Die »Schlacht am Tegeler Weg« in Berlin-Charlottenburg wurde
legendär, weil sich die Demonstranten eben nicht von der Polizei
verprügeln ließen. Das geschah am 4. November 1968 im Verlauf einer
Demonstration, die sich gegen das Ehrengerichtsverfahren von Horst
Mahler richtet. Drei Tage später berief der Westberliner SDS eine
Pressekonferenz ein, auf der Christian Semler erklärte: »Wenn wir
überhaupt ernsthaft an so etwas wie die Verwirklichung der
Justizkampagne glauben, dann müssen wir ein abgestuftes System von
Gewaltanwendung ins Auge fassen.«
Am Abend sekundierte ihm Jürgen Horlemann im Audimax der FU vor 1500
Leuten, die militante Demonstration am Landgericht habe den »Opfern
der Justiz« bewußt gemacht, daß »sie sich aus der lange eingeübten
Lage der Opfer befreien können.« Und Peter Gäng (SDS) wertete die
Aktion als ersten direkten Angriff auf den Staatsapparat.
36 Jahre später erinnerte sich Christian Semler mit etwas
veränderten Akzentuierung an das Schlachtgetümmel: »Das war eine
existentialistische Geschichte, die Leute sind so oft verprügelt
worden, ich auch, daß wir mal den Spieß rumgedreht haben. Ich hab
dann den Fehler gemacht, (...) zu sagen, das sei eine neue Stufe der
Militanz. Was ich gemeint habe, war: Wir lassen uns nicht dauernd
verprügeln.«
Fehler hin oder her: Mit den brutalen Staatsgewalterfahrungen aus
der Westberliner Revolte der Jahre 67-69 im Gepäck zog Semler für
die darauffolgende Dekade seine politischen Konsequenzen. Gemeinsam
mit anderen skizzierte er die Neugründung einer Roten Hilfe und – so
der zeitgenössische Begriff – baute eine an Mao ausgerichtete
offensive Kommunistische Partei auf. Was auch immer man von der
Politik dieser Partei, der KPD/AO, halten mag: Zu erinnern ist an
die vorbildliche Besetzung des Bonner Rathauses im April 1973, um so
wirksam den Ablauf des Besuches des südvietnamesischen
Staatspräsidenten Nyguen van Thieu bei der Bundesregierung
durcheinanderzubringen.
Man habe in dieser Zeit als Funktionär »mit achthundert Mark netto
im Monat« gelebt, sollte er sich später erinnern, »damit kam man hin
in den 70er Jahren, wenngleich knapp«. Mit seinen kommunistischen
Anstrengungen ging es Semler nach eigenen Worten um den »verzweifelten
Versuch«, wieder an die »Tradition der revolutionären deutschen
Arbeiterbewegung« anzuschließen: »Wir wollten mit den Toten sprechen.
Wir wollten dort weitermachen, wo sie aufgehört hatten.« Über dieses
Anliegen wird sich in den Nachrufen auf Semler pikiert geäußert und
auch lustig gemacht. Daran ist aber nichts verwerflich. Und deshalb
sei dem am Mittwoch im Alter von 74 Jahren Verstorbenen maoistisch
gewendet nachgerufen:
»Das du jetzt nicht mehr unter den
Lebenden weilst, Genosse Semler, ist schlecht und nicht gut! Wir
verlangen eine Selbstkritik!«
Die Zitate sind »Was war links?«, einer vierteiligen Dokumentation
von Andreas Christoph Schmidt aus dem Jahre 2003 entnommen;www.youtube.com/watch?v=dfGJMORJa8o