home

zurück

 
 

SDS-Website

 
 

 

Die Bevölkerungswaffe der Islamisten
 
VON PETER SLOTERDIJK
 
Hunderte Millionen junger Männer in der arabischen Welt besitzen nichts
als ihren Zorn. Der radikale Islamismus ist deshalb die erste
rachdurstige Ideologie der Weltgeschichte. Sie ist nur auf Zerstörung
ausgelegt

Zunächst schienen die Islamisten nicht mehr zu sein als freche Parasiten
der postkommunistischen Konstellation. Kein Mensch wäre zur Zeit ihrer
ersten Auftritte auf den Gedanken gekommen, hier formiere sich so etwas
wie ein dritter Katholizismus oder eine orientalische Alternative zum
Kommunismus.
 
Nichtsdestoweniger gelang es den islamistischen Aktivisten, sich dem
Westen der postbipolaren Ära, zuerst den USA, dann dem hilflosen Europa,
quasi von einem Tag zum anderen als Feindsubstitut aufzudrängen. In
dieser Rolle wurden sie von Anfang an ambivalent interpretiert.
 
Für die tragischen Politologen, die von der Notwendigkeit, immer einen
Feind zu haben, überzeugt sind, kam die Wut des Islamismus einem
Geschenk des Himmels gleich. Obschon materiell zunächst nicht besonders
gefährlich (solange seine Agenten keinen Zugang zu ABC-Waffen erhalten
und die Migrationskontrolle hinreichend streng bleibt), hält er den
psychopolitischen Tonus der irritierten Kollektive im Westen auf der
gewünschten Höhe. Für die Anhänger der liberalen Idylle hingegen bleibt
der islamistische Terror ein unwillkommener Gast - gewissermaßen ein
verrückter Sprayer, der die Fassaden der feindlosen Gesellschaft mit
obszönen Botschaften verunstaltet.
 
Doch wie auch immer man die ambivalente Aufnahme des neuen Terrors durch
seine westlichen Adressaten beurteilen mag: Er wäre nie so schnell über
den Rang eines lästigen Randphänomens (allenfalls eines politischen
Gewittervorboten) hinausgekommen, hätte er nicht als interessanter
Posten bei der Neuberechnung der Kosten für den sozialen Frieden
westlicher Gesellschaften in die Bilanzen eingehen können. Während die
kommunistische Drohung, wie bemerkt, eine bedeutende Erhöhung der
sozialen Friedenskosten zur Folge hatte, gehen von der Drohung des
islamistischen Terrors summarisch kostensenkende Wirkungen aus.
 
Indem er das angegriffene Kollektiv imaginär unter Streß setzt, trägt er
dazu bei, daß sich in diesem, trotz jüngst wieder enorm vertiefter
sozialer Differenzen, das Gefühl ausbildet, einer realen
Solidargemeinschaft, das heißt einer um ihre Zukunft ringenden
Überlebenseinheit, anzugehören, Zudem erzeugt der neue Terror dank
seiner undifferenzierten Feindschaft gegen die Lebensart des Westens ein
Klima diffuser Einschüchterung, in der die Fragen der politischen und
existenziellen Sicherheit einen deutlichen Vorrang vor solchen der
sozialen Gerechtigkeit erlangen - quod erat operandum.
 
Mit der Überhöhung des sekuritären Imperativs zum alles beherrschenden
Motiv der aktuellen Mediendemokratien hat sich der Zeitgeist nach dem
11. September 2001 auf ein neues Ökosystem von Drohungen und
Abwehrmaßnahmen umgestellt - wobei für diesmal, so frivol es klingt, die
Bedrohungstendenzen des islamistischen Terrors aus der Sicht des
radikalisierten Kapitalismus summarisch "in die richtige Richtung"
deuten. Sich aus den mittlerweile wohlbekannten nahöstlichen Quellen
bedroht fühlen bedeutet jetzt: Gründe sehen, warum man eventuell bereit
sein könnte, sich mit dem Abdriften der westlichen politischen Kultur in
postdemokratische Zustände abzufinden.
 
Der war on terror besitzt die ideale Eigenschaft, nicht gewonnen werden
zu können - und daher nie beendet werden zu müssen. Diese Aussichten
verheißen den postdemokratischen Trends ein langes Leben. Sie schaffen
die Voraussetzungen, unter denen sich demokratisch gewählte Staatsführer
ungestraft als Oberkommandierende gebärden können. Wo das politische
Denken sich auf Beratungen des Oberkommandos beschränkt, sind Konzepte
wie Demokratie und unabhängige Rechtskultur nur noch Chips in einem
strategischen Spiel.
 
DIE PSYCHOPOLITISCHEN SCHICKSALE der Vereinigten Staaten von Amerika
während der ersten und zweiten Bush-Administration illustrieren diese
Zusammenhänge mit einer Fülle unmißverständlicher Beispiele. Binnen
weniger Jahre wurde die Welt Zeuge, wie eine dissensfrohe Demokratie
unter der wissentlich und willentlich heraufbeschworenen Fiktion des von
der ganzen Nation zu führenden Überlebenskrieges ein jähes Artensterben
auf dem Gebiet der politischen Meinungsvielfalt erlebte: Über Nacht
geriet das politische Feld der Nation unter den Einfluß
homogenisierender Kräfte. Realen Kriegen gleich kommt es auch in dieser
drole de guerre zu einer Paralyse der inneren Opposition durch den
patriotischen Imperativ. Diese Entwicklung ist zu einem gut Teil das
Werk der neokonservativen Mullahs in den USA, die keine Hemmungen
kennen, vollmundig das Schreckgespenst eines "vierten Weltkrieges" zu
beschwören, um nach Möglichkeit jeden Ansatz zu neuen
innerkapitalistischen Oppositionsbildungen angesichts wachsender
sozialer Ungleichheiten zu ersticken.
 
Bei der Untersuchung der Neuverteilung der Drohpotentiale auf den
geopolitischen Karten der Gegenwart liegt es nahe, die Frage zu stellen,
auf welche Weise die viel beschworene islamistische Gefahr eigentlich
verstanden werden muß. Durch welche Medien wirkt sie in das
psychopolitische Gefüge des Westens und der islamischen Staaten? Birgt
sie tatsächlich das Potential, "den Kommunismus als Weltdogma
abzulösen", wie man es in radikalislamistischen Kreisen zwischen Khartum
und Karachi seit einem Jahrzehnt nicht nur hinter verschlossenen Türen
zu hören bekommt? Das neue Gespenst, das in Europa, den USA und anderen
Weltgegenden umgeht - woraus bezieht es seine Drohgewalt, die es den
Führern der etablierten Mächte unheimlich macht? Kann sich der
politische Islam - ob er nun mit einer terroristischen Komponente
auftritt oder ohne solche - zu einer alternativen Weltbank des Zorns
entfalten?
 
Wird er zu einer global attraktiven Sammelstelle antisystemischer oder
postkapitalistischer Energien? Läßt sich der Islamismus überhaupt in
Anspruch nehmen für die Fortschreibung der ermüdeten westlichen großen
Erzählungen von der Erhebung der Erniedrigten und Beleidigten gegen ihre
Herren, alt und neu? Genügt es, den Begriff Dschihad so lange zu
meditieren, bis aus ihm ein Pseudonym für Klassenkampf geworden ist?
 
Oder besitzen die Fronten, die aus den Aufbrüchen der islamischen Welt
emergieren, nicht einen Eigensinn, der sich nur um den Preis von
Mißverständnissen und Verzerrungen verträglich machen läßt mit den
westlichen Erzählfiguren der fortgehenden Revolution, der sich
verallgemeinernden Emanzipation und der progressiven Verwirklichung von
Menschenrechten?
     
Was den politischen Islam als möglichen Kommunismusnachfolger
qualifiziert, sind drei Vorzüge, die man in analoger Weise am
historischen Kommunismus wahrnehmen konnte. Der erste entspringt dem
Umstand, daß dem Islamismus eine mitreißende Missionsdynamik inhärent
ist, die ihn dazu prädisponiert, ein rasch anschwellendes Kollektiv aus
mehrheitlich Neubekehrten, das heißt eine "Bewegung" im engeren Sinn des
Wortes, zu bilden. Nicht nur wendet er sich quasi universalistisch "an
alle", ohne Diskriminierung der Nationen und sozialen Klassen, er übt
gerade auf die Benachteiligten, Unschlüssigen und Empörten (sofern sie
nicht weiblichen Geschlechts sind, und manchmal auch auf dieses) eine
besondere Anziehung aus. Er tut dies, indem er als Sachwalter der
spirituell und materiell vernachlässigten Armen auftritt und als Herz
einer herzlosen Welt Sympathien erwirbt. Die Anspruchslosigkeit der
Aufnahmebedingungen spielt hierbei eine entscheidende Rolle.
 
Sobald eine Person in die Reihen der Gläubigen aufgenommen wurde, ist
sie schon ohne weiteres im Sinne der kämpfenden Gemeinschaft
verwendungsfähig - in manchen Fällen auch gleich als Märtyrer. Den
Neuankömmlingen vermittelt das Eintauchen in eine vibrierende Kommune
häufig das Gefühl, erstmals eine wirkliche Heimat gefunden zu haben und
eine nicht gleichgültige Rolle in den Dramen der Welt zu spielen.
 
DIE ZWEITE ATTRAKTION des politischen Islam geht von der Tatsache aus,
daß er - wie vor ihm nur der Kommunismus - seinen Gefolgsleuten ein
übersichtliches, kampfbetontes und grandios-theatralisches ,Weltbild" zu
offerieren vermag, das auf einer harten Unterscheidung von Freund und
Feind, einem unmißverständlichen Siegesauftrag und einer berauschenden
utopischen Schlußvision beruht: der Wiederaufrichtung des Weltemirats,
das dem islamischen Millennium eine globale Heimstätte bieten solle, von
Andalusien bis zum Fernen Osten. Damit wird die Figur des Klassenfeindes
durch die des Glaubensfeindes und die des Klassenkampfes durch die des
Heiligen Krieges ersetzt - unter Beibehaltung des dualistischen Schemas
vom Krieg der Prinzipien, eines unvermeidlich langen und opferreichen
Krieges, in dessen letztem Gefecht wie üblich die Partei des Guten zu
siegen berufen ist.
 
Der so genannte Fundamentalismus in politischem Gebrauch stellt, wie man
leicht erkennt, weniger eine Sache des Glaubens dar als eine der
Rufreizung zum Handeln, genauer der Bereitstellung von Rollen, durch
welche große Zahlen potentieller Akteure in den Stand gesetzt werden,
von der Theorie zur Praxis überzugehen - eher noch von der Frustration
zur Praxis. Allgemein gilt hier, was die demografische Forschung ans
Licht gehoben hat.-" Die Religion liefert ... zusätzliches Öl für ein
Feuer, dessen Ausgangsbrennstoff nicht von ihr stammt. Als Matrix
radikaler Aktivierungen ist der Islamismus dem historischen Kommunismus
ebenbürtig, möglicherweise überlegen, da er sich gegenüber seiner
Herkunftskultur nicht als Bewegung des radikalen Bruchs, sondern der
revolutionären Wiederherstellung präsentieren kann."
 
Der dritte und politisch bei weitem bedeutendste Grund für die
unvermeidlich wachsende Dramatik des politischen Islam (auch wenn er zur
Stunde, nach einer Serie von Niederlagen, von seiner ersten
Attraktivität einiges verloren zu haben scheint) ergibt sich aus der
demografischen Dynamik seines Rekrutierungsfeldes.
 
Wie die totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts stellt er essentiell
eine Jugendbewegung, spezieller eine Jungmännerbewegung dar. Sein Elan
resultiert zum größten Teil aus dem Vitalitätsüberschuß einer
unaufhaltsam anschwellenden Riesenwelle von arbeitslosen und sozial
hoffnungslosen männlichen Jugendlichen zwischen fünfzehn und dreißig
Jahren - mehrheitlich zweite, dritte, vierte Söhne, die ihren
aussichtslosen Zorn nur durch die Beteiligung an den nächstbesten
Aggressionsprogrammen ausleben können. Indem die islamistischen
Organisationen in ihren Basisländern Gegenwelten zu den bestehenden
Ordnungen schaffen, kreieren sie Gitter von alternativen Positionen, in
denen sich zornige junge Männer mit Ambitionen wichtig fühlen dürfen -
dazu gehört der Drang zum Losschlagen gegen nahe und ferne Feinde,
lieber heute als morgen.
 
Diese zahlenmäßig enormen Gruppen bilden die natürliche Gefolgschaft von
Agitatoren aus der älteren Generation, deren Predigtstoffe sich wie von
selbst aus der Empörungsbereitschaft ihrer Klientel ergeben - wobei die
islamische Tradition lediglich die semantischen Formen zur Vertextung
von aktuellen Wut- und Gewaltspannungen bereitstellt.
 
Einem Laborversuch ähnlich, konnte man diese Verhältnisse bei der
Anzettelung der "spontanen Unruhen" wegen der dänischen
Mohammed-Karikaturen im Februar 2006 beobachten. Während sich brave
Europäer über Entschuldigungen bei vorgeblich oder wirklich beleidigten
Muslimen den Kopf zerbrachen, drehten anonyme Aktivisten im Irak weiter
am Rad der Provokation oder besser: der kriegerischen
Selbststimulierung, indem sie die Goldene Moschee von Samarra, eines der
wichtigsten schiitischen Heiligtümer nördlich von Bagdad, durch einen
Bombenanschlag zerstörten, mit dem Ergebnis, daß bei Gegenangriffen
Dutzende sunnitischer Gotteshäuser verwüstet wurden. Die Vorgänge
sprechen eine deutliche Sprache. Sie sagen mehr über den Anlaßhunger der
zum Losschlagen bereiten Gruppen als über einen vorgeblich
unausweichlichen Konflikt der Kulturen. Es täte den Agitatoren leid,
wenn sie zur Kenntnis nehmen müßten, daß es den äußeren Anlaßgebern
wirklich leid tut. 
 
In dieser Sicht ist es zulässig zu sagen, daß der Islam, in
islamistischer Verwendung, sich zu einem religiösen Readymade wandeln
konnte, das sich ausgezeichnet zu mobilisatorischen Zwecken eignet.
Seine Tauglichkeit hierzu geht auf Merkmale der muslimischen
Glaubenslehre zurück, die von Anfang an den Kampf gegen die
"Ungläubigen" auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Der unvorbereitete
Leser des Korans kommt nicht umhin zu staunen, wie ein heiliges Buch
ohne Furcht davor, sich selbst zu dementieren, nahezu auf jeder Seite
den Feinden des Propheten und des Glaubens die Pein ewigen Feuers
anzudrohen vermag.
 
Über dieses Befremden helfen auch die Erklärungen der Gelehrten kaum
hinweg, die die polemischen Passagen des Korans aus dem historischen
Kontext herleiten wollen: Der Prophet übe da eine Art von
frühsozialistischer Kritik an den Reichen seiner Zeit, den arroganten
und rücksichtslosen Händlern von Mekka, die nichts mehr hören wollten
von den egalitären und generösen Werten der altarabischen Stammeskultur.
An diese habe Mohammeds Lehre angeknüpft, als er sein Gefolge zur
Fürsorge für die Schwachen verpflichtete. Auch der zunächst plausibel
scheinende Hinweis auf das monotheistische Privileg des Eiferns für Gott
und gegen die Ungläubigen liefert keine ganz zureichende Erklärung, da
ebenso evident ist; Kein Mensch würde sich um die dunklen Koranstellen
kümmern, wären da nicht die Millionen zählenden gewalthungrigen
Gottsucherbanden, die sich die Worte zu ihren kommenden Taten
zurechtlegen (indessen die vergleichbar heißen Stellen der
alttestamentarischen Rachepsalmen das spärliche Publikum von Kirche und
Synagoge seit langem kalt lassen).
 
DIE NEUEN MOBILISATIONEN - ob sie nun korantheologisch legitim sind oder
nicht - könnten, bei gleich bleibend hohen Geburtenraten, allein in der
arabischen Hemisphäre bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts ein Reservoir
von mehreren hundert Millionen junger Männer beeinflussen, die einen
existentiell attraktiven Sinnhorizont wahrscheinlich allein im Aufbruch
zu politisch-religiös bemäntelten Selbstvernichtungsprojekten finden. In
Tausenden von Koranschulen, die jüngst überall aus dem Boden gestampft
werden, wo es aufkochende Jungmännerüberschüsse gibt, werden die
unruhigen Scharen in den Begriffen des Heiligen Krieges gedrillt. Nur
ein kleiner Teil hiervon wird sich im externen Terrorismus manifestieren
können, der bei weitem größere dürfte in lebenverbrauchende Bürgerkriege
auf arabischem Boden investiert werden - Kriege, von denen das
iranisch-irakische Massaker von 1980 bis 1988 einen Vorgeschmack gegeben
hat, bei denen allerdings die quantitativen Proportionen vorhersehbar
ins Monströse anwachsen. Riesenhafte Vernichtungsschlachten zwischen
schiitischen und sunnitischen Kriegsparteien sind nicht undenkbar - die
Zerstörungen von Moscheen und heiligen Stätten der jeweils anderen Seite
liefern hierzu allem Anschein nach das Vorspiel.
 
Daß Israel weitere Bewährungsproben vor sich hat, ist nicht zu
verkennen. Ohne eine weitsichtige Politik der Abschottung kann die
jüdische Enklave die nächsten Jahrzehnte nicht überstehen. Die Wahrheit
ist: Selbst Kenner der Lage besitzen heute nicht die geringste
Vorstellung davon, wie der machtvoll anrollende muslimische youth bulge,
die umfangreichste Welle an genozidschwangeren Jungmännerüberschüssen in
der Geschichte der Menschheit, mit friedlichen Mitteln einzudämmen
wäre.
 
Diese Hinweise auf die aktuelle Massenbasis radikalislamistischer
Bewegungen bezeichnen zugleich die Grenze, an der ihre Vergleichbarkeit
mit dem historischen Kommunismus endet. Die heutigen wie die kommenden
Träger des islamistischen Expansionsgedankens gleichen in keiner Weise
einer Klasse von Arbeitern und Lohnempfängern, die sich
zusammenschließen, um durch die Eroberung der Staatsmacht ihrer Misere
ein Ende zu setzen.
 
Viel eher stellen sie ein aufgebrachtes Subproletariat dar, schlimmer:
eine desperate Bewegung aus ökonomisch Oberflüssigen und sozial
Unverwendbaren, für die es in ihren eigenen Systemen viel zu wenig
akzeptable Positionen gibt, selbst wenn sie durch Staatsstreiche oder
Wahlen an die Macht gelangten. 
 
Aufgrund der demografischen Gegebenheiten werden die Feindbilder solcher
Bewegungen nicht soziologisch zu definieren sein, wie es bei der
marxistisch begriffenen "Ausbeuterklasse" der Fall war, sondern nur
religiös, politisch, kulturell - sie richten sich intern gegen die in
den Augen der Aktivisten verachtungswürdigen Eliten, die dem Westen
politisch zu weit entgegenkommen, extern gegen den Westen als solchen,
sofern dieser als Inbegriff kränkender, zersetzender und obszöner
Kulturimporte porträtiert wird. Naturgemäß werden ihre Führer früher
oder später den Versuch wagen, die Rentenstaaten des Vorderen Orients in
ihre Gewalt zu bekommen, um die Kommandohöhen der Umverteilung von
riesenhaften, auf dem Erdölgeschäft beruhenden Reichtümern zu besetzen.
Damit könnten sie ihre Klientel vorübergehend durch Teilhabe am Ölmanna
beruhigen. Da die steigenden Energiepreise der nächsten Jahrzehnte der
provozierenden Reformfaulheit der bestehenden Öltheokratien zu Hilfe
kommen, sind Aufstände in diesen Ländern mehr als wahrscheinlich.
 
Der Kasus Iran hat vorgemacht, was dann geschieht.
 
Sosehr es also zutrifft, daß die islamistische Theokratie auf dem formal
und materiell totalitären Anspruch beruht, alle Lebensvollzüge in einer
virtuell islamisierten Weltgesellschaft nach koranischem Recht zu
ordnen, so wenig wäre sie imstande, den ökonomischen, politischen,
technischen und künstlerischen Tatsachen des gegenwärtigen Zeitalters zu
begegnen. Während der Kommunismus eine authentische Ausprägung
westlicher Modernisierungstendenzen verkörperte, ja, in einigen
Hinsichten, obschon nicht in ökonomischer, deren Avantgarde bildete,
stehen dem politischen Islamismus seine Ungleichzeitigkeit gegenüber der
modernen Welt und seine gegenmoderne Grundhaltung an die Stirn
geschrieben - hierzu gehören seine gebrochene Beziehung zur globalen
Wissenschaftskultur und sein durchgängig parasitäres Verhältnis zur
Waffentechnologie des Westens.
 
Daran vermag die extreme demografische Dynamik der islamischen Welt fürs
Erste nichts zu ändern, deren Einwohnerschaft sich zwischen 1900 und
2000 von 150 Millionen auf 1,2 Milliarden vermehrte - was einer
Verachtfachung entspricht. Die "Bevölkerungswaffe" ist zwar, wie Gunnar
Heinsohn gezeigt hat, neuzeitlicher Herkunft, sie muß sich aber bei
fehlenden Expansions- und Auswanderungschancen gegen ihren Besitzer
wenden.
 
Wenn einer der Hamas-Führer, der palästinensische Arzt Abdel Aziz
Rantisi, jüngst verkündet, das kommende Jahrhundert werde das
Jahrhundert des Islam sein, unterläuft ihm die zeitübliche Verwechslung
von Kultur und Biomasse. Recht behalten könnte er nur in dem
unwahrscheinlichen Fall, daß der islamischem Welt als Ganzer in Kürze
der Ausgang aus ihrer selbst verschuldeten Rückständigkeit gelänge. Wie
dies vonstatten gehen könnte, davon haben selbst die wohlwollendsten
Interpreten zur Stunde nur ohnmächtige Vorstellungen.
 
Betrachtet man die Entführung der beiden Flugzeuge, die am Morgen des
11. September 2001 in die Türme des World Trade Center in New York
gesteuert wurden, im Kontext dieser Begegungen, dann war sie keine
Demonstration islamistischer Stärke, sondern das Symbol einer hämischen
Mittellosigkeit, zu deren Kompensation allein die sakral maskierte
Opferung von Menschenleben aufzubieten war. Kein Marx des politischen
Islam wird je behaupten können, die moderne Technologie sei im Schoß der
westlichen Zivilisation herangewachsen, werde aber erst in den Händen
islamischer Benutzer zu ihrer vollen Bestimmung gelangen.
 
Die Lehre des 11. September lautet, daß die Feinde des Westens sich
alles nur von der rächerischen Umdrehung westlicher Werkzeuge gegen ihre
Urheber versprechen. Der Islamophile Friedrich Nietzsche müßte heute
seine Urteile modifizieren. Die Vorwürfe, die er in seinem Fluch auf das
Christentum erhob, haben sich wie hinter seinem Rücken einem anderen
Adressaten angepaßt. Der radikale Islamismus unserer Tage bietet das
erste Beispiel einer puren rächerischen Ideologie, die nur strafen kann,
aber nichts hervorbringt.
 
Berlin-Mail