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Big Brother und die Kommune 1 – ein Vergleich von Christa Ritter und Rainer LanghansJetzt, kurz vor dem Ende der zweiten Staffel von Big
Brother, sieht man, wie sehr dieses Experiment dem ähnelt, was wir
damals mit der Kommune 1 in Berlin demonstrierten: Es geht um die
Kompetenz in Bezug auf sich selbst: sich selbst treu zu sein, das
wahre Gesicht zu zeigen. Denn erst aus dieser Position kann man mit
den anderen verhandeln. "Zeig mir dein Gesicht, zeig mir, wer du
wirklich bist", das ist ein sehr guter Werbespruch. Das war auch
unser Ideal damals 1968. In Big Brother wird das durch Langeweile im
doppelten Sinn erreicht. Der Zuschauer hat viel Zeit zu beobachten –
und es sind gerade die ereignisarmen 'langweiligen‘ Momente, die
menschliche Komplexität vermitteln. Das ist nichts anderes als ein
therapeutischer Prozeß durch Millionen Therapeuten ausgeübt. In der ersten Staffel ging es noch mehr um Männer-Spaß,
ihre Stars waren Jürgen und Zlatko. In der zweiten Staffel geht es
bereits um Kükenpower, junge Frauen, Männer am Rand, hilflos. Weil
es im täglichen Leben vor lauter Ablenkungen keine Möglichkeit mehr
gibt zur Sinnsuche, findet diese nun im Fernsehen statt. Vor der
Kamera beginnt die Neuverhandlung mit Dir selbst: Wie will ich leben?
Wie funktioniert eine Zweierbeziehung, wie bildet sich eine
Gesellschaft? Das TV-Medium ist der Veranstalter dieser Suche nach
sich selbst - ein sozialer Nullraum. Draußen kommt man kaum mehr nach
mit den äußeren Anforderungen – durch Freunde, durch Arbeit, durch
das gesamte Umfeld. Im Container ist alles anders. Plötzlich hast du
den völlig reduzierten Raum, wo Du nur in Dich selbst hineinschauen
kannst, um mit der Gruppe klarzukommen. Das ist schon eine utopische
Situation. Dies ist genau dasselbe Experiment wie die Kommune 1
in Berlin, 1967. Indem wir als erste daran viele Menschen über die
Medien teilhaben ließen, konnten sich auch sie außerhalb der Kommune
mit in den Zustand der Aufregung und der Grenzüberschreitung
versetzen. Die Kommune 1 war eine selbstverordnete Vorform des
sozialen Nullraums, den jetzt Big Brother allabendlich neu
demonstriert. Das Medium kann dann selbst zum Schrittmacher werden,
denn es erfährt die Aufladung durch die vielen Augen, die es
anschauen. So entsteht eine synergetische Beschleunigung, die die
Virtualisierung der Gesellschaft vorantreibt, in der wir uns derzeit
alle befinden. Deshalb ist es auch gut, daß die Lebensmittel, der
Tabak, die Duschzeiten in der zweiten Staffel beschränkt sind. So
wird simuliert, daß wir nur überleben können, wenn wir die knappen
Ressourcen in einem ständigen, komplexen, genauen Verhandeln mit uns
selbst und mit den anderen sinnvoll verteilen – und dadurch den
wahren Reichtum an sozialen Erfahrungen vermehren. Anders als die Medienberichte über die Kommune 1
behaupteten, gibt es in Big Brother so gut wie keinen Sex. Walter und
Ebru mußten aus ihrem Paarversuch eine Unterstützungsfreundschaft
machen. Es gibt eigentlich keine Pärchenbildung: Als sich Karim und
Daniela fanden, gingen sie. Das durch die Enge bedingte ständige
Verhandeln im Container macht Zweierverhältnisse, also
privatisierende Besitzverhältnisse, unmöglich. Sex sowieso, denn der
braucht bisher eine durch Privatheit abgesicherte Intimität. Es könnte
aber sein, daß den Bewohnern irgendwann bewußt wird, daß Intimität
auf der Offenheit mit anderen beruht – nicht auf Privatsphäre. Und
neue Intimität wird dadurch entsexualisiert. Big Brother ist ein
jedermann zugängliches Trainingsmodell für die atomisierten jungen
Individuen. Zunächst nur im Fernsehen, aber schon gestützt durch das
Internet. Das Internet ist ohnehin die perfekte Simulation des 68er
Gefühls – eines globalen, gemeinsamen Gefühls, das letztlich Liebe
war – und das wir exemplarisch in der Kommune 1 dem ganzen Land
vorlebten. Big Brother nimmt diese Suche nach dem erfüllten, dem
guten Leben auf. Es gibt dabei natürlich
Entwicklungsungleichzeitigkeiten. So fühlen sich die Frauen subjektiv
schlechter, als sie sich objektiv fühlen könnten, vor allem die Älteren.
Doch auch sie sind auf dem Weg zum ‚neuen Menschen‘: Der
verhandelt zuerst mit sich selbst und dann davon ausgehend mit allen
anderen. Damit erarbeitet er sich Aufmerksamkeit, das neue Geld, und
ist reich an Vernetzungen – und daher lern- und überlebensfähig. Auch unsere älteren Frauen, der ‚Harem‘
akkumuliert seit Jahrzehnten in Fortsetzung der Kommune 1
wechselseitiges Aufmerksamkeitskapital – und ist nun bereit, damit
an die Börse, also ins Fernsehen zu gehen. Die Containerisolation ist
für uns unnötig, da wir, wie damals in der Kommune, den großen
Aufmerksamkeitsmarathon geübt haben, auf den sich zunehmend die ganze
Gesellschaft begibt. Rainer Langhans war Mitbegründer der Kommune
1 in Berlin. Christa Ritter lebt mit vier anderen Frauen
und Langhans in München Erstveröffentlichung in FAZ am 16.12.2000 |