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Big Brother - die Fortsetzung von 68? So jedenfalls Rainer Langhans und "Der Spiegel": Abwasch
für die Gruppe
Da ist von übersinnlichen Kräften die
Rede, wo "viele Menschen es einfach schaffen, dass ihre Seele den
Körper verläscht" (Marion, schwäbisch), es wird über
Unaufrichtigkeit im Kollektiv gesprochen - "Es schwärzt ja jeder
jeden an in dem Sinn" (Daniela, fränkisch) - und beim
gemeinsamen Kartoffelschälen das "falsche Spiel" der
anderen entlarvt. Man gammelt auf den roten Sofas herum, labert sich
gegenseitig zu, kuschelt und krabbelt, holt die Gitarre hervor und
veranstaltet total lustige Verkleidungsspektakel. Ab und zu geht
jemand raus und holt ein frisches Bio-Ei aus dem Hühnerstall. Genau so war das in den späten
sechziger und frühen siebziger Jahren, damals, als in der berühmten
Kommune 1 die Geburt der Gruppe zelebriert wurde, das öffentliche
Leben im privaten Kollektiv bis zur ausgehängten Klotür. Alles
Intime war zugleich hoch politisch. Oberstes Gebot: Authentizität. Motto:
Rousseau lebt. Zurück zur wahren Natur des Menschen. Der Originalton der RTL-II-Hymne von
"Big Brother" 30 Jahre später klingt wie ein spätes Echo:
"Zeig mir dein Gesicht, zeig mir, wer du wirklich bist, bleib dir
treu, verstell dich nicht!" So erlebt die Revolte von 1967/68 mit
ihrer Leitkultur von Straßenkampf, Eierwurf und Wohngemeinschaft -
lange Zeit im Ruf schrecklicher ideologischer Vorgestrigkeit - ihre
wundersame Auferstehung ausgerechnet im avanciertesten Medienprojekt
des neuen Jahrtausends. Bei manchen wird selbst die Erinnerung an
Stammheim wach, an RAF und Gruppenvollzug. Auch Harry und Walter, Dani, Ebru und
all die anderen sind, wie die Terroristen im Sicherheitstrakt, ein
Zwangskollektiv unter Kamera-Aufsicht - und am Ende wird abgerechnet.
Mag sein, dass sie nicht wissen, in welch kulturrevolutionären Fußstapfen
sie stehen. Fragen freilich wie die, ob das "narzisstische
Individuum erst gruppenfähig werden muss" und ob die
Kampfparolen "Schlagt das Kapital international" und
"Lest Wilhelm Reich und handelt danach!" in einem
produktiven Verhältnis zueinander stehen, werden die TV-Helden nicht
recht bewegen. Dafür geht es auch bei ihnen stets um
Gefühle, Ängste und Beziehungsstress: "Das sieht mir nach
Nominierungsangst aus." Es geht um Probleme in der Küche und die
good vibrations in der Gruppe, "wo mer auch mal Verandwordung übernehme
muss in dem Sinn". "Big Brother" ist ein
soziologisches Déja vu für all jene, denen noch der Ton von 1968 in
den Ohren klingt: "Was wollt ihr eigentlich verändern in dieser
Gruppe, wenn ich jeden Tag für alle abwaschen muss?" So fragte
etwa Lisbeth Schlotterer erregt, als Rainer Langhans' chronischer
Liebeskummer die Kommune in eine psychoanalytische Laienspielgruppe
verwandelt hatte und damit das eigentliche Ziel, die
"Lebenstriebe gegen die kapitalistische Todesmaschinerie" zu
mobilisieren, in den Hintergrund geriet. Noch heute ist Rainer Langhans, der
seit 25 Jahren in einem Münchner "Klein-Harem" mit fünf
Frauen lebt, von diesem "grausamen Zwangssystem", wie
Ex-SDS-Mitglied und Psychoanalytiker Reimut Reiche es nannte, restlos
begeistert. Der Schwabinger Haremskönig ist ein Fan von "Big
Brother" und braucht, wunderbare Fügung, dazu nicht einmal den
guten alten Psycho-Jargon aufzugeben. In Springers aufgedöpfnertem
Alternativorgan "Die Welt" erklärte er: "Jetzt hast du
diesen Raum, wo du in dich selbst hineinschauen musst, um die Gruppe
von Grund auf neu zu erfinden. Das ist eine utopische Situation."
Gewiss, gewiss, aber womöglich nur ein Stück weit. Man hört schon,
wie Daniela "udopisch" sagt, "in dem Sinn". Recht eigentlich aber ist "Big
Brother" der zentrale Topos aus George Orwells Horrorvision
"1984" einer totalitären Gesellschaft, in der die
individuelle Freiheit im Scheinwerferlicht allgegenwärtiger Überwachung
auf das Ausmaß einer Streicholzschachtel schrumpft. Eher eine
negative Utopie also, in dem Sinn. Doch Langhans wäre nicht der
Geschichtsoptimist Marcuseschen Zuschnitts, wenn er nicht auch das
Internet als "Simulation des 68er-Gefühls" dechiffrierte -
im Sinne "eines globalen, nicht technologisch vermittelten
gemeinsamen Gefühls, das letztlich Liebe ist". "Großer Bruder, du bist immer
da", sangen schon die Helden der ersten "Big
Brother"-Staffel Zlatko und Jürgen, die 5-Minuten-Terrinen Andy
Warholscher Blitzberühmtheit, und wendeten damit gleichsam
dialektisch alten Horror in neue Vision von Liebe und Verständnis. All
you need is love. Sicher. Aber Geschichte wiederholt sich
nicht. Nicht mal im Container einer holländischen Fernsehfirma namens
Endemol. Auch nicht als Farce, wie Karl Marx meinte. Nicht in der
Kokaingesellschaft. Hier gilt: Wer Geschichte nachmacht
oder nachzumachen versucht oder auch nur Teile von ihr kopiert
und/oder variiert, wird mit gähnender Langeweile nicht unter 100
Tagen bestraft. Da hilft kein Schwätzen und kein Kuscheln. In dem
Sinn. Zurück zur Leitkultur. REINHARD
MOHR |