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Die Wiedergeburt des AntiamerikanismusZum Neonationalismus prominenter Ex-68er von Wolfgang Kraushaar
Wer heute ins Bonner Haus der Geschichte kommt, der gewinnt den
Eindruck, daß der zentral gelegene Raum zur Studentenbewegung mit
einer überdimensionalen, knallroten Che-Guevara-Fahne das insgeheime
Zentrum des von Helmut Kohl auf den Weg gebrachten Museums ausmacht. Während
früher die Tendenz unübersehbar war, das umstrittene Kapitel
"1968" aus repräsentativen, mit staatlichen Geldern geförderten
Darstellungen auszusparen, ist diese Einstellung mehr und mehr einer
weniger aufgeregten Haltung gewichen. Und wer letztes Jahr an einem
Festakt zum 50. Jahrestag der Gründung des Staates Israel in der
Axel-Springer-Passage teilnahm, der staunte nicht wenig, als ein
Verlagssprecher in Anwesenheit des israelischen Botschafters Avi
Primor nicht davon abließ, auch die einstige Revolte ein wenig
einzugemeinden und feierlich zu erklären, daß man zugleich auch
"30 Jahre 1968" gedächte. Letzten Sommer gaben "Bild" und "Bild am Sonntag"
unter der Überschrift "Die 68er-Generation: Zwischen Cola und
Corega Tabs" die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung als
Broschüre heraus. Auch wenn es der sarkastische Untertitel nicht
unbedingt vermuten läßt, liest sich der Text wie eine nachholende
Eloge auf die einstmals angefeindete Jugendgeneration. Aus den
ehemaligen Systemumstürzlern, denen attestiert wird, sie gäben
"in allen Bereichen der Gesellschaft den Ton" an und repräsentierten
"im guten Sinne Bürgertum und Elite zugleich", sei heute
eine "Generation der Besitzer und Erben" geworden. Während
sie früher das Wertegefüge der Republik aus den Angeln gehoben hätten,
seien sie nun "Schrittmacher einer revolutionären Umwertung des
Alters und Alterns" geworden. Garniert ist das Ganze mit Photos
von Fritz Teufel, Rainer Langhans und Sophia Loren. Nun, vielleicht
ist alles doch weniger verwunderlich als es zunächst scheinen mag -
schließlich wenden sich die beiden Blätter mit ihrem "Porträt
einer Premium-Zielgruppe" an die Werbekundschaft. Und diese gilt
es davon zu überzeugen, daß sich das Selbstverständnis der über
50jährigen enorm gewandelt hat und aus den einstigen Generalkritikern
des Kapitalismus ebenso konsumgierige wie kapitalkräftige Käufer
geworden sind. Zu den paradoxen Ergebnissen der antiautoritären Bewegung gehört
es, daß sie sich letztlich als kulturelle Festigung der Westbindung
und als Stärkung der liberalen Demokratie ausgewirkt hat. Was die
konservative Bundesregierung unter Konrad Adenauer nur gegen massive
Widerstände von SPD, DGB und Evangelische Kirche als Eingliederung in
das westliche Bündnis durchzusetzen vermocht hatte, das wurde am Ende
der sechziger Jahre - unter politisch völlig entgegengesetzten
Vorzeichen - gesellschaftlich unterfüttert, mit den Subkulturen als
unfreiwilliger Avantgarde der "westernization". Vor allem
die als preußische Sekundärtugenden bezeichneten Wertemuster - wie
Pflicht, Treue, Ehre, Gehorsam, Vaterlandsliebe usw. - wurden in ihrer
Legitimität attackiert, bloßgestellt, wo immer möglich außer Kraft
gesetzt und durch andere soziokulturelle Werte und Tugenden - wie
Emanzipation, Kollektivität, Solidarität usw. - ersetzt. Was die US-Amerikaner
zu Beginn des Kalten Krieges abgebrochen hatten, die Entnazifizierung,
und womit sie steckengeblieben waren, der re-education, das führte
die aus der Neuen Linken entstandene antiautoritäre Bewegung in
gewisser Hinsicht fort und verhalf ihm zu einem zwar nie ganz ungefährdeten,
dennoch aber unübersehbaren Erfolg. Die internationale Protestbewegung hatte ihren Ursprung
zweifelsohne im Westen - und zwar in einem doppelten Sinne. Sie kam
aus den USA, ging dort wiederum von Kalifornien aus und statuierte
1964 mit dem free speech movement in Berkeley ein Exempel, das zum
Modellfall für die Campus-Revolten in verschiedenen anderen
westlichen Staaten wurde. Die signifikantesten Aktionsformen wie
sit-ins, go-ins, teach-ins usw. wurden der Bürgerrechtsbewegung
entweder direkt entlehnt oder aber nach ihrem Vorbild geschaffen. Am
Beispiel von antirassistischen Aktionen der schwarzen Bürgerrechtler
hatten die Studenten erkannt, wie wirkungsvoll derartige Vorstöße
ausfallen konnten. Ohne Gewalt einzusetzen konnten sozial ausgegrenzte
Minderheiten Reformanstöße geben. In exemplarischen Aktionen
offenbarten sie, ohne sich ideologischer oder weltanschaulicher Mittel
zu bedienen, worin ihre Ziele lagen. Demonstrationen waren wörtlich
zu nehmen. Es ging in erster Linie darum, etwas zu zeigen - einen Mißstand
aufzudecken oder eine Möglichkeit zur Änderung vorzuexerzieren. So ambivalent die Amerikanisierung für die antiautoritäre
Bewegung einerseits war, schließlich galten die USA als der
imperialistische Hauptfeind - wer dort lebte, besaß nach den Worten
Che Guevaras den Vorteil, "im Herzen der Bestie" kämpfen zu
können -, so sehr waren die Formen, mit denen für eine radikale
Demokratisierung gekämpft wurde, Ausdruck der US-amerikanischen
Protestkultur. Die Politik war von vielen ihrer Ziele her
antiamerikanisch, der Protest jedoch von seinen Formen her
proamerikanisch codiert. Als Paradoxie formuliert: Der
Antiamerikanismus - wie er in der Parole "USA - SA - SS" als
unmittelbare Gleichsetzung mit dem Nationalsozialismus zum Ausdruck
kam - wurde durch eine proamerikanische Protestkultur artikuliert. Unter den sogenannten Alt-68ern sorgt jedoch gegenwärtig eine Strömung
für Aufsehen, in der der Antiamerikanismus wieder auflebt: Die der völkisch-nationalen
Wiedererwecker. Wenn die Risse, die seit einem Jahr besonders in
Berlin aufgetreten sind, nicht täuschen, dann vollzieht sich
innerhalb dieser von Anfang an in einer problematischen Weise als
einheitlich aufgefaßten Generation eine Polarisierung. Am stärksten
hat sich der ehemalige Rechtsanwalt und RAF-Mitbegründer Horst Mahler
mit neurechten Bekenntnissen hervorgewagt. Der umtriebige Jurist, dem
der jetzige Bundeskanzler Gerhard Schröder, der ja ein Berufskollege
ist, vor Gericht zur Seite gestanden hat, um dem Ex-Terroristen die
Anwaltsberechtigung zurückzugewinnen, begreift sich offenbar als Kopf
einer Außerparlamentarischen Opposition von rechts. In einem seiner Artikel, die er vorzugsweise in der rechtsradikalen
Wochenzeitung "Junge Freiheit" publiziert, ergeht Mahler
sich darin, den Holocaust mit dem GULag-System zu vergleichen und
deren Vernichtungslogiken in einem aberwitzigen Zynismus als bislang
aus ideologischen Gründen übersehene Ausgeburt der Vernunft zu
interpretieren. Die Deutschen seien, beklagt er wortreich, "durch
die moralische Weltanschauung gebändigt" worden. Nun käme es
darauf an, diese Fesselung des Bewußtseins aufzusprengen. Erst wenn
die "Weltanschauung der Gutmenschen" überwunden sei, könne
"das Vernünftige des großen Tötens" - gemeint sind neben
dem Holocaust und dem Archipel GULag auch die Atombombenabwürfe auf
Hiroshima und Nagasaki - erkannt werden. Mit der militärischen
Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, so versichert er, sei
die Gestalt nicht zu brechen gewesen, die "der absolute Geist
unter Adolf Hitler im deutschen Volk angenommen" hätte. In zwei Interviews hat Mahler weitaus weniger verquast deutlich
gemacht, wohin die politische Reise seiner Ansicht nach nun zu gehen
hat. Er lehnt darin Schuldbekenntnisse wegen der NS-Vergangenheit
kategorisch ab, warnt davor, "auf den blankliegenden Nerven der
Deutschen herumzutrampeln" und droht damit, daß die Deutschen
auch einmal "böse" werden könnten. Als Gegenmaßnahme zur
"Überfremdungspolitik der Regierungskoalition" propagiert
er eine "nationale Sammlungsbewegung" gegen die rot-grüne
Staatsbürgerschaftsnovelle. Sie soll dort einsetzen, wo die
Unterschriftenaktion der Union aufhört: Als "Bewegung des
deutschen Volkes zur Wahrung seiner Lebensinteressen". Dabei
macht Mahler aus seiner Verachtung für Parteien keinen Hehl und erklärt
gönnerhaft, der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber könne dabei ebenso
mitmachen wie der als Auschwitz-Leugner berüchtigte NPD-Funktionär Günter
Deckert. Auf die Parteien werde es, bekräftigt er in zynischer
Arroganz, ohnehin "nicht mehr ankommen". Eine strafrechtliche Verfolgung von Auschwitz-Leugnern lehnt der
Jurist kategorisch ab. Diese Leute dürften nicht kriminalisiert
werden; schließlich glaubten sie, was sie sagten. Da sie den Gedanken
nicht ertrügen, daß Deutsche den Holocaust zu verantworten hätten,
erwiesen sie sich ganz im Gegenteil "als Gutmenschen mit
moralischem Kompaß". Sie seien im Grunde Märtyrer, da sie es
auf sich nehmen würden, "für die nationale Sache ins Gefängnis
zu gehen". Eine ähnliche Richtung hat inzwischen auch ein anderer ehemaliger
APO-Exponent, der inzwischen an der Freien Universität lehrende
Soziologe Bernd Rabehl eingeschlagen. In einem Vortrag vor Mitgliedern
der Burschenschaft "Danubia" in München bekannte er sich im
Dezember letzten Jahres zu Werten aus dem Standardrepertoire
Rechtskonservativer - zum deutschen Volk, zur Nation und zur völkischen
Identität, er warnte vor Überfremdungstendenzen und geißelte
insbesondere den angeblichen Imperialismus der USA in Politik und
Kultur. Der gesamte Aufbruch in den sechziger Jahren erhält bei ihm Züge
eines unfreiwillig-tragischen Scheiterns. In Wirklichkeit seien die
APO-Aktivisten "nützliche Idioten" gewesen, die die
Westintegration, die Amerikanisierung und somit die Politik der
re-education fortgeführt hätten. Im Grunde hätten sie sich ganz im
Gegensatz zu den von ihnen propagierten antiimperialistischen
Zielsetzungen zu Handlangern der USA machen lassen. Seine Argumentation hat große Ähnlichkeiten mit dem, was Caspar
von Schrenck-Notzing in seinem 1965 unter dem Titel "Charakterwäsche"
veröffentlichten Buch vertritt. Der Vordenker der Rechtskonservativen,
der seit 1970 die Zeitschrift "Criticón" herausgibt, hatte
damals angeprangert, daß die US-Besatzungsmacht das deutsche Volk mit
den Mitteln der psychologischen Kriegsführung umerziehe und in diesem
Zusammenhang Exponenten der Frankfurter Schule eine Schlüsselrolle
zugewiesen. Die Sozialwissenschaftler Franz Neumann, Herbert Marcuse,
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Erich Fromm erscheinen bei ihm
als ideologische Agenten, die als jüdische Theoretiker kein anderes
Ziel verfolgten, als die Identität des deutschen Volkes auszuhöhlen
und insbesondere dessen Kultur in Mißkredit zu bringen. Wenn Rabehl
schreibt, daß die von den amerikanischen Deutschlandspezialisten
1944/45 geplante "psychologische Aktion", die das Ziel
verfolgt habe, "die nationale Tradition aufzulösen",
inzwischen als verwirklicht angesehen werden müsse, dann streift er
die These von der "Charakterwäsche" des deutschen Volkes
nicht nur, sondern entspricht ihr vielmehr. Die illustre Reihe derjenigen, die in den sechziger Jahren zum
Sturz der Republik von links aufriefen und sich heute dem Verdacht
aussetzen, daß sie es nun von rechts versuchten, ist noch nicht
besonders groß, ihre Zahl nimmt dennoch aber erkennbar zu. Dem Weg
des Publizisten Günter Maschke, der, einst Mitglied der Subversiven
Aktion", angeblich durch seine Kuba-Erfahrung bereits Anfang der
siebziger Jahre zum bekennenden Rechtsradikalen geworden ist, sind zunächst
nur wenige gefolgt. Inzwischen jedoch sind es, wie ein in einem österreichischen
Verlag unter dem Titel "Bye-Bye 68" erschienener Band belegt,
in dem, wie es im Untertitel heißt, "Renegaten, APO-Abweichler
und allerlei Querdenker" zu Wort kommen, eine ganze Reihe, die
sich mit dem Abschiedsgruß schmücken. Wie weit sie dabei zu gehen
bereit sind, zeigt eine zum Jahreswechsel herausgegebene "Kanonische
Erklärung zur Bewegung von 1968", in der die Studentenrebellion
mit dem 17. Juni 1953 verglichen und zum zweiten deutschen Aufstand
gegen die Besatzungsmacht" umgedeutet sowie die RAF in die
Tradition der Urburschenschaft eingebettet und zynisch-kokett in
"Waffen-SDS" umbenannt wird. Wohl kein anderer hat seine politische Kehrtwendung so konsequent
vollzogen wie der Hamburger Reinhold Oberlercher. Der 55jährige
ehemalige SDS-Sprecher, den der "Spiegel" 1967 als "Hamburgs
Dutschke" charakterisierte, begreift sich als "Nationalmarxist".
Fünf Jahre zuvor hat er unter dem Titel "Die 68er Wortergreifung"
in den von Hans-Dietrich Sander herausgegebenen "Staatsbriefen"
den Versuch unternommen, über seine "politische Jugendzeit
Rechenschaft" abzugeben. Darin stellt der 1960 aus der DDR in den
Westen Geflohene die These auf, daß die 68er-Rebellion "in ihrer
geistigen Substanz von Ost- und Mitteldeutschen gegen Westdeutsche geführt"
und "von den verratenen Teilen Deutschlands gegen die Verräter,
gegen die Träger und Erhalter des Kollaborationsregimes der Westzone"
durchgeführt worden sei. Während die "Mitteldeutschen" mit
der "89er-Revolution" ihre historische Aufgabe, nämlich die
DDR zu beseitigen, erledigt hätten, unterlägen die "Westdeutschen"
noch einer "Bringschuld", die erst dann getilgt wäre, wenn
auch sie ihr Besatzungsregime, die BRD, beseitigt und "die innere
Einigung beider Volksteile vollzogen" hätten. Die Vernichtung
beider deutscher Staaten, die er als Fremdherrschaft auf deutschem
Boden stigmatisiert, ergäbe dann die Voraussetzung für die
Restituierung des Deutschen Reiches. Auf der "Tagesordnung der
Weltgeschichte" stehe so der "Sturz der Systemherrschaft überhaupt".
Deren Herrschaft würde abgelöst durch eine Weltordnung, deren Völkerrechtssubjekte
"nach dem Grundsatz Ein-Volk-ein-Staat" konstituiert seien.
Nur durch eine "fundamentalistische Kulturrevolution" sei
die Reichsidee zu erneuern und das Deutsche Reich wiederherzustellen.
"Jeder 68er, der heute die westliche Wertegemeinschaft bejaht,"
schließt er seinen Gedankengang mit der schlichten Drohung, "ist
ein Verräter." Erst bei Oberlercher, ebenso wie Mahler bekennender
Rechtshegelianer, wird deutlich, wohin die Reise wirklich gehen soll:
In Richtung auf ein "Viertes Reich". Die Zeitphase zwischen
1945 und 1990 verkümmert aus dieser nationalrevolutionären Optik zu
einer Art Interregnum zweier Besatzungsregime. DDR und BRD stehen
danach als Initialien für die Unterjochung des deutschen Volkes. Mit
dem Ende des einen fremden Staates auf deutschem Boden ist danach ein
erster wichtiger Schritt unternommen; der zweite steht als "Bringschuld"
der Westdeutschen noch an und der dritte, die Rückeroberung der
Ostgebiete, steht mehr oder weniger unausgesprochen im Raume. Und für
diesen Reanimierungsversuch des Deutschen Reiches soll die
68er-Rebellion beerbt werden. Als Kronzeugen für diese sinistre
Unternehmung werden von Oberlercher, wie könnte es anders sein, Rudi
Dutschke und Bernd Rabehl angeführt. Als Bestätigung wird eine Äußerung
Rabehls zitiert, die im Februar 1994 auf einer Gedenkveranstaltung für
Dutschke gefallen ist: "Unsere Vision war die nationale Befreiung.
Wir kamen ja aus dem Osten." Gerade das Lakonisch-Selbstverständliche,
das aus diesen Worten spricht, scheint den Reichsbefürworter zu
stimulieren. Gegen den Kursschwenk ehemaliger Gallionsfiguren der Berliner
Studentenbewegung haben Alt-68er im Internet vor einiger Zeit eine
eigene SDS-Website eingerichtet, in der unter der Überschrift "Nationalisten
waren wir nie!" zu Protesterklärungen aufgerufen wird. Diese
Distanzierung ist jedoch defensiv und rückwärts gewandt. Obwohl sie
in der Abwehr des Neonationalismus in die richtige Richtung weist,
kann sie nur wenig zur Klärung der 68er-Vergangenheit und zur
aktuellen Auseinandersetzung beitragen. Insbesondere wird Rabehl durch
die strikte Weigerung, die Bedeutung der nationalen Frage für Rudi
Dutschke überhaupt zur Kenntnis nehmen zu wollen, die Möglichkeit
geboten, die historisierenden Argumente für die Legitimierung seiner
nationalrevolutionären Position auszubauen und damit seine an sich
unhaltbare Position in dem Konflikt graduell zu verbessern. Das grundsätzliche Problem der Unterzeichner besteht darin, daß
sie offenbar auch zehn Jahre nach dem Mauerfall immer noch glauben,
davon überzeugt sein zu können, es sei richtig gewesen, die Frage
der deutschen Teilung der Rechten überlassen zu haben. Für diesen
historischen Selbstbetrug, der mit einer partiellen Idealisierung der
DDR einhergegangen ist, hat die bundesdeutsche Linke nach 1990 zu
recht die Quittung präsentiert bekommen. Es ist eine Illusion, an den
vermeintlich hehren Internationalismus von 1968 direkt anknüpfen zu
wollen. Ebensowenig läßt sich die sogenannte nationale gegen die
sogenannte soziale Frage ein weiteres Mal ausspielen. Die Vereinigung
Deutschlands hat zwar zu einem Wiederaufleben von Fremdenfeindlichkeit
und Rassismus, nicht aber zu einer Politisierung des Nationalen geführt.
Die deutsche Einigung vollzog sich im Kontext der europäischen
Integration. Diese Verklammerung hat die Gefahr, die von einer
Renationalisierung hätte ausgehen können, maßgeblich entschärft.
Einem solchen historischen Faktum, das insbesondere Helmut Kohl als
Verdienst angerechnet werden muß, gilt es sich zu stellen. Der Teil
der Linken, der sich aus biographischen wie aus historischen Gründen
auf die Tradition des SDS beruft und sich zu recht gegen die
Inanspruchnahme der 68er-Rebellion durch ehemalige Kombattanten für
die neue Rechte zur Wehr setzt, darf sich kein weiteres Mal durch die
Tabuisierung der Spaltung und die Ausklammerung des nun vereinigten
Deutschlands ins historische Abseits stellen. Mahler und Maschke, Oberlercher, und Rabehl: Wie auf einem
Schachbrett, auf dem die Figuren von einer unsichtbaren Hand geführt
werden, ordnen sich die Positionen neu zu. Was früher als revolutionär
und linksradikal galt, das erscheint heute, nur unwesentlich verändert,
als rechtskonservativ, als rechtsradikal oder gar als neofaschistisch.
Der Substantialismus der Kategorien und der Essentialismus ihres
argumentativen Einsatzes verraten, daß es hier weniger um eine Veränderung
des Intellekts als um einen Ausbruch der Mentalität geht. Als seien
politische Überzeugungen jahrzehntelang lediglich auf der Oberfläche
von Programmen und Bekenntnissen hergetrieben worden, dringen nun auf
einmal Entitäten vom Grund des Bewußtseinsstromes nach oben und
beanspruchen mit Nachdruck ihren Platz in der Politik. Wer wie sie die
politische Kultur als ein Besatzungsprodukt denunziert, der höhlt die
parlamentarische Demokratie aus. Da Deutschland weder dazu in der Lage
war, die Machtergreifung der Nazis zu verhindern noch einen wirksamen
Widerstand während des Krieges zu entwickeln, bedurfte es "fremder
Mächte", das geschlagene Land zu entnazifizieren und zu
demokratisieren. Franz Neumann, der als Sozialwissenschaftler für den
amerikanischen Geheimdienst OSS arbeitete, hat in seinem 1942 in den
USA erschienenen, bahnbrechenden Werk "Behemoth" die These
vom Nationalsozialismus als Eliteherrschaft geprägt. Er ist darin zu
der Überzeugung gekommen, daß die Spitzen von Partei, Staat,
Wirtschaft und Militär "ein totalitäres Elitekartell"
bildeten. Sein Ziel war es, die Macht der auf diesen vier Säulen
ruhenden NS-Herrschaft zu brechen und damit die Voraussetzungen für
die Entwicklung einer parlamentarischen Demokratie in der
Nachkriegszeit zu schaffen. Auch wenn sich der Chefanalytiker unter
den Bedingungen des ausbrechenden Ost-West-Konflikts mit seinen
Einsichten nicht vollends durchsetzen konnte, so trug die
Besatzungspolitik der USA in Deutschland anfangs doch deutliche Züge
davon. Die US-Besatzungsmacht verfolgte die Absicht, die deutsche
Gesellschaft zu entnazifizieren, die Wirtschaftskonzerne zu
entflechten und die Re-education der deutschen Jugend durchzuführen. Über den Erfolg dieser Maßnahmen der Besatzungsmächte läßt
sich gewiß streiten. Unbestreitbar ist jedoch, daß die Etablierung
der parlamentarischen Demokratie und einer mit ihr verbundenen
westlich geprägten Kultur letztendlich erfolgreich war und diesem
Land eine demokratisch gesicherte Stabilität verliehen hat. Es ist
vor allem das Verdienst der Westmächte, insbesondere der USA und Großbritanniens,
weniger Frankreichs, daß es zu keiner Neuauflage eines totalitären
Regimes gekommen ist. Im Unterschied zu anderen vergleichbaren Ländern hatte die
68er-Rebellion in der Bundesrepublik derartig starke Auswirkungen,
weil sie einen Resonanzboden besaß, den es in keinem anderen Land gab
und auch nicht geben konnte - die NS-Vergangenheit. Durch das
politische Agieren im Schatten von Auschwitz nahmen staatliche und
gesellschaftliche Problemstellungen eine existentielle Schärfe an,
die man mit Ausnahme Japans, das seines kriegerischen Nationalismus
wegen in einer bestimmten Hinsicht vergleichbar ist, vergeblich sucht.
In der Bundesrepublik, deren Institutionen bis in das staatliche Führungspersonal
hinein mit ehemaligen NS-Tätern durchsetzt waren, geriet noch die
nebensächlichste politische Angelegenheit zur fundamentalen
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des "Dritten Reiches".
Bei nahezu jedem Konflikt, so schien es, lauerte der
nationalsozialistische Abgrund. Diese Disposition, daran kann inzwischen kein Zweifel mehr
existieren, hat die damaligen Rebellierenden blind gemacht für die
Errungenschaften der parlamentarischen Demokratie, die es selbst unter
restaurativen Vorzeichen gegeben hat. Die Schlußfolgerung, daß das
politische System, dessen Regierung mit Kurt Georg Kiesinger als
Kanzler von einem früheren Nazi angeführt wurde, zwangsläufig ein
semifaschistisches Gebilde sein müsse, war ein Kurzschluß. Die
Entlarvung der NS-Vergangenheit einzelner Spitzenpolitiker hatte nicht
nur die Kritik durch antifaschistische Gesinnung ersetzt, sondern eine
enthüllende Personalisierung an die Stelle von politischer Analyse
treten lassen. Mit dieser Vertauschung wurde der Grundstein für jene
Serie politischer Niederlagen gelegt, die die bundesdeutsche Linke in
den siebziger Jahren beziehen mußte. Vieles spricht dafür, daß es, wie von dem kalifornischen
Politikwissenschaftler Andrei S. Markovits befürchtet, paradoxerweise
gerade die rot-grüne Regierungskoalition, die in ihrer Mehrheit die
68er-Generation repräsentiert, sein könnte, die einen Schlußstrich
unter die NS-Vergangenheit ziehen wird. Gerade der mit der
Verweigerung symbolischer Akte einhergehende Pragmatismus der
Regierung Schröder nährt den Verdacht, daß sie die historische
Verantwortung für das Geschehene am liebsten wie ein unpassend
gewordenes Kleid ablegen möchte. Zu dieser Einschätzung paßt auch eine der ersten Äußerungen,
die Schröder nach seiner Wahl zum Kanzler gemacht hat. Selbstbewußt
erklärte er in "Talk im Turm", daß das von seiner
Regierung repräsentierte Deutschland "unbefangen", ja
"in einem guten Sinne vielleicht sogar deutscher" sein werde.
Und als die Kritiken zur Friedenspreisrede Martin Walsers
herniederprasselten, sprang ihm der frischgebackene Regierungschef mit
der doppelsinnigen Bemerkung bei, ein Schriftsteller müsse "das
sagen dürfen", ein Bundeskanzler hingegen nicht. Mit anderen
Worten: Schröder billigt, was Walser bekannt hat. Der einzige
Unterschied besteht darin, daß Schröder glaubt aus Rücksichtnahme
auf seine staatspolitische Rolle auf ein direkteres Bekenntnis
verzichten zu müssen. Walsers Bekenntnis bestand bekanntlich darin, wieder stolz sein zu
können, ein Deutscher zu sein, ohne dabei von Gewissensskrupeln
geplagt zu werden. Beabsichtigt wurde, die vermeintliche Normalität
der eigenen Nation zurückzugewinnen. Deshalb mußte er von "Meinungssoldaten"
und "Meinungsdienst" sowie einer "Moralkeule" und
"vorgehaltener Moralpistole" zetern. Denn Auschwitz stellt für
ein als erneuerungsbedürftig angesehenes nationales Selbstwertgefühl
eine Blockade dar, die sich bislang als unüberwindbar erwiesen hat.
Obwohl die durch Walsers Rede ausgelöste Debatte über Monate hinweg
durch die Gazetten geisterte, ist darin übersehen worden, daß sie
mit antiwestlichen Affekten gespickt war. Seine Gefühle gehören vor allem dem unter seinem Tarnnamen "Topas"
bekanntgewordenen Ex-DDR-Spion Rainer Rupp. Daß dieser arme Mann, den
Walser als "idealistischen Altachtundsechziger" und "idealistisch-sozialistischen
Weltverbesserer" charakterisiert, im Gefängnis sitzen muß,
scheint ihn offenbar um den Schlaf zu bringen. Seine an den Bundespräsidenten
gerichtete Aufforderung, Rupp "um des lieben Frieden willens"
freizulassen, ist jedoch nicht als Zeichen von Solidarität,
Altruismus oder fehlgeleiteter Nächstenliebe mißzuverstehen.
Dahinter verbirgt sich ein nationales Motiv. So wie Deutsche nicht auf
Deutsche schießen sollten, so sollte ein deutscher Staat keinen
seiner Bürger bloß deshalb wegen Spionage verurteilen, weil sie für
einen anderen deutschen Staat gespitzelt hätten. Walsers Forderung,
Ost-Spione sollten ebenso wie West-Spione straffrei bleiben, zeichnet
sich nicht durch ein besonderes Gerechtigkeitsgefühl aus, sondern
durch die Höherbewertung des Nationalen gegenüber den verschiedenen
politischen Systemen und deren unterschiedlichem Freiheits- und
Demokratieverständnis. Walser erinnerte in diesem Zusammenhang auch an eine in vielfacher
Hinsicht bedenkliche Rede, die er 1977 in Bergen-Enkheim gehalten
hatte. Dort hatte er verkündet, man dürfe "die BRD so wenig
anerkennen wie die DDR", man müsse "die Wunde namens
Deutschland offenhalten". In der Verwendung der Blutmetaphorik
verrät sich, was den Schriftsteller wirklich bewegt. Die Nation, die
er nicht länger an den Pranger gestellt sehen möchte, ist in seiner
Sicht von einem Opfermal gezeichnet - damit ist aus dem Land der Täter
insgeheim eines der Opfer geworden. Die Äquidistanz, die Walser gegenüber der BRD wie gegenüber der
DDR auch heute noch, ein Jahrzehnt nach der Auflösung der DDR,
einzunehmen können glaubt, ist eine unverhohlene Mißtrauenserklärung
gegenüber der Bundesrepublik - der verbale Anschlag eines Dichters
auf die Verfassung, verübt im Symbol der von Anfang an gefährdeten
deutschen Demokratie, der Paulskirche. Die Westorientierung, die mit einem Jahrzehnt Verspätung auch von
der Sozialdemokratie nachvollzogen wurde, war die Klammer um die
Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik. Zugleich hat sie für eine
grundlegende Veränderung der politischen Kultur gesorgt, die die
Exponenten des christlichen Abendlandes in der Regierung Adenauer gewiß
nicht für möglich gehalten hätten. Nun aber besteht die Aufgabe in der Außen- und Sicherheitspolitik
darin, mit der Osterweiterung der Europäischen Union und der NATO
einen Prozeß zu vollziehen, der als Abrücken von der
Westorientierung, als eine Reaktivierung der Mittellage und als
Neuauflage einer deutschen Hegemonialrolle mißdeutet werden könnte. Der zentrale Widerspruch für die neue, die seit 1990 erweiterte
Bundesrepublik besteht darin, wie eine nordatlantische
Grundorientierung, die sich der Systemeinbindung aus der Ära des
Ost-West-Konflikts verdankt, in eine europaintegrative Option
transformiert werden könnte, ohne aufgelöst werden zu müssen. Vor
einem Monat hat der frühere 68er und heutige Bundesaußenminister
Joschka Fischer eine Ansprache vor dem Europaparlament in Straßburg
mit einem Satz beendet, der die Richtung vorgeben könnte: "Es
wird die Aufgabe unserer Generation sein, dieses Europa der
Integration zu vollenden." Eine Bewährungsprobe für diese historische Aufgabenstellung wird
darin bestehen, wie sich diese Generation, die einen nicht zu unterschätzenden
Einfluß auf die mediale Öffentlichkeit besitzt, in dem seit langem
schwelenden Konflikt um den Kosovo, der nun zum offenen Krieg geworden
ist, verhalten wird. |