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Für Neutralität in der Schule
Offener Brief an Marieluise Beck
Sehr geehrte Marieluise Beck und weitere
Unterzeichnerinnen des "Aufrufes wider ein Lex Kopftuch",
Ihr Aufruf "Religiöse Vielfalt statt Zwangsemanzipation"
vom Dezember vergangenen Jahres soll der Entwicklung der
demokratischen und politischen Kultur in Deutschland dienen. Ihre
Argumentationen und ihre Schlussfolgerungen sind aber unserer Meinung
nach bedenklich.
Darum möchten wir Ihnen als demokratisch gesinnte
Migrantinnen aus muslimischen und anderen Ländern gemeinsam mit Angehörigen
der Mehrheitsgesellschaft antworten. Bedenklich erscheint uns Ihre
Argumentation aus drei Gründen:
Erstens: Sie überhöhen die Bedeutung
einer kleinen Minderheit innerhalb der Musliminnen, indem Sie diese
mit den muslimischen Frauen insgesamt gleichsetzen.
Zweitens: Sie geben zwar die Existenz
von "antidemokratischen, antisemitischen und frauenfeindlichen
Strömungen im Islam" zu, die nicht zu unserem Menschenbild und
Verständnis von Emanzipation und Modernität passten. Sie vernachlässigen
aber, dass es sich dabei um Strömungen handelt, hinter denen große
politische und finanzielle Macht steht. Sie suggerieren, es ginge um
eine ideelle Position, die allein argumentativ bewältigt werden kann.
Drittens: Sie sprechen aus einer
paternalistischen Position heraus, als seien Sie Beschützerin aller
Musliminnen gegen bestimmte Denkmuster innerhalb der
Mehrheitsgesellschaft. Sie bedenken aber nicht, dass Sie gerade durch
diese Haltung den großen Teil der Musliminnen ignorieren und so entmündigen.
In Ihrem Islambild gibt es neben den "islamischen
Fundamentalisten", für die das Kopftuch "ein politisches
Symbol" ist, nur noch kopftuchtragende muslimische Frauen, die
nicht den "politischen Islam" vertreten. Sie übersehen
dabei, dass die Mehrheit der Musliminnen in Deutschland gar kein
Kopftuch trägt. Stattdessen behaupten Sie, insbesondere in der
Diaspora würden Frauen auf das Kopftuch zurückgreifen, um "mit
Selbstbewusstsein ihr Anderssein zu markieren". Ein nicht
individuell begründetes Kopftuchverbot würde gerade die Musliminnen
treffen, für die "Emanzipation und Kopftuch" keinen
Widerspruch darstellen.
Natürlich gibt es ein solches Denkmuster, insbesondere
unter den muslimischen Studentinnen und Akademikerinnen; entscheidend
ist die Frage, wie groß die gesellschaftliche Relevanz dieser
Position ist. Realistische Schätzungen gehen davon aus, dass
innerhalb der muslimischen Bevölkerung in Deutschland etwa ein
Drittel zum engeren Sympathisantenfeld der islamistischen Kräfte gehört.
Etwa ein Drittel befürwortet das Konzept eines privat gedeuteten und
gelebten Islam ohne Bindungen an die Moscheevereine. Diese Frauen
entscheiden die Frage des Kopftuches individuell. Für etwa ein
Drittel von ihnen bedeutet der Islam höchstens ein Element ihrer
Herkunftskultur. Sie lehnen das Kopftuch ab.
Ihr Konstrukt der "emanzipatorischen Kopftuchträgerin"
ist empirisch innerhalb der zweiten Gruppe angesiedelt und stellt dort
eine quantitativ vernachlässigbare Gruppe dar, die kaum Einfluss hat.
Diese jungen Frauen sehen ihr Hauptziel darin, gegen die von ihnen
besonders herausgestellten Ausgrenzungsmechanismen der
Mehrheitsgesellschaft aufzutreten. Sie sind praktisch machtlos gegen
die Instrumentalisierung durch islamistische Kräfte.
Unsere Frage lautet deshalb: Wer würde sich innerhalb
der muslimischen Bevölkerung durch die Untersagung des Kopftuchs in
den Schulen ausgegrenzt fühlen? Es wären nur diejenigen, die unter
dem Einfluss der Islamisten stehen und für die das Kopftuchtragen
nicht nur im Privatleben, sondern auch im öffentlichen Dienst als
unverzichtbar gilt. Alle, für die die Religion eine private
Angelegenheit ist, und alle, die gegenüber religiösen Vorschriften
indifferent sind, kennen und akzeptieren problemlos das
Verfassungsprinzip von der Neutralität der Schule.
Ist es verkehrt, dass den islamistischen Kräften eine
Grenze gezeigt wird, deren Übertreten ein wichtiges Prinzip unserer
Verfassung verletzt? Nach unserer Auffassung ist eine solche
Deutlichkeit in einer demokratisch verfassten Gesellschaft
erforderlich, um den islamistischen Kräften zu signalisieren, dass
diese Gesellschaft nicht vor ihnen zurückweicht und ihnen nicht
Schritt für Schritt immer mehr Raum im öffentlichen Leben überlässt.
Die Erfahrung zeigt, dass diese Kräfte jede Erweiterung ihres
Spielraums nutzen, um ihre "antidemokratischen, antisemitischen
und frauenfeindlichen" Positionen durchzusetzen. Die Erfahrung
aus zahlreichen Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung
und Ländern mit signifikanten muslimischen Minderheiten in Europa
zeigt hinreichend, dass das Tragen des Kopftuchs in staatlichen
Institutionen längst zum Kampfprogramm von islamistischen Kräften
geworden ist. Dies übersehen Sie in Ihrer Argumentation.
Sie stellen die Realität auf den Kopf, wenn Sie die
Untersagung des Kopftuchs für Lehrerinnen im Staatsdienst mit dem
"Kopftuchzwang" in fundamentalistischen und
antidemokratischen Ländern vergleichen. Möglicherweise tun Sie dies,
um den schwächsten Punkt Ihrer Argumentation zu verschleiern. Das
Tragen des Kopftuchs in staatlichen Schulen würde nämlich in
massiver Weise die "negative Religionsfreiheit" der Schülerinnen
einschränken. Sie würden sich dem Einfluss eines weltanschaulichen,
religiösen oder politischen Symbols ausgesetzt sehen. Die
islamistischen Kräfte würden allein durch die Präsenz von
kopftuchtragenden Lehrerinnen im Staatsdienst eine unvergleichlich größere
Möglichkeit bekommen, die Mädchen und ihre Eltern unter Druck zu
setzen. Diese Möglichkeit des Machtzuwachses darf ihnen nicht
zugesprochen werden.
Zum Schluss ein Kommentar zu Ihrer generellen Haltung:
Wir meinen, dass diese Diskussion nicht allein innerhalb der
Mehrheitsgesellschaft geführt werden darf. Es geht nicht um das
Kopftuchtragen der Töchter aus der Mehrheitsgesellschaft, sondern aus
zugewanderten muslimischen Familien. Ist die Position der Mehrheit der
muslimischen Frauen innerhalb dieser Diskussion so unerheblich, dass
Sie überhaupt nicht darauf eingehen, ja, sie nicht einmal zur
Kenntnis nehmen? Warum spüren Sie nicht das Bedürfnis, Ihre Rolle
als Fürsorgerin, die im Namen einer Minderheit spricht, zu
problematisieren?
Dr. Elisabeth Abendroth (Politologin) Berrin Alpbek (Diplom-Kauffrau)
Halime Arslaner (Psychologin) Mübeccel Balikci (Schriftführerin der
Griechisch-Türkischen-Freundschaft e.V., Frankfurt) Nur Baristiran (Volkswirtin)
Karin Bergdoll (Erziehungswissenschaftlerin) Prof. Dr. Daniela
Birkenfeld (Stadtverordnete der CDU Fraktion, Frankfurt a. M.)
Dr. Aycan Burhanoglu (Anästhesistin) Deniz Calis (Archäologin) Sunay
Capkan (Betriebswirtin und Personalberaterin) Dr. Monika Carbe (Schriftstellerin
und Übersetzerin) Dr. Ezhar Cezairli (Zahnärztin) Dr. Meliha Degerli
(Psychiaterin) Marianne Dehlinger (Diplom-Kauffrau) Zeliha Dikmen (Informatikerin
und Projektmanagerin) Gülay Durgut (Journalistin) Jutta Ebeling (Stadträtin
für Bildung, Umwelt und Frauen, Frankfurt a. M.) Dr. Nargess
Eskandari-Grünberg (Stadtverordnete der Fraktion der Grünen,
Frankfurt a. M.) Günay Görgü (Chemikerin) Eva Chr. Gottschaldt
(Historikerin) Sema Hatipoglu (Pharmazeutin) Dr. Ayser Ilter (Zahnärztin)
Dr. Begüm Karakas (Zahnärztin) Ful Karakas (Pharmazeutin) Anita
Kastl (Pädagogin und Familientherapeutin) Dr. Ilter Kayankaya (Frauenärztin)
Donata Kinzelbach (Verlegerin) Sanem Kleff (Pädagogin) Dilek Kolat (Mitglied
des Abgeordnetenhauses, SPD, Berlin) Dr. Gabriele Lademann-Priemer (Pastorin
und Sektenbeauftragte der Nordelbischen Kirche) Dr. Cherifa Magdi (Übersetzerin
und Publizistin) Dr. Ayse Özel (Internistin) Lilo Rademacher (1.
Bevollmächtigte IGM, Vst. Friedrichshafen) Dr. Zeynep Sahin-Suchert (Internistin)
Ülkü Schneider-Gürkan (Übersetzerin und Gewerkschafterin) Prof.
Dr. Ursula Schumm-Garling (Soziologin) Prof. Dr. Ursula
Spuler-Stegemann (Islamwissenschaftlerin an der Philipps-Universität
Marburg) Petra Szablewski-Cavus (Pädagogin) Arzu Toker (Schriftstellerin
und Publizistin) Fügen Turhan (Psychologin) Helga Wendt (Mitglied des
Interreligiösen Frauenarbeitskreises) Inge Werth (Fotografin) Yildiz
Yanboludan (Stellvertretende Geschäftsführerin von KUBI e. V.,
Frankfurt a. M.) Dr. Beyza Yekebas (Frauenärztin) Mefküre
Yekebas (Lehrerin) Dr. Aynur Yenersoy (Frauenärztin) Tülay Yongaci (Schauspielerin)
Hikmet Zilelioglu-Porenski (Pädagogin) Sühendan Mangüc (Betriebswirtin)
Dr. Lale Wiesner (Volkswirtin) Tomris Wiesner (Violonistin) Gülsen
Eldelekli (Lehrerin) Sevgi Hamuroglu (Kreistagsabgeordnete, SPD, und
Integrationsbeauftragte Rheingau-Taunus-Kreis)
taz,
14.2.04
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