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Die Wiedergeburt des Antiamerikanismus

Zum Neonationalismus prominenter Ex-68er

von Wolfgang Kraushaar

Wer heute ins Bonner Haus der Geschichte kommt, der gewinnt den Eindruck, daß der zentral gelegene Raum zur Studentenbewegung mit einer überdimensionalen, knallroten Che-Guevara-Fahne das insgeheime Zentrum des von Helmut Kohl auf den Weg gebrachten Museums ausmacht. Während früher die Tendenz unübersehbar war, das umstrittene Kapitel "1968" aus repräsentativen, mit staatlichen Geldern geförderten Darstellungen auszusparen, ist diese Einstellung mehr und mehr einer weniger aufgeregten Haltung gewichen. Und wer letztes Jahr an einem Festakt zum 50. Jahrestag der Gründung des Staates Israel in der Axel-Springer-Passage teilnahm, der staunte nicht wenig, als ein Verlagssprecher in Anwesenheit des israelischen Botschafters Avi Primor nicht davon abließ, auch die einstige Revolte ein wenig einzugemeinden und feierlich zu erklären, daß man zugleich auch "30 Jahre 1968" gedächte.

Letzten Sommer gaben "Bild" und "Bild am Sonntag" unter der Überschrift "Die 68er-Generation: Zwischen Cola und Corega Tabs" die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung als Broschüre heraus. Auch wenn es der sarkastische Untertitel nicht unbedingt vermuten läßt, liest sich der Text wie eine nachholende Eloge auf die einstmals angefeindete Jugendgeneration. Aus den ehemaligen Systemumstürzlern, denen attestiert wird, sie gäben "in allen Bereichen der Gesellschaft den Ton" an und repräsentierten "im guten Sinne Bürgertum und Elite zugleich", sei heute eine "Generation der Besitzer und Erben" geworden. Während sie früher das Wertegefüge der Republik aus den Angeln gehoben hätten, seien sie nun "Schrittmacher einer revolutionären Umwertung des Alters und Alterns" geworden. Garniert ist das Ganze mit Photos von Fritz Teufel, Rainer Langhans und Sophia Loren. Nun, vielleicht ist alles doch weniger verwunderlich als es zunächst scheinen mag - schließlich wenden sich die beiden Blätter mit ihrem "Porträt einer Premium-Zielgruppe" an die Werbekundschaft. Und diese gilt es davon zu überzeugen, daß sich das Selbstverständnis der über 50jährigen enorm gewandelt hat und aus den einstigen Generalkritikern des Kapitalismus ebenso konsumgierige wie kapitalkräftige Käufer geworden sind.

Zu den paradoxen Ergebnissen der antiautoritären Bewegung gehört es, daß sie sich letztlich als kulturelle Festigung der Westbindung und als Stärkung der liberalen Demokratie ausgewirkt hat. Was die konservative Bundesregierung unter Konrad Adenauer nur gegen massive Widerstände von SPD, DGB und Evangelische Kirche als Eingliederung in das westliche Bündnis durchzusetzen vermocht hatte, das wurde am Ende der sechziger Jahre - unter politisch völlig entgegengesetzten Vorzeichen - gesellschaftlich unterfüttert, mit den Subkulturen als unfreiwilliger Avantgarde der "westernization". Vor allem die als preußische Sekundärtugenden bezeichneten Wertemuster - wie Pflicht, Treue, Ehre, Gehorsam, Vaterlandsliebe usw. - wurden in ihrer Legitimität attackiert, bloßgestellt, wo immer möglich außer Kraft gesetzt und durch andere soziokulturelle Werte und Tugenden - wie Emanzipation, Kollektivität, Solidarität usw. - ersetzt. Was die US-Amerikaner zu Beginn des Kalten Krieges abgebrochen hatten, die Entnazifizierung, und womit sie steckengeblieben waren, der re-education, das führte die aus der Neuen Linken entstandene antiautoritäre Bewegung in gewisser Hinsicht fort und verhalf ihm zu einem zwar nie ganz ungefährdeten, dennoch aber unübersehbaren Erfolg.

Die internationale Protestbewegung hatte ihren Ursprung zweifelsohne im Westen - und zwar in einem doppelten Sinne. Sie kam aus den USA, ging dort wiederum von Kalifornien aus und statuierte 1964 mit dem free speech movement in Berkeley ein Exempel, das zum Modellfall für die Campus-Revolten in verschiedenen anderen westlichen Staaten wurde. Die signifikantesten Aktionsformen wie sit-ins, go-ins, teach-ins usw. wurden der Bürgerrechtsbewegung entweder direkt entlehnt oder aber nach ihrem Vorbild geschaffen. Am Beispiel von antirassistischen Aktionen der schwarzen Bürgerrechtler hatten die Studenten erkannt, wie wirkungsvoll derartige Vorstöße ausfallen konnten. Ohne Gewalt einzusetzen konnten sozial ausgegrenzte Minderheiten Reformanstöße geben. In exemplarischen Aktionen offenbarten sie, ohne sich ideologischer oder weltanschaulicher Mittel zu bedienen, worin ihre Ziele lagen. Demonstrationen waren wörtlich zu nehmen. Es ging in erster Linie darum, etwas zu zeigen - einen Mißstand aufzudecken oder eine Möglichkeit zur Änderung vorzuexerzieren.

So ambivalent die Amerikanisierung für die antiautoritäre Bewegung einerseits war, schließlich galten die USA als der imperialistische Hauptfeind - wer dort lebte, besaß nach den Worten Che Guevaras den Vorteil, "im Herzen der Bestie" kämpfen zu können -, so sehr waren die Formen, mit denen für eine radikale Demokratisierung gekämpft wurde, Ausdruck der US-amerikanischen Protestkultur. Die Politik war von vielen ihrer Ziele her antiamerikanisch, der Protest jedoch von seinen Formen her proamerikanisch codiert. Als Paradoxie formuliert: Der Antiamerikanismus - wie er in der Parole "USA - SA - SS" als unmittelbare Gleichsetzung mit dem Nationalsozialismus zum Ausdruck kam - wurde durch eine proamerikanische Protestkultur artikuliert.

Unter den sogenannten Alt-68ern sorgt jedoch gegenwärtig eine Strömung für Aufsehen, in der der Antiamerikanismus wieder auflebt: Die der völkisch-nationalen Wiedererwecker. Wenn die Risse, die seit einem Jahr besonders in Berlin aufgetreten sind, nicht täuschen, dann vollzieht sich innerhalb dieser von Anfang an in einer problematischen Weise als einheitlich aufgefaßten Generation eine Polarisierung. Am stärksten hat sich der ehemalige Rechtsanwalt und RAF-Mitbegründer Horst Mahler mit neurechten Bekenntnissen hervorgewagt. Der umtriebige Jurist, dem der jetzige Bundeskanzler Gerhard Schröder, der ja ein Berufskollege ist, vor Gericht zur Seite gestanden hat, um dem Ex-Terroristen die Anwaltsberechtigung zurückzugewinnen, begreift sich offenbar als Kopf einer Außerparlamentarischen Opposition von rechts.

In einem seiner Artikel, die er vorzugsweise in der rechtsradikalen Wochenzeitung "Junge Freiheit" publiziert, ergeht Mahler sich darin, den Holocaust mit dem GULag-System zu vergleichen und deren Vernichtungslogiken in einem aberwitzigen Zynismus als bislang aus ideologischen Gründen übersehene Ausgeburt der Vernunft zu interpretieren. Die Deutschen seien, beklagt er wortreich, "durch die moralische Weltanschauung gebändigt" worden. Nun käme es darauf an, diese Fesselung des Bewußtseins aufzusprengen. Erst wenn die "Weltanschauung der Gutmenschen" überwunden sei, könne "das Vernünftige des großen Tötens" - gemeint sind neben dem Holocaust und dem Archipel GULag auch die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki - erkannt werden. Mit der militärischen Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, so versichert er, sei die Gestalt nicht zu brechen gewesen, die "der absolute Geist unter Adolf Hitler im deutschen Volk angenommen" hätte.

In zwei Interviews hat Mahler weitaus weniger verquast deutlich gemacht, wohin die politische Reise seiner Ansicht nach nun zu gehen hat. Er lehnt darin Schuldbekenntnisse wegen der NS-Vergangenheit kategorisch ab, warnt davor, "auf den blankliegenden Nerven der Deutschen herumzutrampeln" und droht damit, daß die Deutschen auch einmal "böse" werden könnten. Als Gegenmaßnahme zur "Überfremdungspolitik der Regierungskoalition" propagiert er eine "nationale Sammlungsbewegung" gegen die rot-grüne Staatsbürgerschaftsnovelle. Sie soll dort einsetzen, wo die Unterschriftenaktion der Union aufhört: Als "Bewegung des deutschen Volkes zur Wahrung seiner Lebensinteressen". Dabei macht Mahler aus seiner Verachtung für Parteien keinen Hehl und erklärt gönnerhaft, der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber könne dabei ebenso mitmachen wie der als Auschwitz-Leugner berüchtigte NPD-Funktionär Günter Deckert. Auf die Parteien werde es, bekräftigt er in zynischer Arroganz, ohnehin "nicht mehr ankommen".

Eine strafrechtliche Verfolgung von Auschwitz-Leugnern lehnt der Jurist kategorisch ab. Diese Leute dürften nicht kriminalisiert werden; schließlich glaubten sie, was sie sagten. Da sie den Gedanken nicht ertrügen, daß Deutsche den Holocaust zu verantworten hätten, erwiesen sie sich ganz im Gegenteil "als Gutmenschen mit moralischem Kompaß". Sie seien im Grunde Märtyrer, da sie es auf sich nehmen würden, "für die nationale Sache ins Gefängnis zu gehen".

Eine ähnliche Richtung hat inzwischen auch ein anderer ehemaliger APO-Exponent, der inzwischen an der Freien Universität lehrende Soziologe Bernd Rabehl eingeschlagen. In einem Vortrag vor Mitgliedern der Burschenschaft "Danubia" in München bekannte er sich im Dezember letzten Jahres zu Werten aus dem Standardrepertoire Rechtskonservativer - zum deutschen Volk, zur Nation und zur völkischen Identität, er warnte vor Überfremdungstendenzen und geißelte insbesondere den angeblichen Imperialismus der USA in Politik und Kultur. Der gesamte Aufbruch in den sechziger Jahren erhält bei ihm Züge eines unfreiwillig-tragischen Scheiterns. In Wirklichkeit seien die APO-Aktivisten "nützliche Idioten" gewesen, die die Westintegration, die Amerikanisierung und somit die Politik der re-education fortgeführt hätten. Im Grunde hätten sie sich ganz im Gegensatz zu den von ihnen propagierten antiimperialistischen Zielsetzungen zu Handlangern der USA machen lassen.

Seine Argumentation hat große Ähnlichkeiten mit dem, was Caspar von Schrenck-Notzing in seinem 1965 unter dem Titel "Charakterwäsche" veröffentlichten Buch vertritt. Der Vordenker der Rechtskonservativen, der seit 1970 die Zeitschrift "Criticón" herausgibt, hatte damals angeprangert, daß die US-Besatzungsmacht das deutsche Volk mit den Mitteln der psychologischen Kriegsführung umerziehe und in diesem Zusammenhang Exponenten der Frankfurter Schule eine Schlüsselrolle zugewiesen. Die Sozialwissenschaftler Franz Neumann, Herbert Marcuse, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Erich Fromm erscheinen bei ihm als ideologische Agenten, die als jüdische Theoretiker kein anderes Ziel verfolgten, als die Identität des deutschen Volkes auszuhöhlen und insbesondere dessen Kultur in Mißkredit zu bringen. Wenn Rabehl schreibt, daß die von den amerikanischen Deutschlandspezialisten 1944/45 geplante "psychologische Aktion", die das Ziel verfolgt habe, "die nationale Tradition aufzulösen", inzwischen als verwirklicht angesehen werden müsse, dann streift er die These von der "Charakterwäsche" des deutschen Volkes nicht nur, sondern entspricht ihr vielmehr.

Die illustre Reihe derjenigen, die in den sechziger Jahren zum Sturz der Republik von links aufriefen und sich heute dem Verdacht aussetzen, daß sie es nun von rechts versuchten, ist noch nicht besonders groß, ihre Zahl nimmt dennoch aber erkennbar zu. Dem Weg des Publizisten Günter Maschke, der, einst Mitglied der Subversiven Aktion", angeblich durch seine Kuba-Erfahrung bereits Anfang der siebziger Jahre zum bekennenden Rechtsradikalen geworden ist, sind zunächst nur wenige gefolgt. Inzwischen jedoch sind es, wie ein in einem österreichischen Verlag unter dem Titel "Bye-Bye 68" erschienener Band belegt, in dem, wie es im Untertitel heißt, "Renegaten, APO-Abweichler und allerlei Querdenker" zu Wort kommen, eine ganze Reihe, die sich mit dem Abschiedsgruß schmücken. Wie weit sie dabei zu gehen bereit sind, zeigt eine zum Jahreswechsel herausgegebene "Kanonische Erklärung zur Bewegung von 1968", in der die Studentenrebellion mit dem 17. Juni 1953 verglichen und zum zweiten deutschen Aufstand gegen die Besatzungsmacht" umgedeutet sowie die RAF in die Tradition der Urburschenschaft eingebettet und zynisch-kokett in "Waffen-SDS" umbenannt wird.

Wohl kein anderer hat seine politische Kehrtwendung so konsequent vollzogen wie der Hamburger Reinhold Oberlercher. Der 55jährige ehemalige SDS-Sprecher, den der "Spiegel" 1967 als "Hamburgs Dutschke" charakterisierte, begreift sich als "Nationalmarxist". Fünf Jahre zuvor hat er unter dem Titel "Die 68er Wortergreifung" in den von Hans-Dietrich Sander herausgegebenen "Staatsbriefen" den Versuch unternommen, über seine "politische Jugendzeit Rechenschaft" abzugeben. Darin stellt der 1960 aus der DDR in den Westen Geflohene die These auf, daß die 68er-Rebellion "in ihrer geistigen Substanz von Ost- und Mitteldeutschen gegen Westdeutsche geführt" und "von den verratenen Teilen Deutschlands gegen die Verräter, gegen die Träger und Erhalter des Kollaborationsregimes der Westzone" durchgeführt worden sei. Während die "Mitteldeutschen" mit der "89er-Revolution" ihre historische Aufgabe, nämlich die DDR zu beseitigen, erledigt hätten, unterlägen die "Westdeutschen" noch einer "Bringschuld", die erst dann getilgt wäre, wenn auch sie ihr Besatzungsregime, die BRD, beseitigt und "die innere Einigung beider Volksteile vollzogen" hätten. Die Vernichtung beider deutscher Staaten, die er als Fremdherrschaft auf deutschem Boden stigmatisiert, ergäbe dann die Voraussetzung für die Restituierung des Deutschen Reiches. Auf der "Tagesordnung der Weltgeschichte" stehe so der "Sturz der Systemherrschaft überhaupt". Deren Herrschaft würde abgelöst durch eine Weltordnung, deren Völkerrechtssubjekte "nach dem Grundsatz Ein-Volk-ein-Staat" konstituiert seien. Nur durch eine "fundamentalistische Kulturrevolution" sei die Reichsidee zu erneuern und das Deutsche Reich wiederherzustellen. "Jeder 68er, der heute die westliche Wertegemeinschaft bejaht," schließt er seinen Gedankengang mit der schlichten Drohung, "ist ein Verräter."

Erst bei Oberlercher, ebenso wie Mahler bekennender Rechtshegelianer, wird deutlich, wohin die Reise wirklich gehen soll: In Richtung auf ein "Viertes Reich". Die Zeitphase zwischen 1945 und 1990 verkümmert aus dieser nationalrevolutionären Optik zu einer Art Interregnum zweier Besatzungsregime. DDR und BRD stehen danach als Initialien für die Unterjochung des deutschen Volkes. Mit dem Ende des einen fremden Staates auf deutschem Boden ist danach ein erster wichtiger Schritt unternommen; der zweite steht als "Bringschuld" der Westdeutschen noch an und der dritte, die Rückeroberung der Ostgebiete, steht mehr oder weniger unausgesprochen im Raume. Und für diesen Reanimierungsversuch des Deutschen Reiches soll die 68er-Rebellion beerbt werden. Als Kronzeugen für diese sinistre Unternehmung werden von Oberlercher, wie könnte es anders sein, Rudi Dutschke und Bernd Rabehl angeführt. Als Bestätigung wird eine Äußerung Rabehls zitiert, die im Februar 1994 auf einer Gedenkveranstaltung für Dutschke gefallen ist: "Unsere Vision war die nationale Befreiung. Wir kamen ja aus dem Osten." Gerade das Lakonisch-Selbstverständliche, das aus diesen Worten spricht, scheint den Reichsbefürworter zu stimulieren.

Gegen den Kursschwenk ehemaliger Gallionsfiguren der Berliner Studentenbewegung haben Alt-68er im Internet vor einiger Zeit eine eigene SDS-Website eingerichtet, in der unter der Überschrift "Nationalisten waren wir nie!" zu Protesterklärungen aufgerufen wird. Diese Distanzierung ist jedoch defensiv und rückwärts gewandt. Obwohl sie in der Abwehr des Neonationalismus in die richtige Richtung weist, kann sie nur wenig zur Klärung der 68er-Vergangenheit und zur aktuellen Auseinandersetzung beitragen. Insbesondere wird Rabehl durch die strikte Weigerung, die Bedeutung der nationalen Frage für Rudi Dutschke überhaupt zur Kenntnis nehmen zu wollen, die Möglichkeit geboten, die historisierenden Argumente für die Legitimierung seiner nationalrevolutionären Position auszubauen und damit seine an sich unhaltbare Position in dem Konflikt graduell zu verbessern.

Das grundsätzliche Problem der Unterzeichner besteht darin, daß sie offenbar auch zehn Jahre nach dem Mauerfall immer noch glauben, davon überzeugt sein zu können, es sei richtig gewesen, die Frage der deutschen Teilung der Rechten überlassen zu haben. Für diesen historischen Selbstbetrug, der mit einer partiellen Idealisierung der DDR einhergegangen ist, hat die bundesdeutsche Linke nach 1990 zu recht die Quittung präsentiert bekommen. Es ist eine Illusion, an den vermeintlich hehren Internationalismus von 1968 direkt anknüpfen zu wollen. Ebensowenig läßt sich die sogenannte nationale gegen die sogenannte soziale Frage ein weiteres Mal ausspielen. Die Vereinigung Deutschlands hat zwar zu einem Wiederaufleben von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, nicht aber zu einer Politisierung des Nationalen geführt. Die deutsche Einigung vollzog sich im Kontext der europäischen Integration. Diese Verklammerung hat die Gefahr, die von einer Renationalisierung hätte ausgehen können, maßgeblich entschärft. Einem solchen historischen Faktum, das insbesondere Helmut Kohl als Verdienst angerechnet werden muß, gilt es sich zu stellen. Der Teil der Linken, der sich aus biographischen wie aus historischen Gründen auf die Tradition des SDS beruft und sich zu recht gegen die Inanspruchnahme der 68er-Rebellion durch ehemalige Kombattanten für die neue Rechte zur Wehr setzt, darf sich kein weiteres Mal durch die Tabuisierung der Spaltung und die Ausklammerung des nun vereinigten Deutschlands ins historische Abseits stellen.

Mahler und Maschke, Oberlercher, und Rabehl: Wie auf einem Schachbrett, auf dem die Figuren von einer unsichtbaren Hand geführt werden, ordnen sich die Positionen neu zu. Was früher als revolutionär und linksradikal galt, das erscheint heute, nur unwesentlich verändert, als rechtskonservativ, als rechtsradikal oder gar als neofaschistisch. Der Substantialismus der Kategorien und der Essentialismus ihres argumentativen Einsatzes verraten, daß es hier weniger um eine Veränderung des Intellekts als um einen Ausbruch der Mentalität geht. Als seien politische Überzeugungen jahrzehntelang lediglich auf der Oberfläche von Programmen und Bekenntnissen hergetrieben worden, dringen nun auf einmal Entitäten vom Grund des Bewußtseinsstromes nach oben und beanspruchen mit Nachdruck ihren Platz in der Politik. Wer wie sie die politische Kultur als ein Besatzungsprodukt denunziert, der höhlt die parlamentarische Demokratie aus. Da Deutschland weder dazu in der Lage war, die Machtergreifung der Nazis zu verhindern noch einen wirksamen Widerstand während des Krieges zu entwickeln, bedurfte es "fremder Mächte", das geschlagene Land zu entnazifizieren und zu demokratisieren.

Franz Neumann, der als Sozialwissenschaftler für den amerikanischen Geheimdienst OSS arbeitete, hat in seinem 1942 in den USA erschienenen, bahnbrechenden Werk "Behemoth" die These vom Nationalsozialismus als Eliteherrschaft geprägt. Er ist darin zu der Überzeugung gekommen, daß die Spitzen von Partei, Staat, Wirtschaft und Militär "ein totalitäres Elitekartell" bildeten. Sein Ziel war es, die Macht der auf diesen vier Säulen ruhenden NS-Herrschaft zu brechen und damit die Voraussetzungen für die Entwicklung einer parlamentarischen Demokratie in der Nachkriegszeit zu schaffen. Auch wenn sich der Chefanalytiker unter den Bedingungen des ausbrechenden Ost-West-Konflikts mit seinen Einsichten nicht vollends durchsetzen konnte, so trug die Besatzungspolitik der USA in Deutschland anfangs doch deutliche Züge davon. Die US-Besatzungsmacht verfolgte die Absicht, die deutsche Gesellschaft zu entnazifizieren, die Wirtschaftskonzerne zu entflechten und die Re-education der deutschen Jugend durchzuführen.

Über den Erfolg dieser Maßnahmen der Besatzungsmächte läßt sich gewiß streiten. Unbestreitbar ist jedoch, daß die Etablierung der parlamentarischen Demokratie und einer mit ihr verbundenen westlich geprägten Kultur letztendlich erfolgreich war und diesem Land eine demokratisch gesicherte Stabilität verliehen hat. Es ist vor allem das Verdienst der Westmächte, insbesondere der USA und Großbritanniens, weniger Frankreichs, daß es zu keiner Neuauflage eines totalitären Regimes gekommen ist.

Im Unterschied zu anderen vergleichbaren Ländern hatte die 68er-Rebellion in der Bundesrepublik derartig starke Auswirkungen, weil sie einen Resonanzboden besaß, den es in keinem anderen Land gab und auch nicht geben konnte - die NS-Vergangenheit. Durch das politische Agieren im Schatten von Auschwitz nahmen staatliche und gesellschaftliche Problemstellungen eine existentielle Schärfe an, die man mit Ausnahme Japans, das seines kriegerischen Nationalismus wegen in einer bestimmten Hinsicht vergleichbar ist, vergeblich sucht. In der Bundesrepublik, deren Institutionen bis in das staatliche Führungspersonal hinein mit ehemaligen NS-Tätern durchsetzt waren, geriet noch die nebensächlichste politische Angelegenheit zur fundamentalen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des "Dritten Reiches". Bei nahezu jedem Konflikt, so schien es, lauerte der nationalsozialistische Abgrund.

Diese Disposition, daran kann inzwischen kein Zweifel mehr existieren, hat die damaligen Rebellierenden blind gemacht für die Errungenschaften der parlamentarischen Demokratie, die es selbst unter restaurativen Vorzeichen gegeben hat. Die Schlußfolgerung, daß das politische System, dessen Regierung mit Kurt Georg Kiesinger als Kanzler von einem früheren Nazi angeführt wurde, zwangsläufig ein semifaschistisches Gebilde sein müsse, war ein Kurzschluß. Die Entlarvung der NS-Vergangenheit einzelner Spitzenpolitiker hatte nicht nur die Kritik durch antifaschistische Gesinnung ersetzt, sondern eine enthüllende Personalisierung an die Stelle von politischer Analyse treten lassen. Mit dieser Vertauschung wurde der Grundstein für jene Serie politischer Niederlagen gelegt, die die bundesdeutsche Linke in den siebziger Jahren beziehen mußte.

Vieles spricht dafür, daß es, wie von dem kalifornischen Politikwissenschaftler Andrei S. Markovits befürchtet, paradoxerweise gerade die rot-grüne Regierungskoalition, die in ihrer Mehrheit die 68er-Generation repräsentiert, sein könnte, die einen Schlußstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen wird. Gerade der mit der Verweigerung symbolischer Akte einhergehende Pragmatismus der Regierung Schröder nährt den Verdacht, daß sie die historische Verantwortung für das Geschehene am liebsten wie ein unpassend gewordenes Kleid ablegen möchte.

Zu dieser Einschätzung paßt auch eine der ersten Äußerungen, die Schröder nach seiner Wahl zum Kanzler gemacht hat. Selbstbewußt erklärte er in "Talk im Turm", daß das von seiner Regierung repräsentierte Deutschland "unbefangen", ja "in einem guten Sinne vielleicht sogar deutscher" sein werde. Und als die Kritiken zur Friedenspreisrede Martin Walsers herniederprasselten, sprang ihm der frischgebackene Regierungschef mit der doppelsinnigen Bemerkung bei, ein Schriftsteller müsse "das sagen dürfen", ein Bundeskanzler hingegen nicht. Mit anderen Worten: Schröder billigt, was Walser bekannt hat. Der einzige Unterschied besteht darin, daß Schröder glaubt aus Rücksichtnahme auf seine staatspolitische Rolle auf ein direkteres Bekenntnis verzichten zu müssen.

Walsers Bekenntnis bestand bekanntlich darin, wieder stolz sein zu können, ein Deutscher zu sein, ohne dabei von Gewissensskrupeln geplagt zu werden. Beabsichtigt wurde, die vermeintliche Normalität der eigenen Nation zurückzugewinnen. Deshalb mußte er von "Meinungssoldaten" und "Meinungsdienst" sowie einer "Moralkeule" und "vorgehaltener Moralpistole" zetern. Denn Auschwitz stellt für ein als erneuerungsbedürftig angesehenes nationales Selbstwertgefühl eine Blockade dar, die sich bislang als unüberwindbar erwiesen hat. Obwohl die durch Walsers Rede ausgelöste Debatte über Monate hinweg durch die Gazetten geisterte, ist darin übersehen worden, daß sie mit antiwestlichen Affekten gespickt war.

Seine Gefühle gehören vor allem dem unter seinem Tarnnamen "Topas" bekanntgewordenen Ex-DDR-Spion Rainer Rupp. Daß dieser arme Mann, den Walser als "idealistischen Altachtundsechziger" und "idealistisch-sozialistischen Weltverbesserer" charakterisiert, im Gefängnis sitzen muß, scheint ihn offenbar um den Schlaf zu bringen. Seine an den Bundespräsidenten gerichtete Aufforderung, Rupp "um des lieben Frieden willens" freizulassen, ist jedoch nicht als Zeichen von Solidarität, Altruismus oder fehlgeleiteter Nächstenliebe mißzuverstehen. Dahinter verbirgt sich ein nationales Motiv. So wie Deutsche nicht auf Deutsche schießen sollten, so sollte ein deutscher Staat keinen seiner Bürger bloß deshalb wegen Spionage verurteilen, weil sie für einen anderen deutschen Staat gespitzelt hätten. Walsers Forderung, Ost-Spione sollten ebenso wie West-Spione straffrei bleiben, zeichnet sich nicht durch ein besonderes Gerechtigkeitsgefühl aus, sondern durch die Höherbewertung des Nationalen gegenüber den verschiedenen politischen Systemen und deren unterschiedlichem Freiheits- und Demokratieverständnis.

Walser erinnerte in diesem Zusammenhang auch an eine in vielfacher Hinsicht bedenkliche Rede, die er 1977 in Bergen-Enkheim gehalten hatte. Dort hatte er verkündet, man dürfe "die BRD so wenig anerkennen wie die DDR", man müsse "die Wunde namens Deutschland offenhalten". In der Verwendung der Blutmetaphorik verrät sich, was den Schriftsteller wirklich bewegt. Die Nation, die er nicht länger an den Pranger gestellt sehen möchte, ist in seiner Sicht von einem Opfermal gezeichnet - damit ist aus dem Land der Täter insgeheim eines der Opfer geworden.

Die Äquidistanz, die Walser gegenüber der BRD wie gegenüber der DDR auch heute noch, ein Jahrzehnt nach der Auflösung der DDR, einzunehmen können glaubt, ist eine unverhohlene Mißtrauenserklärung gegenüber der Bundesrepublik - der verbale Anschlag eines Dichters auf die Verfassung, verübt im Symbol der von Anfang an gefährdeten deutschen Demokratie, der Paulskirche.

Die Westorientierung, die mit einem Jahrzehnt Verspätung auch von der Sozialdemokratie nachvollzogen wurde, war die Klammer um die Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik. Zugleich hat sie für eine grundlegende Veränderung der politischen Kultur gesorgt, die die Exponenten des christlichen Abendlandes in der Regierung Adenauer gewiß nicht für möglich gehalten hätten.

Nun aber besteht die Aufgabe in der Außen- und Sicherheitspolitik darin, mit der Osterweiterung der Europäischen Union und der NATO einen Prozeß zu vollziehen, der als Abrücken von der Westorientierung, als eine Reaktivierung der Mittellage und als Neuauflage einer deutschen Hegemonialrolle mißdeutet werden könnte.

Der zentrale Widerspruch für die neue, die seit 1990 erweiterte Bundesrepublik besteht darin, wie eine nordatlantische Grundorientierung, die sich der Systemeinbindung aus der Ära des Ost-West-Konflikts verdankt, in eine europaintegrative Option transformiert werden könnte, ohne aufgelöst werden zu müssen. Vor einem Monat hat der frühere 68er und heutige Bundesaußenminister Joschka Fischer eine Ansprache vor dem Europaparlament in Straßburg mit einem Satz beendet, der die Richtung vorgeben könnte: "Es wird die Aufgabe unserer Generation sein, dieses Europa der Integration zu vollenden."

Eine Bewährungsprobe für diese historische Aufgabenstellung wird darin bestehen, wie sich diese Generation, die einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die mediale Öffentlichkeit besitzt, in dem seit langem schwelenden Konflikt um den Kosovo, der nun zum offenen Krieg geworden ist, verhalten wird.

1999