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Der 11. September und die Folgen

  Beitrag zum Diskussionsforum im Rahmen der Ossietzky-Tage 2001 am 3.12.01 von Prof. Dr. Wolfgang Nitsch (Carl von Ossietzky Universität, Fachbereich Pädagogik)

  Die Ereignisse des 11.September und ihre Folgen können auf sehr verschiedenen intellektuellen Ebenen von Konkretion oder Abstraktion diskutiert werden:

-          auf der Ebene subjektiven Alltagsbewußtseins, der durch Erfahrungen oder Medienrezeption gespeisten Ängste und Illusionen,

-          auf der Ebene moralischer Beurteilung und religiöser Deutung,

-          als Teil von konkret-empirischer Tatsachen- und Zeitgeschichtsforschung,

-          auf der Ebene gesellschafts- und kulturtheoretischer Analysen und Deutungen,

-          als Probleme rechtlicher Beurteilung, im Völker-, Menschen-, Verfassungs- und Strafrecht

-          und auf der Ebene aktueller politischer Willensbildung und Entscheidungsprozesse.

  Meine Thesen für diese Diskussion beziehen sich vor allem auf die aktuell-zeitgeschichtliche und z.T. die gesellschafts- und kulturtheoretische Analyse. Erste Einschätzungen und Hypothesen in diesen beiden Bereichen sollten möglichst miteinander verknüpft werden. Unterhalb der Vielfalt konkreter mit-verursachender und weiterwirkender Ereignis-Ketten können wir einige tiefere strukturelle Muster und Schlüssel-Faktoren herausarbeiten, die diese Ereignisketten zu einer qualitativ strukturell neuen Dimension in der aktuellen Weltgesellschaftsgeschichte machen oder in denen sich schon länger wirkende Trends verdichten und bündeln. Dabei ist wiederum zu differenzieren zwischen den prinzipiell objektivierbaren faktischen oder materiellen politisch-ökonomisch-militärischen Bedingungs- und Folgezusammenhängen und den vielfältigen  Zuschreibungen, Projektionen und Deutungen dieser Ereignisse und ihrer möglichen Ursachen und Folgen, Zuschreibungen, die selber Teil einer veränderlichen und inszenierten gesellschaftlichen „Realität“ werden und auf die materiellen Prozesse zurückwirken. Mit anderen Worten: Sowohl die oberflächlichen äußeren Ereignisverkettungen wie die in ihnen z.T. (wieder)erkennbaren Regeln, Muster und Antriebskräfte haben eine materiell-faktische und eine immateriell-projektive, imaginäre Seite und sowohl die Ereignisse zum 11.September hin als die darauf folgenden Ereignisse sind gewissermaßen in einer schwer aufklärbaren Weise überdeterminiert wie unterdeterminiert zugleich, d.h. auch von Zufallskonstellationen beeinflusst.

  Zeitgeschichtlich-empirische und gesellschafts- und kulturtheoretische  Analysen müssen mono-kausale und aus der Perspektive einer Disziplin entstehende Kurzschlüsse vermeiden, sind auf arbeitsteilige und inter-disziplinäre Kooperation zur Analyse politisch-ökonomischer, historischer, kultureller und psycho-sozialer Dimensionen dieser Ereignisse angewiesen und das braucht Zeit und Kommunikationsmöglichkeiten. Dennoch sollten wir mit der Suche und Hypothesenbildung beginnen. Die Ereignisse um den 11.September bieten durch ihre Radikalität und Intensität auch die Chance, dass Strukturen und Zusammenhänge in der zusammenwachsenden Weltgesellschaft stärker sichtbar und bewußt werden, die vorher zu wenig wahrgenommen und analysiert wurden.

  Was ist das möglicherweise qualitativ Neue, was mit dem 11.September nicht begann, aber zur besseren Kenntlichkeit verzerrt und komprimiert uns entgegenexplodierte?

  1. Das Neuartige ist, dass terroristischer Massenmord an Zivilpersonen und in dieser Größenordnung  nicht mehr wie bisher von siegreichen Großmächten ausgeht und vor allem außerhalb ihres Territoriums geschieht (wie in den von NS-Deutschland besetzten Ländern, wie nach 1945 in Algerien, Ungarn, Vietnam, Indonesien, Chile, Afghanistan, Panama, Tschetschenien), sondern in ihrem Zentrum und dass dies prinzipiell nicht nur in New York und Washington, sondern in Moskau, London, Paris, Berlin und Tokio geschehen kann. Das Neuartige scheint auch zu sein, dass damit Macht- und Interessenkämpfe zwischen den Machteliten der Großmächte und den von ihnen aufgerüsteten Militärregimen, Gewaltunternehmern, Warlords und para-militärischen Organisationen nunmehr auch auf ihrem Territorium ausgetragen werden, dass erstmals in diesem Ausmaß nicht nur massenhaft Zivilisten in Dritte-Welt-Ländern oder an der Peripherie Europas sondern mitten in den Metropolen umkommen.

2. Neuartig scheint ferner zu sein oder zu werden, dass dieser Rückschlag oder Bumerang-Effekt des bisher von den Großmächten exportierten und aufgerüsteten Militarismus und Terrorismus (in Form von Stellvertreter-Kriegen, Bürger-Kriegen, Anti-Aufstands-Operationen) in die Metropolen hinein mit einer weitgehenden Entgrenzung, Enthemmung und Entrechtlichung in den militärischen und repressiven Vergeltungsschlägen  beantwortet wird: sei es dass weitere verdächtigte Staaten und Regime militärisch angegriffen und bestraft oder beendet werden sollen, sei es dass weitere terroristische Organisationen und Warlords in weiteren Ländern als Reaktion darauf  Zulauf erhalten und von regionalen Staaten aufgerüstet und instrumentalisiert werden.

3. Nicht neu, aber in dieser Intensität und Systematik erschreckend ist ferner, wie der 11.September als Vorwand benutzt wird, um restliche Bürgerrechte und Handlungsspielräume für radikale Opposition in den westlichen Gesellschaften langfristig und präventiv abzubauen und die inneren staatlichen und privatisierten Sicherheits- und Polizeiapparate aufzurüsten, obwohl keine bedrohliche Systemopposition erkennbar ist.

  Wir können also in aller Vorläufigkeit feststellen, dass eine bereits lange vor dem 11.September begonnene Ablösung eines Kern-Komplexes von nationalen und trans-nationalen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Machteliten und Machtapparaten von Bindungen an demokratisch-parlamentarische, rechtsstaatliche, völker- und menschenrechtliche Institutionen und Ordnungen sich intensiviert und enthüllt hat. Staatliche und nichtstaatliche ökonomische, militärische und polizeilich-repressive Machtkonzentrationen wachsen sprunghaft, aber ihre Rückbindung an rechtliche und zivilgesellschaftliche Ordnungen geht zunehmend verloren.

Diese Bindungen und Einhegungen von Macht und Gewalt waren stets gefährdete, noch recht junge Errungenschaften von Bürger- und Arbeiterbewegungen in einigen wenigen Nationalstaaten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Sie wurden schon durch den imperialistischen Kolonialismus dieser Staaten, durch die Kriegsregime des 1. und 2. Weltkriegs und in extremer Weise durch die stalinistischen und faschistischen Diktaturen zerstört und nach deren Niederlagen mühsam wieder aufgebaut, um in den letzten Jahrzehnten abermals schleichend abgebaut zu werden.

  Was aber könnte diesen drei qualitativ neuartigen  Trends in den Ereignissen um den 11.September an tieferen, strukturellen Faktoren zugrunde liegen?  Hier lassen sich m.E. vier einander ergänzende Antriebskräfte nennen:

1.        die internationale neoliberale Wende in der Wirtschafspolitik und –ideologie, d.h. der weltweite Versuch, die wachsenden strukturellen Widersprüche und Grenzen des kapitalistischen Weltsystems in ihren Auswirkungen dadurch zu verdecken und zu verschieben, dass sozialstaatliche Daseinsvorsorge radikal abgebaut und Wirtschaftswachstum durch Verschärfung sozialer Ungleichheiten erreicht werden soll, wodurch staatliche Sicherheits- und Integrationsstrukturen in weiten Teilen der Welt zerfallen und sich organisiertes Verbrechen und außerstaatliche Gewaltregime ausbreiten;

2.        die damit einher gehende Verschärfung der Interessenkämpfe zwischen den Machteliten in der ersten Welt und zwischen ihnen und den von ökonomischen Krisen und sozialem Absturz bedrohten Eliten und Mittelschichten in weiten Teilen der zweiten und dritten Welt – Kämpfe, die zunehmend auch mit sog. asymmetrischer Gewalt und organisierter Kriminalität ausgetragen werden;

3.        die zunehmenden demütigenden Status-Diskrepanzen im Leben der höher ausgebildeten jüngeren Mittelschicht-Generationen insbesondere in der zweiten und dritten Welt, aus denen sich auch militante Widerstands- und Terror-Gruppen rekrutieren;

4.        die zunehmende Anfälligkeit hoch-technologischer Kommunikations-, Verkehrs- und Produktionssysteme für terroristische Gewaltaktionen gut ausgebildeter Tätergruppen.

  Die Entgrenzung, Enträumlichung und Beschleunigung wirtschaftlicher, technologischer und militärischer Machtkonzentrationen und Machtkämpfe und ihrer destruktiven Wirkungen fordern immer mehr Opfer unter der ohnmächtigen Zivilbevölkerung und sie unterlaufen die räumlich fixierten lokalen und regionalen demokratischen Institutionen und Rechtssysteme.

  „We are not in the business of nation-building!“ – diese programmatische Erklärung von George W. Bush im Zusammenhang mit dem Beginn des Angriffs auf Afghanistan ist noch viel zu wenig beachtet worden. Sie könnte auch von seinen Kontrahenten in dem international operierenden pan-islamistischen Terror-Netzwerk Al Quaida stammen, das bekanntermaßen von den USA als Machtinstrument gegen Rußland und zur Durchdringung des Mittleren Ostens und Mittelasiens aufgebaut und aufgerüstet worden ist und mit dem erst in den letzten Jahren evtl. vorübergehende Differenzen aufgetreten sind (ebenso wie im Falle des von den USA aufgerüsteten Partners Sadam Hussein im Irak).Es geht also beiden Kontrahenten nicht um die Stabilisierung oder Inbesitznahme von souveränen oder gar demokratischen Nationalstaaten, sondern um ihre De-Konstruktion in ethnische Gruppen und ihre Warlords, die sich dann besser in transnationale überregionale Machtallianzen und ihre Einflusszonen integrieren lassen und die sich als ethnisierte Bausteine auch leichter in neuen Kräftekonstellationen flexibel umgruppieren und neu zusammensetzen lassen.

Die Distanzierung vom nachholenden Nation-building, einer Programmatik aus der Epoche der fordistisch-keynesianischen Nationalstaatspolitik im 20.Jahrhundert, drückt den Verzicht auf eine weltweite Stabilisierung und Integration mit den Mitteln nationaler und multi-nationaler Wirtschafts- und Sozialpolitik aus. Diese neue Programmatik nimmt den Zerfall vieler Staaten in den Peripherie-Regionen in Kauf, deren Rohstoffe und Verkehrswege auch mit anderen Mitteln, durch  nichtstaatliche lokale und international operierende Gewalt- und Sicherheitsunternehmen, Warlords und Verbrechenssyndikate sowie durch gelegentliche Militärstrafaktionen der Großmächte gesichert werden können. Damit wird aber auch das Risiko in Kauf genommen, dass diese regionalen Interessenkämpfe mit und unter diesen nicht- und halbstaatlichen Gewaltunternehmen gelegentlich auch auf die Metropolen der Großmächte übergreifen können. Auch hier steht also die optimale Sicherheit der  eigenen nationalen Bevölkerung teilweise zur Disposition der transnational operierenden Großmacht-Staaten. In New York werden bereits Sammelklagen von Angehörigen der Opfer des 11.September gegen die US-Regierung wg. fahrlässiger Unterstützung und Aufrüstung ihrer terroristischen Bündnis- und Geschäftspartner vorbereitet.

Die Aufrüstung und Unterstützung terroristischer Bewegungen und Gewaltunternehmen im Ausland und ihre anschließende Bekämpfung bei auftretenden Interessenkonflikten mit diesen Geschäftspartnern zum weltweiten nachhaltigen Krieg neuen Typs zu deklarieren, für den verfassungs- und völkerrechtliche Normen nicht gelten sollen und in dem wiederum andere Terrororganisationen gegen die  bisherigen Partner aufgerüstet werden,  muß als demonstrative willentliche Selbst-Dekonstruktion von moderner souveräner Rechtsstaatlichkeit (nicht von Staatlichkeit überhaupt) und als partielle Angleichung der Staaten an nichtstaatliche Gewaltunternehmen und Terrororganisationen gewertet werden oder als Entrechtlichung und Informalisierung staatlicher Machtpolitik (sowohl bei den Großmächten, den abhängigen Staaten wie bei den sog. Schurkenstaaten).

Um einen solchen regellosen Krieg neuen Typs zu führen, der im Verfassungs- und Völkerrecht nicht vorgesehen ist, muß ein (konstitutioneller) Staat einerseits die demokratisch-parlamentarische Kontrolle seiner Gewaltausübung abbauen und andererseits sein Gewaltmonopol lockern und mit vielfältigen halbstaatlichen und nichtstaatlichen Regimen, mit sich verselbständigenden Geheimdiensten, mit Gewaltunternehmen (Waffen- und Söldnerfirmen), mit lokalen Freikorps und Warlords kooperieren, wobei die Grenzen zwischen verfassungsmäßigen und illegalen staatlichen und nicht-staatlichen Gewaltformen verfließen oder außer Kraft gesetzt werden. Es entsteht eine Art transnationaler Doppel-Herrschaft oder Kondominium zwischen autoritären, kaum noch parlamentarisch kontrollierbaren  Staatsapparaten und nichtstaatlichen Gewaltunternehmen (wie es ja bereits aus der staatsmonopolistischen Verflechtung von Konzernen, Wirtschaftsverbänden und Staatsapparaten bekannt ist).

Der demokratische Rechtsstaat wird dadurch in weiteren Teilbereichen in ein staatliches Willkürregime, einen sich entgrenzenden Maßnahmen-Staat verwandelt, für den es keine Grundlage im Verfassungs- und Völkerrecht gibt und für den auch gar keine Rechtsgrundlage mehr gesucht oder vorgespiegelt wird. Mit  durchsichtigen Legitimationsmustern wie der These vom übergesetzlichen Staatsnotstand, der durch die Exekutive  erklärt oder nachträglich zur Heilung von Verfassungsverstößen durch einen Staatsgerichthof gerechtfertigt werden könne, haben sich die Machteliten schon in der Vergangenheit von lästigen verfassungs- und rechtsstaatlichen Normen befreit, so vor allem die Reichswehr und die sie unterstützende Justiz schon in der Weimarer Republik. Carl von Ossietzky, dessen „Weltbühne“ 1929 über völker- und verfassungsrechtswidrige geheime Aufrüstungsaktivitäten der Reichswehr in Verbindung mit der Roten Armee und mit para-militärischen privaten Organisationen  berichtet hatte, wurde ein Opfer dieser „Rechtsprechung“ des Reichsgerichts, das ihn 1931 als Landesverräter verurteilte. Wie virulent diese willkürliche Staatsnotstandsdoktrin auch in der Justiz der neuen. erweiterten Bundesrepublik noch war oder ist, zeigt auch die Weigerung des Bundesgerichtshofs von 1992, das skandalöse Urteil des Reichsgerichts als Rechtsbeugung aufzuheben. Daher kommt der gegenwärtigen Initiative von demokratischen Juristenvereinigungen (Republikanischer Anwaltsverein, Forum Justizgeschichte), über die Staatsanwaltschaft Berlin erneut eine Aufhebung des Urteils zu veranlassen, eine unerwartete aktuelle Bedeutung zu. Die Universität Oldenburg sollte sich durch eine Eingabe daran beteiligen.

Um meine Thesen zuzuspitzen: der 11.September hat nicht zu tun mit einem Kampf der Kulturen oder mit der Verteidigung der Zivilisation gegen die Barbaren oder mit einem Aufstand der Verelendeten und Entrechteten gegen den US-Imperialismus, sondern es handelt sich um die Verschärfung von Machtkämpfen zwischen etablierten, übermächtigen Machteliten des Westens und aufstrebenden, sich in der Defensive sehenden und oppositionellen Machtgruppen in der dritten und zweiten Welt, die für ihre ökonomischen und militärischen Machtinteressen jeweils unterschiedliche fundamentalistisch-religiöse, rassistische, auch antisemitische sowie makulinistisch-sexistische Ideologien und Mentalitäten einsetzen und intensivieren und die versuchen, diese Machtkämpfe als ethnische, religiöse und kulturelle Kämpfe (als Kreuzzug oder Heiliger Krieg) zu inszenieren. Sich dagegen zu verwehren ist weder Anti-Angloamerikanismus noch Anti-Islamismus. Diese Kämpfe werden rücksichtslos und mit immer mehr Opfern und auf Kosten der Bevölkerungsmassen in allen betroffenen Gesellschaften ausgetragen. Sie richten sich aber auch gegen säkularisierte, kosmopolitische, multikulturelle   Intellektuelle, die der Illoyalität und des Verrats gegenüber diesen chauvinistischen Machteliten verdächtigt  werden.

 Ich hoffe, dass viele Mitglieder dieser Universität noch oder wieder stolz darauf sind, dass diese Institution den Namen eines dieser kritischen und  Machtwillkür anprangernden Weltbürger und Weltbürgerinnen trägt

 

(Aktuelle Literaturhinweise: Trutz von Trotha, Das Kalaschsyndrom. Gewalt zwischen Privatisierung, Männlichkeit, Jugend, Opferanspruch u. massenmedialer Verherrlichug, in: Frankf. Rdsch.15.12.01,S.19;  Abbas Beydoun, Die Schuld des Westens. Der Orient ist eine Erfindung u. die islamische Gewalt eine Folge der Kolonialisierung,in: Die Zeit, 13.12.01,S.46; Interview mit Klaus Theweleit, in: taz 19.9.01,S.13-14)