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68 und die Folgen
 
 
Lügen, Pathos und Palästinenser
 
Die 68er haben die NS-Bewältigung nicht erfunden, sondern nur benutzt
 
Jürgen Busche
 
Die 68er - das ist ein Synonym für die Studentenbewegung, und deshalb müsste es tatsächlich heißen: die 67er, denn mit dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration am 2. Juni 1967 wurde die Studentenbewegung über die Universitäten hinaus sichtbar zu einer Massenbewegung. 1968 - das war das bedeutende Jahr in Frankreich.

Es könnte lohnend sein, zu untersuchen, weshalb sich in Deutschland der Name "68er" durchgesetzt hat. Es waren nicht alle Studenten Aktivisten oder auch nur Mitläufer der Studentenbewegung. Aber es waren fast alle Ebenen der Universität durch ihre Ideen und mehr noch durch ihr Auftreten wie von einem Rausch erfasst. Es gab Gewalt bei den Go-ins und Teach-ins, und es gab die gewaltbereite Einschüchterung derer, die nicht mitmachen wollten. Aber all das lag auf einer ganz anderen Ebene als das, was es sechs Jahre später an Gewalt in den Protestbewegungen der 70er Jahre geben sollte.

Was Steinewerfen, Freiheitsberaubung, Störungen, Diffamierungen, Bedrohungen, Psychoterror angeht, da kommt, wenn man die ganze Zeit der Studentenbewegung bilanziert, einiges zusammen. Jeder einzelne Fall ist unschön, und es gab eine erkleckliche Zahl ganz übler Fälle - doch für das große Wort Vergangenheitsbewältigung, mit dem man keinen Schindluder treiben sollte, taugt das nicht.

Manch einer, Professor, Assistent, Student, sollte sich schämen für das, was er damals getan hat. Wenn man das ernst nimmt, ist das schlimm genug. Aber Vergangenheitsbewältigung ist etwas anderes.

Was aber vielen Protagonisten der Studentenbewegung - zu der übrigens Joschka Fischer nicht gehört hatte, er ist zur Protestbewegung der 70er Jahre zu zählen - anzuempfehlen ist, das ist die Überprüfung einer Lebenslüge. Diese Lebenslüge besteht darin, dass sie sich überzeugt geben, sie hätten mit der Vergangenheitsbewältigung - was die Verbrechen der Nationalsozialisten anging - erst richtig begonnen. Vor ihnen sei da nur Verdrängen und Vertuschen gewesen.

Richtig daran ist, dass im Zuge der Studentenbewegung ein weiteres Mal mit der Überprüfung von Biografien begonnen wurde und dabei etliche Übeltäter von einst enttarnt wurden. Aber das wurde zumeist nur als Kampfmittel gegen den aktuellen politischen Gegner ins Werk gesetzt, gegen Konservative, die man aus dem Feld schlagen wollte. Belastete Personen, die inzwischen als links oder linksliberal galten, blieben hingegen durchweg ungeschoren.

Der Sündenfall der 68er beim Umgang mit der Nazi-Vergangenheit Deutschlands lag in der Verabsolutierung von Max Horkheimers Wort: "Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen". Konkret bedeutete dies: Nicht die Ermordung der europäischen Juden war das Verbrechen, mit dem die nationalsozialistische Diktatur ins Visier genommen wurde, sondern ihr Antikommunismus. Das entsprach der Wiederentdeckung kommunistischer Klassiker in den 60er Jahren - die Studentenbewegung als Antiquariatsbewegung, das half bei der Parteinahme im Kalten Krieg, das unterstützte die Behauptung der politischen Kontinuität von nationalsozialistischem Staat und Bundesrepublik Deutschland.

Das hatte Folgen, und zwar keine guten. So nahm man, mit vermeintlich gutem Gewissen, im Nahost-Konflikt gegen den Staat Israel Partei, der als Vorposten des US-amerikanischen Imperalismus diffamiert wurde. Und das mit widerlichen Begleiterscheinungen. Nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 forderten deutsche Studenten einen Boykott von Jaffa-Apfelsinen. Nicht bedenkend, dass dreißig Jahre zuvor auf den selben Plätzen schon einmal jüdische Kaufleute boykottiert worden waren. In Diskussionen über die nationalsozialistische Vergangenheit wurde die Verfolgung der Juden als sentimental ausgeblendet. Es wäre viel aufzuzählen.

Erst als Einzelheiten aus dem AuschwitzProzess bekannt wurden, änderte sich das langsam - auch wenn die Protestbewegung noch leichthin Gleichsetzungen von israelischer und nationalsozialistischer Politik vornahm und das Kopftuch der PLO-Terroristen zur Folklore junger Deutscher wurde, die sich selbst für links und aufgeklärt hielten.

Die Studentenbewegung versuchte diesen Fehltritt später mit einer Lebenslüge zu verkleistern: Fast keine Selbstbiografie von 68ern kommt ohne den lamentierenden Hinweis aus, man habe in Schule und Elternhaus von den Verbrechen der Nazis nichts erfahren. Das ist, wenigstens was die Schule angeht, nachweislich falsch. Lehrpläne, Schulbücher, Unterrichtsmittel, Klassenbücher belegen dies. Es gab, wohl jedem bekannt, das Tagebuch der Anne Frank, es gab Celans Todesfuge, es hatte im Fernsehen Eugen Kogons Serie der SS-Staat gegeben. Ein Gymnasium in Fulda brachte 1964 ein Sonderheft der Schülerzeitung heraus, sehr umfangreich, in dem ausführlich Spurensuche in der Stadt betrieben war und die Geschichte dazu erzählt wurde. In Paderborn wurden Anfang der 60er Jahre die höheren Klassen der Oberschulen geschlossen in Erwin Leisers Film "Mein Kampf" geführt.

Nein, die Lüge, man habe von den Verbrechen der Nazis an den europäischen Juden als Jugendlicher nichts erfahren, das sei verschwiegen worden, ist die Lebenslüge der 68er, dank derer es ihnen möglich ist, mit manch Widerwärtigem ihres eigenen Tuns in ihrer Erinnerung zu leben. Sie verdrängen, was sie wussten, um mit ihrer, im Kalten Krieg erfolgten Parteinahme gegen Israel und mit ihrem Pathos gegenüber ihren Eltern und Lehrern, leben zu können. Das wäre aufzuarbeiten.

 
Der Autor ist Chefredakteur der "Badischen Zeitung". Zuvor leitete er die "Wochenpost" und das Inlandsressort der "Süddeutschen Zeitung". In den 70er Jahren war er Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen" und schrieb über den RAF-Prozess in Stammheim. In den 80er Jahren verfolgte er die Verwandlung der Frankfurter Sponti-Szene in den Realoflügel der grünen Partei.

Tagesspiegel vom 16.01.2001