Vizepräsident
Dr. Hermann Otto Solms: Als nächste Rednerin hat die
Kollegin Antje Vollmer von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Merkel, lieber Herr
Merz, ich glaube, wenn es um Auseinandersetzungen mit Joschka
Fischer geht, kann ich es fast mit jedem in diesem Saal
aufnehmen.
(Hans-Werner Bertl [SPD]: Die nicht!)
Wir haben immer um Sachverhalte und Einschätzungen
gestritten. Wir haben auch oft um politische Positionen
gestritten. Im Übrigen ist die Auseinan dersetzung um die
Militanz bei den 68ern eine ungeschriebene Geschichte. Aber
gerade weil ich weiß, dass vieles auch über 68 zu diskutieren
ist, frage ich mich zunehmend irritiert, worum es jetzt hier
geht.
Es geht nicht um die Professionalität des Außenminis-ters,
nicht um Ver sagen im Amt, nicht um Missbrauch im Amt und auch
nicht um Untaten, die nicht bekannt wären. Es geht auch nicht
nur um 68. Vielmehr geht es um einen hochmoralisch aufgeladenen
Kulturkampf. Deswegen erinnert mich in dieser Diskussion, obwohl
es um ganz andere Sujets geht, vieles an die Clin ton-Debatte in
den USA.
(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
– Genau daran erinnert es mich.
Es scheint eine Generationendebatte zu sein, aber im Kern ist
es eine Auseinandersetzung um das, was Politik ist und was
Politiker sind. Da sage ich: Vorsicht vor Pharisäertum,
Vorsicht vor Puritanismus!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie
bei Abgeordneten der PDS)
Politiker haben Politik zu betreiben und die Kirchen sind für
die Moral zu ständig. Das ist ein feiner und sehr wichtiger
Unterschied.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wehe, wenn wir nur Politiker nach dem Bild puritanischer und
pharisäischer Debatten bekommen. Wir hätten in diesem Land
keinen Theodor Heuss, keinen Herbert Wehner und keinen Willy
Brandt gehabt. Wir hätten übrigens auch Franz Josef Strauß
nicht länger als ein paar Monate gehabt. Das müssen Sie sich
ganz ge nau überlegen.
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber alle haben keine Steine
geworfen!)
Nun will ich auch etwas zu 68 sagen. 68 ist ein Mythos. Ich
finde, es ist sehr wichtig und interessant, über diesen Mythos
zu reden, und zwar nicht nur über seine heroische, sondern auch
über seine belastende Seite. 68 war für die damals politisch
Verantwortlichen – das gehört zur Tragödie dieses Landes –
tatsächlich ein unglaublicher Schock. Dieser Schock hielt noch
länger an: 68 ist eine Bleilast für die Generationen, die nach
uns gekommen sind; das weiß ich wohl. Deswegen ist es
vielleicht wichtig, 68 ein kleines bisschen vom Sockel zu heben.
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr richtig!)
Allerdings: Nicht zu begreifen, was 68 war, und kein
Interesse dafür zu ent wickeln, ist bodenlos naiv, und zwar
naiver, als Politiker sein dürfen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der
PDS)
Wenn ich in diesem Land etwas hasse, dann sind das zu späte
Siege, die gefeiert werden, wenn die Kämpfe sehr billig werden.
Auch in diesem Punkt gibt es eine unselige Tradition.
(Zustimmung beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der PDS)
Sie sollten sich die damaligen Gegner zum Vorbild nehmen. Zum
Bei spiel hat Herr Boenisch, der sich 68 wirklich fürchten
musste, in der "Bild"-Zeitung mit großem Respekt von
diesen Auseinandersetzungen gesprochen und gesagt, sie hätten
auch ihn verändert. Horst Herold
– Claudia Roth hat das Zitat gebracht – war es, der gefragt
hat, ob Ulrike Meinhof nicht unter anderen Umständen hätte
Gesundheitspolitikerin werden können. Horst Herold war einer,
der damals um sein Leben fürchten musste.
Ich möchte Hans-Jochen Vogel – damals auch ein Gegner –
zitieren. Er hat Folgendes gesagt – ich bitte Sie, die Tonlage
dieses Zitates zur Kenntnis zu nehmen und vielleicht ein
bisschen in Ihre Herzen aufzunehmen –:
Was bedeutet die Causa Fischer für unsere Demokratie und
unser Gemeinwesen insgesamt? Stärkt er oder schwächt er sie?
– Das ist doch die entscheidende Frage. –
Ich meine, er stellt beiden ein gutes Zeugnis aus und stärkt
sie deshalb.
Er stärkt beide: sowohl Demokratie als auch Gemeinwesen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Liebe Frau Merkel und lieber Herr von Klaeden, Sie können
sich an 68 abarbeiten, aber Sie sollten ziemlich froh sein, dass
es uns gege ben hat. Die Republik sähe nämlich anders aus,
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Jetzt kommt doch die
Rechtfertigung!)
wenn dieses Kapitel deutscher Ge schichte ausgefallen wäre.
Frau Merkel, wenn wir schon über die Grundlagen der Demokratie
reden, muss ich Ihnen sagen: Zu den Grundlagen der Demo kratie
gehören nicht nur Regeln und Institutionen, sondern immer auch
die unverwechselbare Ge schichte dieser Demokratie.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der
PDS – Martin Hohmann [CDU/CSU]: Was sagen Sie denn heute
dazu?)