigkeit gegeben hat. Die gibt es doch auch heute immer wieder. Ich will auch nicht die gesamte Generation der 68er - keineswegs alles Gefolgsleute von Joschka Fischer - unter Verdacht stellen. Es geht hier gar nicht um die gesellschaftliche Bewegung der späten 60er, die auch mit technischen Entwicklungen wie der Anti-Baby-Pille zu tun hatte und nichts spezifisch Deutsches war. Damals haben viele ihre Möglichkeiten im Rahmen des Demonstrationsrechts genutzt, um Veränderungen herbeizuführen. Das ist das Recht jedes Einzelnen in einer Demokratie, und ihnen gebührt durchaus Respekt. Aber es gab halt Leute mit einer elitären, vermeintlichen Moral, die meinten, das reicht nicht - da setzt meine Kritik an.

Hätte es die Weltoffenheit der Bundesrepublik vor 30 Jahren zugelassen, dass eine Frau eine große Volkspartei führt?

Weltoffen heißt für mich, mit seinen Nachbarn vernünftig auszukommen und Toleranz gegenüber anderen Kulturen zu haben. Weltoffen heißt doch nicht, dass eine Frau an der Spitze einer Partei stehen muss. Die rechtliche Möglichkeit dazu war im Übrigen gegeben. Aber es stimmt: Damals war die Gleichberechtigung noch nicht so weit entwickelt - schon gar nicht in Joschka Fischers Kreisen.

Alles in allem - würden Sie einräumen, dass der breit angelegte Vorstoß von "68", die Gesellschaft im antiautoritären Geist auszulüften, legitim war?

Wenn Menschen in größerem Umfang an einer Gesellschaft etwas auszusetzen haben, dann ist es Aufgabe der Politik, über die Motive nachzudenken. Ich habe keinen Anlass zu zweifeln, dass eine große Zahl der Demonstranten von damals ihre eigenen Gründe hatte, auf die Straße zu gehen. Das ist zu unterscheiden von Personen, die diesen Staat zerstören wollten - im Übrigen zum Teil unter Berufung auf Theorien, die mein Leben in der DDR 35 Jahre lang bestimmt haben.

Ist die von Wolfgang Thierse angesprochene "Debatte um die Brüche der alten Bundesrepublik" nötig, oder ist sie überflüssig?

Die Debatte wurde im Wesentlichen ausgelöst von der Tochter von Ulrike Meinhof. Und gespeist aus der damaligen Szene. Das ist insofern ein Kinder-Eltern-Konflikt, für den Herr Fischer viel Verständnis haben müsste. Ich persönlich halte eine solche Vergangenheitsdebatte für überflüssig, zumal sie eine reine Westdebatte bleibt und die DDR-Zeiten völlig übersieht. Mir geht es darum festzuhalten, dass jegliche Form von Gewalt nicht zu rechtfertigen ist. Rezzo Schlauch hat sich im Bundestag hingestellt und sinngemäß gesagt: Uns ist nicht in die Wiege gelegt worden, mit Steinen zu schmeißen, es waren die Umstände und der Staat. Das ist eine überaus gefährliche Argumentation, die nach meinem Eindruck auch bei Fischer eine Rolle spielt: Man ist der Meinung, man hätte in einer besonderen Situation gelebt, die auch besondere Mittel rechtfertigte.

Schlauch und Fischer sagen doch nicht: Weil die Umstände so waren, war Steinewerfen in Ordnung. Sie sagen: Steinewerfen war nicht in Ordnung, hatte aber mit den Umständen zu tun.

Nach meiner Auffassung können die Umstände nicht heran gezogen werden. Die meisten haben keine Gewalt angewendet - das war eine kleine, 1976 eine verschwindend kleine Minderheit. Es ist bedauerlich, dass unser Außenminister zu den letzten gehörte, die das eingesehen haben. Ich darf doch von diesen Leuten erwarten, dass sie sagen: Jawohl, wir waren die Allerletzten, die begriffen haben, dass es so nicht geht. Stattdessen wird immer noch die Schuld bei den anderen gesucht. 1994-97, während der Proteste gegen die Castor-Transporte, hätte Fischer jeden Tag Anlass gehabt, zu seinen Freunden zu sagen: Ihr habt das Recht zu demonstrieren, aber ihr habt kein Recht, Gewalt anzuwenden. Es führt in die Irre. "Gewalt gegen Sachen" war aber bei den Grünen auch in den 90er Jahren nicht explizit verpönt. Fischer hat der Gewalt abgeschworen, weil er eingesehen hat: So kommt er nicht an die Macht - nachdem er alles andere ausprobiert hatte. Ob ein solcher Mensch prädestiniert ist, diese Demokratie weiterzuentwickeln - da muss man ein Fragezeichen setzen. Zur Gewaltfreiheit - und das noch mit Hintertür - bei Castor-Transporten haben sie erst jetzt auf unseren Druck hin aufgerufen.

Sie sagen, Fischer hat bis heute keine grundsätzliche Einsicht in die Untauglichkeit des Mittels Gewalt?

Er hätte zwischen 1977 und 2000 längst bei den Grünen einen klaren Unvereinbarkeitsbeschluss gegen jede Art von Gewalt herbeiführen müssen.

Die Grüne Antje Vollmer hat im Bundestag von einem "Kulturkampf" gesprochen, der jetzt ausgebrochen sei. Haben Sie als Ostdeutsche etwas Besonderes zu dieser Debatte beizutragen?

Zum Beispiel die Frage, worin der von Antje Vollmer reklamierte Beitrag der 68er zur Wiedervereinigung bestehen soll.

Vielleicht haben sie die Bundesrepublik attraktiver gemacht?

Sie war schon 1961 so attraktiv, dass die DDR die Abwanderung ihrer Bürger mit einem "antifaschistischen Schutzwall" stoppen musste. Ansonsten erlaube ich mir erstens, zu dieser Debatte die Erfahrung eines Lebens in Abwesenheit von Freiheit beizutragen - Herr Fischer weiß wohl kaum, wie das ist. Zweitens hatte ich Gelegenheit, den geistigen Überbau der Revolutionäre von damals in seiner real funktionierenden Form in der DDR zu erleben. Deshalb maße ich mir ein Urteil an.

Was ist denn mit Ihrem Verständnis für Biografien, die nicht gradlinig verlaufen sind?

Mein Vorwurf an Fischer ist nicht, dass er sich verändert hat, sondern dass er immer noch seine Vergangenheit glorifiziert. Stattdessen bekennt er nur unter Druck und nur scheibchenweise, wie nahe er der terroristischen Szene damals war.

Der Bundestagspräsident geht in seinem Verständnis so weit, auch geläuterte Skinheads für ministrabel zu halten.

Wenn jetzt der Eindruck entsteht, je verrückter ich heute bin, desto größer meine Chancen, Karriere zu machen, halte ich das für ein fatales Signal an alle, die ihre Ziele friedlich verfolgen. Ich gestehe jedem Rechtsradikalen den Wandel zu. Ich hoffe sogar darauf. Aber es ist doch absurd, wenn Thierse sagt, Rechtsradikale können auch bald Minister werden. Wo kommen wir denn hin? Am Ende sollen die, die zwischen 68 und 80 groß geworden sind und keine Steine geworfen haben, mangels exemplarischer Biografie nicht mehr befähigt sein, das Land zu führen!

Die These, wonach es vernünftig war, damals für mehr Freiheit und Demokratie auf die Straße zu gehen, ist doch keine nachträgliche Lizenz für allen Schwachsinn, der in dem Zusammenhang verzapft wurde.

Es war eben auch vernünftig, damals RCDS-Vorsitzender zu sein. Es gab damals sehr unterschiedliche Motive, sich zu engagieren, und wir haben kein Recht, die einen als "Weicheier" darzustellen..

Wolf Biermann fordert in Sachen Fischer eine Leitkultur, die "einen Politiker, der solchen Mut bewiesen hat, skeptisch kontrolliert, lachend ermutigt und als Menschen achtet".

Bei der skeptischen Kontrolle sind wir ja gerade. Die lachende Ermutigung von Herrn Fischer muss ich Herrn Biermann überlassen - dieser Part ist von mir nicht zu erwarten. Und: Ich achte jeden Menschen, aber Herr Fischer beharrt in enormer Arroganz auf dem Geltungsanspruch seiner eigenen Meinung. Herrn Fischer geht jede Demut ab.

Viele teilen die Zweifel an Fischers Vergangenheit. Die große Mehrheit der Deutschen scheint aber mit dem Erbe von 68 einverstanden zu sein. Welcher Teufel hat die Union geritten, sich mit denen anzulegen?

Umgekehrt: Rezzo Schlauch hat versucht, die 68er für Herrn Fischer in Anspruch zu nehmen. Wir haben den Versuch unternommen, das Bild der Republik unter Willy Brandt etwas differenzierter zu zeichnen. Und dann erklärt Gerhard Schröder, die CDU dürfe sich nicht auf Willy Brandt berufen! Das zeigt Hilflosigkeit. Aber mich interessiert weniger das Bild, das die 68er von ihrer Zeit malen, als der Umgang mit der Gewalt, die wir heute haben. Und da fehlt mir einfach die Aussage, dass Gewalt zu keiner Zeit gerechtfertigt ist und dass diese Zeit sich in diesem Zusammenhang nicht von anderen und zukünftigen Zeiten unterscheidet.

Gibt es keinen Unterschied zwischen einem Neo-Nazi, der aus a priori niederen Gründen einen vermeintlich Minderwertigen zusammenschlägt, und jemandem, der beim Kampf für mehr Gerechtigkeit die Linie zur Selbstjustiz überschritten hat?

Stalin hat im Namen der Gerechtigkeit Millionen umgebracht. Und manche haben Menschen als Vertreter von Institutionen entpersonalisiert und zur Gewaltanwendung freigegeben. Das war genauso menschenverachtend wie die Haltung eines Hooligans. Ich lehne diese Unterscheidung ab.

Die CDU hegt den Argwohn, Fischer sei heimlich stolz auf seine Vergangenheit. Andererseits plagt etwa Herrn Merz die Sorge, das eigene Vorleben sei zu bieder ausgefallen. Wie steht es bei Angela Merkel - eher bange, als junge Frau mal aus der Zone politischer Korrektheit gerutscht zu sein, oder Angst vor der Enttarnung als ewig braves Lieschen?

Ich war, wie ich war. Noch einmal, es geht nicht um die spannendste Biografie, sondern um Ablehnung oder Befürwortung von Gewalt. Keinen Millimeter Rechtfertigung lasse ich da zu.

 FR vom 24.1.2001