Aus:
Wolfgang Lenk, Mechthild Rumpf, Lutz Hieber (Hrsg.),
Kritische Theorie und politischer Eingriff. Oskar Negt zum 65.
Geburtstag, Hannover 1999 (Offizin-Verlag)
Klaus Meschkat
Krieg in den Köpfen:
Vietnam und Kosovo1
Der Krieg in
Jugoslawien hat auch hierzulande vieles verändert. Mühsam
erworbene Einsichten und Überzeugungen sind über Nacht
preisgegeben worden, verläßlich geglaubte Mitstreiter wurden
zu politischen Gegnern2. Damit
erscheinen auch Schlüsselereignisse der Vergangenheit und
deren Protagonisten in einem anderen Licht. In der Wahrnehmung
der tonangebenden Öffentlichkeit sind es
"Achtundsechziger", die Deutschland in diesen Krieg
hineingeführt und seine Fortsetzung verteidigt haben. Die
Stimmen der anderen 68er waren nur schwach zu hören, selbst
die von Oskar Negt, der sich an der Seite von
Gesinnungsfreunden mit leisen Tönen gegen die NATO-Aktion
ausgesprochen hat, nachzulesen in einer leider nicht sehr
auflagenstarken Wochenzeitung3.
Dabei sind es gar nicht so wenige, die das militärische
Eingreifen der NATO abgelehnt haben, unter den Mit- und
Vordenkern der einstigen Studentenrevolte dürfte es eine
Mehrheit sein. Internet-Surfer und Stammhörer
eigenwilliger Rundfunkprogramme4
konnten scharfsinnige Analysen, Bekenntnisse und kluge
Kommentare dokumentiert finden, von Elmar Altvater und Günter
Amendt zu Ekkehart Krippendorff, aber Sprecher
einer großen Protestbewegung sind diese Aufrechten nicht
geworden. Es blieb nicht zufällig bei Artikeln, offenen
Briefen und Diskussionen in kleinen Kreisen: Wer mochte schon
auf öffentlichen Kundgebungen die NATO-Bombardements
verurteilen, wenn damit zu rechnen war, von Mit-Demonstranten
flankiert zu werden, die auf ihren Plakaten Milosevic als
antiimperialistischen Helden feierten.
Enttäuscht und
zornig über gewendete Ex-68er, hat Oskar Negt vor
einigen Jahren den Opportunismus als eigentliche
Geisteskrankheit der Intellektuellen bezeichnet5.
Damals konnte er noch nicht vorausahnen, daß die Anpassung an
die Terminologie und Denkweise des politischen Gegners binnen
kurzem zu der Bereitschaft führen könnte, völkerrechtswidrige
Militäroperationen zu befürworten oder sogar aktiv
mitzutragen. Bekennende Realpolitiker wie Joschka Fischer
tragen direkte Verantwortung dafür, daß die
NATO-Kriegsmaschine in Gang gesetzt werden konnte6.
Hier soll nicht ein weiterer Versuch unternommen werden,
spektakuläre geistige Wendemanöver einstiger Mitstreiter zu
erklären. Wichtiger scheint die Frage: Weshalb werden nicht
alle von dem übermächtigen Sog erfaßt, sich den
vermeintlichen Siegern im Kalten Krieg anzuschließen? Woraus
erwächst eigentlich die Kraft, gegen den Strom zu schwimmen?
Und worauf gründet sich der Optimismus, daß nicht allen demnächst
die Nashörner zu wachsen beginnen?
Die Haltung zum
Krieg in Jugoslawien ergibt sich gewiß nicht in erster Linie
aus dem Expertenwissen von Balkanforschern: Das Ja oder
Nein zu den NATO-Bomben folgt aus keiner noch so gründlichen
Analyse ethnischer Konflikte in einer bestimmten Region, der
Mechanismen ihrer Instrumentalisierung und kriminellen Verschärfung.
Keine Barbarei der Milosevic-Clique und ihrer
Handlanger, kein Leid der Opfer kann begründen, warum jemand
an der Seite derer in den Krieg zieht, die selbst ungesühnt
vergleichbare Verbrechen begünstigt oder begangen haben oder,
wie im Falle der Türkei, gegenwärtig begehen. Und die
Geschichte der großen Menschenrechtsverletzungen nach dem
Sieg über den Faschismus beginnt nicht damit, daß ein
kommunistischer Parteiführer vor zehn Jahren seine politische
Fortexistenz vom Aufheizen chauvinistischer Stimmungen und der
Einleitung einer verbrecherischen Vertreibungspolitik abhängig
gemacht hat.
Erinnerung, die uns zu eigenständigem Urteil befähigt, muß
weiter zurückreichen, wenigstens bis zu den Anfängen der
eigenen Wahrnehmung politischer Konflikte, die uns wie anderen
Zeitgenossen Entscheidungen abverlangt haben. Zu Beginn seines
wichtigen Buches über Achtundsechzig insistiert Oskar Negt
darauf, daß es ohne Gedächtnis kein widerständiges Denken
geben kann. Er rekonstruiert vielfältige Traditionsstränge
und folgenreiche Kämpfe, läßt aber bei der Vorgeschichte
der Studentenrevolte einen Lernprozeß unterbelichtet, ohne
den die Herausbildung einer unabhängigen Position des Sozialistischen
Deutschen Studentenbundes (SDS) schwer zu verstehen ist:
Das Begreifen weltweiter Zusammenhänge von Unterdrückung und
Ausbeutung führte zur Abkehr von den Frontstellungen des
Kalten Krieges und zu einer immer bewußteren Weigerung, für
"Ost" oder "West", für das
"Weltfriedenslager" oder für die "Freie
Welt" Partei zu ergreifen.
Gewiß hatte solche
Befreiung von den Denkschablonen des Kalten Krieges
theoretische Voraussetzungen und Grundlagen. Dabei hat die
Anlehnung an die großen Meister und die unentbehrlichen
Vermittler der Kritischen Theorie in Frankfurt,
Westberlin und anderswo eine überragende Rolle gespielt, auch
bei der Rückwendung zu Marx. Doch in den Grabenkämpfen
des Kalten Krieges waren die verehrten Lehrer nicht immer
hilfreich bei der Suche nach Eigenständigkeit, oft selbst
befangen in Vorurteilen, die sich von denen ihrer unaufgeklärten
Zeitgenossen gar nicht so sehr unterschieden7.
Ein wesentliches Motiv war zweifellos die Dankbarkeit gegenüber
einem Land, in dem die vom Faschismus Vertriebenen Zuflucht
und manchmal auch Wirkungsmöglichkeiten gefunden hatten, aus
dem die Emigranten schließlich zurückkehren konnten, wenn
sie wollten - im Gegensatz zu jenen anderen, die in der
sowjetischen Emigration wieder zu Verfolgten geworden und dem
Stalinschen Terror zum Opfer gefallen waren. Den Jüngeren
stand es kaum zu, solche Dankbarkeit zu kritisieren, die
zuweilen zu einer blinden Verteidigung der Politik der
jeweiligen amerikanischen Regierung führte - aber sie selbst
mußten eigene und andere Wege gehen.
Die Weigerung,
sich in die polarisierte Landschaft des Kalten Krieges einzufügen,
hatte nichts mit abgeklärter Neutralität zu tun. Vielmehr
war sie das Ergebnis einer radikalen, also an die Wurzeln
gehenden Kritik beider Lager. Gegen solche Zumutung einer
eigenständigen Linken bemühten die Apologeten des Ostblocks
die Figur des "real existierenden Sozialismus": Die
Kritiker könnten ja nicht zeigen, wie ihr Sozialismus
aussehen würde, weil er im Gegensatz zu dem in der
Sowjetunion oder in der DDR verkörperten nur in ihrer
Phantasie existiere. Die Verkünder der Botschaft der
"Freien Welt" wiesen die unabhängen Sozialisten
nachdrücklich und manchmal höhnisch darauf hin, daß sie
ohne den Schutz westlicher Waffen gar nicht weiter dem Geschäft
der Kritik nachgehen könnten8.
Die
Auseinandersetzung mit dem Stalinismus und den
Entwicklungstendenzen im Ostblock hatte in der theoretischen
Arbeit der sozialistischer Studenten der 50er und 60er Jahre
immer hohe Priorität - ein Blick in die SDS-Zeitschriften
straft diejenigen Lügen, die den antiautoritären Sozialisten
nachträglich Hörigkeit gegenüber Moskau oder Ostberlin
andichten9. Freilich war
Arbeiter- oder Rätedemokratie der Maßstab für radikale
Kritik, und dies bedeutete auch Distanz zum offiziellen
Antikommunismus jener Jahre, der der Sowjetunion und ihren
Satelliten die Beseitigung der Privilegien der Besitzenden übelnahm
und oft sogar an die Bolschewistenhetze der Nazis anknüpfte.
Wegweiser für eine eigenständige Beschäftigung mit dem
sowjetischen Herrschaftssystem war Herbert Marcuses
"Soviet Marxism": auf dieser Grundlage hat auch Oskar
Negt den sowjetischen Marxismus als
Legitimationswissenschaft von Parteiherrschaft kritisiert10
Mit einer
Distanzierung von der Hauptmacht der "Freien Welt"
war es schwieriger: Jedenfalls kam nicht in Frage, das
Zerrbild Amerikas aus der Progaganda des Ostens umstandslos zu
übernehmen, auch hier mußte Kritik auf eine andere Grundlage
gestellt werden. Hatte sich die Sowjetunion an Begriffen einer
unverstellten Marxschen Theorie messen zu lassen, so die USA
an den selbstproklamierten Idealen von Demokratie und
Selbstbestimmung. Antifaschistische Emigranten hatten ja anfänglich
die Grundzüge einer "reeducation" bestimmt, die den
durch die Naziherrschaft deformierten Deutschen neue
Orientierungsmöglichkeiten bieten sollten11.
Auch Gewerkschafter und prominente Sozialdemokraten empfingen
Gelder aus Quellen des amerikanischen Geheimdienstes, um die
Demokratie gegen den Kommunismus zu stärken - noch zu einem
Zeitpunkt, als diese Demokratie in den Vereinigten Staaten der
McCarthy-Ära durch Gesinnungsschnüffelei und
existenzbedrohende Verfolgung unabhängiger Intellektueller
schwer beschädigt war. Damals ließ der Kongreß für die
Freiheit der Kultur, nach heutigem Wissen ebenfalls aus
CIA-Mitteln gefördert, in seinen Veranstaltungen und
Publikationen bedeutende Schriftsteller und Wissenschaftler zu
Worte kommen, die sich vom Kommunismus abgewandt hatten: Ihre
Kritik am Stalinismus wurde notwendiger Bestandteil der
Ideenwelt einer aufgeklärten Linken.
Die US-amerikanische
Kulturoffensive im Zeichen des Kalten Krieges war zweifellos
wirksamer und attraktiver als ihr sowjetischer Gegenpart, die
in den Amerikahäusern verteilten Hochglanzbroschüren fanden
jedenfalls mehr Anklang als die übliche kommunistische
Parteipropaganda. Wer sich allerdings damals über das
Weltgeschehen wirklich informieren wollte, dem standen in
Deutschland wenig glaubwürdige Nachrichtenquellen zur Verfügung.
Es war die mühselige Lektüre der internationalen, gerade
auch der amerikanischen Presse, die verborgene Motive und
Absichten westlicher Politik erkennen ließ, angefangen mit
einer differenzierteren Einschätzung der Hintergründe des
Korea-Krieges. Kleine, fast esoterische Informationsdienste
wie I.F. Stone's Weekly brachten die unterdrückten
Nachrichten, aus denen langsam ein anderes Bild der
polarisierten Welt entstand. Entkolonisierungsprozesse kamen
in den Blick, die Befreiungsbewegungen gegen westliche
Kolonialherrschaft, der französische Algerienkrieg, die Lage
in der Kolonien des NATO-Partners Portugal. Aber auch das
selbstherrliche Schalten und Walten der USA in ihrem
lateinamerikanischen Hinterhof: ihre Rolle beim bewaffneten
Sturz einer progressiven Regierung in Guatemala 1954 als einer
der Höhepunkte einer Kette von Interventionen12
und die fortlaufende aktive Unterstützung zahlreicher
Diktaturen auf dem Subkontinent.
Erst aus der Nähe
zu diesem Land entstand aber eine eigenständige Kritik an der
offiziellen Politik der Vereinigten Staaten, genauer gesagt,
aus der Solidarität mit jenen aufrechten Amerikanern, die die
von ihrer Regierung begangenen Kriegsverbrechen in Vietnam
nicht hinnehmen wollten und dagegen aufstanden. Um der
Wahrheit die Ehre zu geben: das enge Verhältnis zu diesen
amerikanischen Freunden und Mitstreitern lag zeitlich früher
und war für den deutschen SDS weit bedeutsamer als die eher
sporadischen und arbeitsteilig wahrgenommenen Kontakte zu Repräsentanten
von Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Deshalb ist
es absurd, den Kritikern US-amerikanischer Kriegspolitik
"Antiamerikanismus" vorzuwerfen, wie dies von
bestimmter Seite anläßlich des Golfkriegs von 1991 geschehen
ist und heute wieder geschieht13.
In der Gegnerschaft gegen die amerikanische Kriegsmaschine14
bestand Übereinstimmung mit der breiten Antikriegsbewegung in
den Vereinigten Staaten, deren Widerstand schließlich zum
Ende der Vietnam-Intervention führte, und die Kenntnisse über
die US-Politik in der Dritten Welt stammten in erster Linie
von amerikanischen Freunden, die den Imperialismus ihres
Landes zu erforschen begannen15.
Läßt sich eine Brücke
schlagen von dieser Art transatlantischer Solidarität einer
unabhängigen Linken in den 60er Jahren zu einer Bewertung des
heutigen Krieges im Jugoslawien? Die Parallele zum
Vietnamkrieg hat bei den Auseinandersetzungen in
Deutschland keine sehr große Rolle gespielt, mit Ausnahme von
Erörterungen der Gefahren einer möglichen Eskalation vom
Luft- zum Bodenkrieg. Gewiß darf man die Ziele der
Kriegshandlungen nicht einfach gleichsetzen: damals sollte
eine Befreiungsbewegung getroffen werden, die wegen des Rückhalts
in der eigenen Bevölkerung nur durch die Zerstörung des
ganzen Landes hätte besiegt werden können16,
heute ein allerdings aus Wahlen hervorgegangenes Regime, das
seinerseits gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung einen
rassistisch motivierten Vertreibungsfeldzug inszeniert hat17.
Aber die
Kriegsmaschine, die vorgeblich zum Schutz der Opfer massiver
Menschenrechtsverletzungen in Bewegung gesetzt wurde, ist im
Kern dieselbe geblieben. Auch diejenigen, die sich gern
großspurig auf eine von ihren mitrepräsentierte
internationale Staatengemeinschaft berufen18,
geben bei der entschuldigenden Darstellung ihres beschränkten
Handlungsspielraums kleinlaut zum besten, daß sie wenig tun können,
weil letztlich die USA die Bedingungen und Modalitäten des
militärischen Einsatzes bestimmen19.
Deshalb muß wohl daran erinnert werden, daß eben dieser
Apparat, der heute bedrohte Menschen verteidigen soll, vor
dreißig Jahren Strategien verfolgte, die mit schlimmsten
Menschenrechtsverletzungen verbunden waren. Einige untere
Chargen sind wegen des My-Lai-Massakers vor Gericht gestellt
worden: Den hauptverantwortlichen zivilen und militärischen
Befehlshabern hat wegen ihrer barbarischen Kriegsführung in
Vietnam kein nationaler oder internationaler Gerichtshof den
Prozess gemacht.
Vielleicht löst
wegen dieser unbewältigten Vergangenheit gerade in den USA
der Kosovo-Krieg Erinnerungen an das Vietnam-Desaster aus.
Dort ist es sicher auch schwerer als hierzulande, diese
schmachvolle Episode (die immerhin ein Jahrzehnt dauerte)
einfach zu überspringen und gleich auf die glorreiche Rolle
der USA bei der Niederwerfung des deutschen Faschismus zu
sprechen zu kommen. Nicht zufällig meldet sich zu Kosovo auch
ein reuiger Täter zu Wort, den der Gedanke quält, daß die
Geschichte sich wiederholen könnte. Robert McNamara,
einst amerikanischer Verteidigungsminister unter Kennedy und
Johnson, hat die Ahnung, daß man aus der Erfahrung
Vietnams nichts gelernt haben könnte. Er möchte wenigstens,
daß neue Fehler sorgfältig dokumentiert und begleitend
erforscht werden: Seine eigene Aufarbeitung der
Vietnam-Konfrontation in einem aufwendigen vierjährigen
Forschungsprojekt zur Ermittlung verpaßter Gelegenheiten hat
ergeben, daß beide Seiten irrige Vorstellungen über die
Absichten und den Handlungsspielraum des Gegners hatten. McNamara
bestreitet allerdings eine Automatik der Eskalation:
gerade die Interviews mit nordvietnamesischen Führer hätten
gezeigt, daß zu vielen Zeitpunkten ein Ausstieg aus dem Krieg
möglich gewesen sei20.
Die Erinnerung an
den Vietnam-Krieg ist auch der Ausgangspunkt für eine
hierzulande wenig bekannten Appell von Tom Hayden an Präsident
Clinton. Tom Hayden war Mitte der sechziger
Jahre einer der bekannten Führer der Opposition gegen den
Vietnam-Krieg. Am 9. April 1999 schrieb er als Senator des
Staates Kalifornien einen offenen Brief an Clinton mit
der Aufforderung, den Krieg im Kosovo sofort zu beenden. Er
erinnert daran, daß herzzerreißende Bilder von Flüchtlingen
in Vietnam schon in den 50er Jahren als Rechtfertigungsgrund für
amerikanische Intervention dienten. "Aber die
US/NATO-Politik vertieft diese Flüchtlingskrise und schafft
die Basis für eine Intervention von Bodentruppen, geradeso
wie es bei dem eskalierenden Engagement in Vietnam
geschah"21. In einem
nachfolgenden Artikel für die Zeitschrift "The
Nation" konstatiert er weitere Parallelen zur
Vietnam-Kriegsführung, so die schrittweise Einführung zunächst
nicht akzeptabel erscheinender Waffen wie Splitterbomben. Er
wendet sich gegen die "Torheit der Liberalen" in der
Demokratischen Partei, deren Traum von einem Krieg für
Menschenrechte in den Alptraum menschlicher Verzweiflung einmünde22.
Statt Kooperation
mit solchen Sprechern einer gewiß schwachen amerikanischen
Antikriegsbewegung zu suchen23,
demonstrierten die rotgrünen Realpolitiker aus der 68er
Generation "Verläßlichkeit" gegenüber der
US-Regierung und ihrem Militärapparat24.
Das andere Amerika existiert für die Kriegsbefürworter nicht
mehr, dagegen gibt es immer noch eine Art langdauernder Schuld
gegenüber den USA, den offiziellen, versteht sich25.
Weil die Bundesrepublik ihre Existenz letztlich dem
amerikanischen Einsatz im 2.Weltkrieg verdanke, sei jetzt
bedingungslose Solidarität mit der westlichen Welt angezeigt,
und die werde erst glaubwürdig durch die Beteiligung
deutscher Kampftruppen an den NATO-Operationen. Wer dies mit
Hinweis auf die Wehrmachtsverbrechen in Jugoslawien während
des 2. Weltkriegs ablehne, habe nicht die richtigen Lehren aus
der deutschen Geschichte gezogen. Es läßt sich nicht
umgehen: Erst neue deutsche Bomben auf Belgrad sind die wahre
Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit.
Dabei geht es um
viel mehr als um die zeitweise Außerkraftsetzung eines
bislang von allen Antifaschisten respektierten Tabus
("nie wieder deutsche Truppen in Serbien") mit
Hinweis auf die Extremsituation unmenschlicher Vertreibung im
Kosovo und zuvor in Bosnien. Das eigentliche Ziel ist die
Erzeugung einer dauerhaften Loyalität gegenüber westlicher
Kriegs- und Interventionspolitik, zu der sich die NATO
seit ihrem letzten Treffen programmatisch bekennt, und dafür
reicht es sicher nicht aus, dubiose Fotos von Greueltaten des
jeweils letzten internationalen Schurken in die Höhe zu
halten. Was die 68er Bewegung vor dreißig Jahren erreicht
hatte, die Befreiung von den Denkschablonen des Kalten
Krieges, muß prinzipiell wieder rückgängig gemacht werden,
und schon finden sich Ideologen, die dies ins Werk setzen26.
Eine Rückkehr in
die Geisterwelt des Kalten Krieges ist nicht so einfach, weil
nur einer der beiden unversöhnlichen Kontrahenten übriggeblieben
ist. Das Reich des Bösen, dessen satanische Fratze in einem
nicht ganz seriösen Schwarzbuch noch einmal publikumswirksam
ausgemalt worden ist, existiert nicht mehr. Da hilft nur die
Unterstellung, daß es insgeheim seine Fortsetzung findet im
Wirken früherer Spitzenkader kommunistischer Parteien, die
heute Länder des früheren Ostblocks regieren27.
Wenn der widerwärtige Nationalismus von Milosovic als
Erbe oder Nachklang des verschwundenen
"Realsozialismus" hingestellt wird, so hat das
allerdings kaum etwas mit der Geschichte von Tito-Jugoslawien
zu tun. Der Hinweis, daß die Milosevic-Führung 1991 für
diejenigen Partei nahm, die den Erhalt der Sowjetunion
erzwingen wollten, mag da bei der Konstruktion einer fiktiven
Kontinuität helfen28.
Wer nun einem
solcherart aktualisierten Reich des Bösen eine lichte Welt
der westlichen Freiheit entgegenstellen möchte, der kann nur
auf das Vergessen bauen - oder auf ziemlich selektive
Erinnerung. Daß der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums
1989 in der Tat ein Epocheneinschnitt war, erleichtert die
Reduktion der Weltgeschichte auf Freiheitskämpfe in
Osteuropa, auf Budapest 1956 und Prag 1968, auf polnische
Solidarnost und mancherlei Dissidenten in den Ländern des
sowjetischen Imperiums, mit ihren Hoffnungen auf die
freiheitsverheißende Hauptmacht der westlichen Welt29.
Aber es gibt noch
eine andere Nachkriegsgeschichte, zu der allerdings der
Vietnamkrieg gehört. Es ist eine Geschichte völkerrechtswidriger
Interventionen, von Massakern und systematisch organisierter
Folter und Vertreibung, für die die USA oder von ihnen gestützte
Regime verantwortlich sind. An eine halbe Million ermordeter
indonesischer Kommunisten beim CIA-inszenierten Putsch von
1964 erinnert sich kaum noch jemand. "Djakarta"
schrieben die chilenischen Rechtsextremisten an die Wände,
bevor mit Hilfe der USA die Regierung Allende weggeputscht
wurde. Bezeichnend für die Interventionen im
mittelamerikanischen Hinterhof war immer die offene Mißachtung
des Völkerrechts, bei vielen bewaffneten Interventionen,
zuletzt noch bei der Verminung von Häfen in Nicaragua in
einem nichterklärten Krieg gegen die Sandinisten, wegen derer
die USA vom Internationalen Gerichthof verurteilt wurden -
ohne Konsequenzen.
Immerhin hat Präsident
Clinton bei einem Guatemala-Besuch am 11. März 1999
zugegeben, daß die USA in der Vergangenheit Streitkräfte und
Geheimdienstorganisationen unterstützt hätten, die an
extremer Repression beteiligt waren. Guatemala ist das Land
Lateinamerikas, in dem die von den USA unterstützte Kriegführung
reaktionärer Regime gegen die eigene Bevölkerung in den
letzten beiden Jahrzehnten die meisten Opfer gekostet hat -
200 000 Tote und Verschwundene nach dem 1998 vorgelegten
Bericht der Wahrheitskommission. Die Folgen einer von
amerikanischen Beratern mitgestalteten Umsiedlungspolitik
erreichen durchaus die quantitativen Ausmaße der Vorgänge in
Ex-Jugoslawien und weisen auch deren Erscheinungsbild auf:
Zerstörte Dörfer, Massaker, Flüchtlingsströme in die
Nachbarländer. Daß Clinton sich für diese Untaten
entschuldigt, spricht für ihn: Sicher wäre seine Reue glaubwürdiger,
würde sie mit etwas weniger Selbstgerechtigkeit bei der Begründung
humanitärer Militärschläge in anderen Weltteilen
einhergehen.
Der Blick über
Europa hinaus ist unerläßlich, um sich am Ende des
NATO-Kriegs in dieser zerbombten Welt wieder zurechtzufinden.
Es kann dabei gewiß nicht darum gehen, die Perspektive der
Menschenrechtsverteidigung im einstigen kommunistischen
Machtbereich durch den bewährten (und oft mißbrauchten)
Antiimperialismus zu ersetzen - dies wäre ja nur die
Umkehrung des merkwürdigen Ansinnens, endlich auch geistig
ins Reich der westlichen Freiheit zurückzukehren30.
Von Achtundsechzig
ist immerhin die Erinnerung übriggeblieben, daß man sich
weigern kann, mit den stärkeren Batallionen zu marschieren -
oder sich überhaupt in die Logik des Kalten oder heißen
Krieges einbinden zu lassen. Die das noch nicht vergessen
haben, sollten voneinander wissen und zusammenarbeiten, gerade
weil sie im Augenblick schwach sind. Es gibt sie noch, auf
beiden Seiten des Atlantik.
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