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Das Delirium: Danys offener Latz

 

Im Mai 1968 hat Daniel Cohn-Bendit eine hübsche Figur gemacht, als er verschmitzt einem Pariser Polizisten ins Gesicht grinste. Das Schwarzweiß-Foto, das den sommersprossigen "Dany le Rouge" in dieser Pose auf den Barrikaden zeigt, gehört zu den "Mythen des Alltags" jener Zeit. Doch nicht Roland Barthes' gleichnamiges kleines Meisterwerk ziert das Foto. Dany lacht vielmehr auf einem Band der Seminare Jacques Lacans, der den Titel trägt L'envers de la psychanalyse, was soviel heißt wie "Jenseits der Psychoanalyse" - eine Variation auf Freuds Abhandlung Jenseits des Lustprinzips. Jenseits des Lustprinzips herrscht bekanntlich der Todestrieb, aber was herrscht jenseits der Psychoanalyse? Die Revolte. Und es ist durchaus eine lohnenswerte Frage, ob die 68er-Revolte eher auf Seiten des Todestriebs oder auf Seiten des Lustprinzips anzusiedeln ist beziehungsweise war.

Was uns Deutschen zur Zeit die Zerreißprobe um Joschka Fischers Steinwurf aus dem Jahr 1973 auf einen Polizisten ist (wohl eher dem Todestrieb zuzurechnen), ist den Franzosen die Zerreißprobe um Daniel Cohn-Bendits unvorsichtiges, im Rausch der Diskurse gemachtes Bekenntnis, sich von Frankfurter Kita-Kindern gelegentlich den Hosenlatz geöffnet haben zu lassen (hier gab wohl eher das Lustprinzip den Ton an). Die Zeilen, aus Provokation geschrieben, wie Cohn-Bendit heute sagt, sind kürzlich von interessierter Seite wieder einmal exhumiert worden; sie stehen in dem Buch Le Grand Bazar, 1975 erschienen. In einem Jahrzehnt also, von dem heute plötzlich alle meinen, es sei ein einziges Delirium gewesen.

Wenn dem so war - was ja nicht stimmen muss -, dann wäre jedenfalls das Delirium das Objekt der Begierde gewesen, und der Steinwurf gegen die Staatsmacht oder das grenzüberschreitende, erotisch angehauchte Bekenntnis über die Verführbarkeit durch Kinder bloß Mittel zum Zweck jenes Deliriums; eines Deliriums, dem die intellektuellen Größen der Zeit - ob Foucault, Sartre oder Guattari - das Wort geredet haben. "Die Geschichte dieser Ideen-Bewegung ist noch zu schreiben", gibt Roger-Pol Droit nun in Le Monde zu bedenken.

Während bei uns die Gewaltfrage verniedlicht wird, indem man sie gar nicht mehr zulässt, schauen die französischen Medien der Sexualfrage direkt ins Auge. Nachdem Libération, die aus der 68er-Bewegung hervorgegangene Tageszeitung, sich jüngst einer kritischen Selbstbefragung unterzogen und festgestellt hat, dass auch in ihren eigenen Reihen die Grenzen zur Pädophilie nicht immer erkannt worden seien, stellt Le Monde ein Dossier zusammen, das auf beeindruckende Weise vernünftig ist: Die "Befreiung der Kinder", die "Anerkennung ihrer Sexualität", ihrer "Autonomie" - das seien die (naiven) Leitmotive gewesen, die das antiautoritäre Denken und Hoffen damals gelenkt hätten; wobei man sich auf vornehme Quellen berufen zu können glaubte, Freud & Marx. Genauso wie Cohn-Bendits jetzt ausgegrabenes "Bekenntnis", gehören die Kursbuch-Protokolle über Gutenachtrituale der Kommune-I-Leute mit WG-Kids in diesen Kontext. Heute pflegt man Kinder gern als Opfer zu sehen. Auch diese (hysterische) "Ideen-Bewegung" wird eines Tages geschrieben werden müssen. I.H.

 

ZUR PERSON

 

Joschka Fischer: Bücherklau

 

Der Bundesaußenminister gibt keine konkrete Stellungnahme zu dem Vorwurf, er habe um 1970 herum mehrfach "Bücherklau" begangen, und zwar ausgerechnet beim ebenfalls linksgerichteten Stuttgarter Buchhändler Wendelin Niedlich. Über Fischers bisher abgegebene Erklärungen zu seiner Vergangenheit hinaus sehe die Bundesregierung zu weiteren Äußerungen keinen Anlass, heißt es in der Antwort auf eine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion, die neben anderem auch diese Vorgänge von vor 30 Jahren thematisiert hatte. In der Stuttgarter Lokalpresse kommen indessen damalige Weggefährten Fischers zu Wort, wonach der heutige Grünen-Politiker damals nicht nur für den Privatgebrauch, sondern auch für den Lebensunterhalt stahl: Einen Teil der Beute habe er regelmäßig vor der Mensa in Frankfurt verkauft. Einmal, so die Aussage eines Anonymus laut Stuttgarter Nachrichten, sei "von Frankfurt aus ein regelrechter Raubzug durch Süddeutschland gestartet" worden. Niedlich selbst, der nach eigenen Angaben erst durch Michael Schweliens Fischer-Biographie vor einem Jahr von dessen Buchdiebstählen erfuhr, wird mit dem Satz "Dieser Herr war ein ziemlich gemeiner Dieb" zitiert. In seinem über Stuttgart hinaus bekannten Laden hatte sich Niedlich mit Nachdruck gegen den offenbar beliebten Bücherdiebstahl gewehrt, unter anderem mit dem Schild "Wer hier klaut, hat nichts verstanden". (he)

 

FR vom 2.3.2001