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Der 11. September und die Folgen
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auf der Ebene subjektiven Alltagsbewußtseins, der durch
Erfahrungen oder Medienrezeption gespeisten Ängste und Illusionen, - auf der Ebene moralischer Beurteilung und religiöser Deutung, - als Teil von konkret-empirischer Tatsachen- und Zeitgeschichtsforschung, - auf der Ebene gesellschafts- und kulturtheoretischer Analysen und Deutungen, - als Probleme rechtlicher Beurteilung, im Völker-, Menschen-, Verfassungs- und Strafrecht - und auf der Ebene aktueller politischer Willensbildung und Entscheidungsprozesse. 2. Neuartig scheint ferner zu sein oder zu werden, dass dieser Rückschlag oder Bumerang-Effekt des bisher von den Großmächten exportierten und aufgerüsteten Militarismus und Terrorismus (in Form von Stellvertreter-Kriegen, Bürger-Kriegen, Anti-Aufstands-Operationen) in die Metropolen hinein mit einer weitgehenden Entgrenzung, Enthemmung und Entrechtlichung in den militärischen und repressiven Vergeltungsschlägen beantwortet wird: sei es dass weitere verdächtigte Staaten und Regime militärisch angegriffen und bestraft oder beendet werden sollen, sei es dass weitere terroristische Organisationen und Warlords in weiteren Ländern als Reaktion darauf Zulauf erhalten und von regionalen Staaten aufgerüstet und instrumentalisiert werden. 3. Nicht neu, aber in dieser Intensität und Systematik erschreckend ist ferner, wie der 11.September als Vorwand benutzt wird, um restliche Bürgerrechte und Handlungsspielräume für radikale Opposition in den westlichen Gesellschaften langfristig und präventiv abzubauen und die inneren staatlichen und privatisierten Sicherheits- und Polizeiapparate aufzurüsten, obwohl keine bedrohliche Systemopposition erkennbar ist. Diese Bindungen und Einhegungen von Macht und Gewalt waren stets gefährdete, noch recht junge Errungenschaften von Bürger- und Arbeiterbewegungen in einigen wenigen Nationalstaaten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Sie wurden schon durch den imperialistischen Kolonialismus dieser Staaten, durch die Kriegsregime des 1. und 2. Weltkriegs und in extremer Weise durch die stalinistischen und faschistischen Diktaturen zerstört und nach deren Niederlagen mühsam wieder aufgebaut, um in den letzten Jahrzehnten abermals schleichend abgebaut zu werden. 1. die internationale neoliberale Wende in der Wirtschafspolitik und –ideologie, d.h. der weltweite Versuch, die wachsenden strukturellen Widersprüche und Grenzen des kapitalistischen Weltsystems in ihren Auswirkungen dadurch zu verdecken und zu verschieben, dass sozialstaatliche Daseinsvorsorge radikal abgebaut und Wirtschaftswachstum durch Verschärfung sozialer Ungleichheiten erreicht werden soll, wodurch staatliche Sicherheits- und Integrationsstrukturen in weiten Teilen der Welt zerfallen und sich organisiertes Verbrechen und außerstaatliche Gewaltregime ausbreiten; 2. die damit einher gehende Verschärfung der Interessenkämpfe zwischen den Machteliten in der ersten Welt und zwischen ihnen und den von ökonomischen Krisen und sozialem Absturz bedrohten Eliten und Mittelschichten in weiten Teilen der zweiten und dritten Welt – Kämpfe, die zunehmend auch mit sog. asymmetrischer Gewalt und organisierter Kriminalität ausgetragen werden; 3. die zunehmenden demütigenden Status-Diskrepanzen im Leben der höher ausgebildeten jüngeren Mittelschicht-Generationen insbesondere in der zweiten und dritten Welt, aus denen sich auch militante Widerstands- und Terror-Gruppen rekrutieren; 4. die zunehmende Anfälligkeit hoch-technologischer Kommunikations-, Verkehrs- und Produktionssysteme für terroristische Gewaltaktionen gut ausgebildeter Tätergruppen. Die Distanzierung vom nachholenden Nation-building, einer Programmatik aus der Epoche der fordistisch-keynesianischen Nationalstaatspolitik im 20.Jahrhundert, drückt den Verzicht auf eine weltweite Stabilisierung und Integration mit den Mitteln nationaler und multi-nationaler Wirtschafts- und Sozialpolitik aus. Diese neue Programmatik nimmt den Zerfall vieler Staaten in den Peripherie-Regionen in Kauf, deren Rohstoffe und Verkehrswege auch mit anderen Mitteln, durch nichtstaatliche lokale und international operierende Gewalt- und Sicherheitsunternehmen, Warlords und Verbrechenssyndikate sowie durch gelegentliche Militärstrafaktionen der Großmächte gesichert werden können. Damit wird aber auch das Risiko in Kauf genommen, dass diese regionalen Interessenkämpfe mit und unter diesen nicht- und halbstaatlichen Gewaltunternehmen gelegentlich auch auf die Metropolen der Großmächte übergreifen können. Auch hier steht also die optimale Sicherheit der eigenen nationalen Bevölkerung teilweise zur Disposition der transnational operierenden Großmacht-Staaten. In New York werden bereits Sammelklagen von Angehörigen der Opfer des 11.September gegen die US-Regierung wg. fahrlässiger Unterstützung und Aufrüstung ihrer terroristischen Bündnis- und Geschäftspartner vorbereitet. Die Aufrüstung und Unterstützung terroristischer Bewegungen und Gewaltunternehmen im Ausland und ihre anschließende Bekämpfung bei auftretenden Interessenkonflikten mit diesen Geschäftspartnern zum weltweiten nachhaltigen Krieg neuen Typs zu deklarieren, für den verfassungs- und völkerrechtliche Normen nicht gelten sollen und in dem wiederum andere Terrororganisationen gegen die bisherigen Partner aufgerüstet werden, muß als demonstrative willentliche Selbst-Dekonstruktion von moderner souveräner Rechtsstaatlichkeit (nicht von Staatlichkeit überhaupt) und als partielle Angleichung der Staaten an nichtstaatliche Gewaltunternehmen und Terrororganisationen gewertet werden oder als Entrechtlichung und Informalisierung staatlicher Machtpolitik (sowohl bei den Großmächten, den abhängigen Staaten wie bei den sog. Schurkenstaaten). Um einen solchen regellosen Krieg neuen Typs zu führen, der im Verfassungs- und Völkerrecht nicht vorgesehen ist, muß ein (konstitutioneller) Staat einerseits die demokratisch-parlamentarische Kontrolle seiner Gewaltausübung abbauen und andererseits sein Gewaltmonopol lockern und mit vielfältigen halbstaatlichen und nichtstaatlichen Regimen, mit sich verselbständigenden Geheimdiensten, mit Gewaltunternehmen (Waffen- und Söldnerfirmen), mit lokalen Freikorps und Warlords kooperieren, wobei die Grenzen zwischen verfassungsmäßigen und illegalen staatlichen und nicht-staatlichen Gewaltformen verfließen oder außer Kraft gesetzt werden. Es entsteht eine Art transnationaler Doppel-Herrschaft oder Kondominium zwischen autoritären, kaum noch parlamentarisch kontrollierbaren Staatsapparaten und nichtstaatlichen Gewaltunternehmen (wie es ja bereits aus der staatsmonopolistischen Verflechtung von Konzernen, Wirtschaftsverbänden und Staatsapparaten bekannt ist). Der
demokratische Rechtsstaat wird dadurch in weiteren Teilbereichen in
ein staatliches Willkürregime, einen sich entgrenzenden Maßnahmen-Staat
verwandelt, für den es keine Grundlage im Verfassungs- und Völkerrecht
gibt und für den auch gar keine Rechtsgrundlage mehr gesucht oder
vorgespiegelt wird. Mit durchsichtigen
Legitimationsmustern wie der These vom übergesetzlichen
Staatsnotstand, der durch die Exekutive
erklärt oder nachträglich zur Heilung von Verfassungsverstößen
durch einen Staatsgerichthof gerechtfertigt werden könne, haben sich
die Machteliten schon in der Vergangenheit von lästigen verfassungs-
und rechtsstaatlichen Normen befreit, so vor allem die Reichswehr und
die sie unterstützende Justiz schon in der Weimarer Republik. Carl
von Ossietzky, dessen „Weltbühne“ 1929 über völker- und
verfassungsrechtswidrige geheime Aufrüstungsaktivitäten der
Reichswehr in Verbindung mit der Roten Armee und mit para-militärischen
privaten Organisationen berichtet
hatte, wurde ein Opfer dieser „Rechtsprechung“ des Reichsgerichts,
das ihn 1931 als Landesverräter verurteilte. Wie virulent diese willkürliche
Staatsnotstandsdoktrin auch in der Justiz der neuen. erweiterten
Bundesrepublik noch war oder ist, zeigt auch die Weigerung des
Bundesgerichtshofs von 1992, das skandalöse Urteil des Reichsgerichts
als Rechtsbeugung aufzuheben. Daher kommt der gegenwärtigen
Initiative von demokratischen Juristenvereinigungen (Republikanischer
Anwaltsverein, Forum Justizgeschichte), über die Staatsanwaltschaft
Berlin erneut eine Aufhebung des Urteils zu veranlassen, eine
unerwartete aktuelle Bedeutung zu. Die Universität Oldenburg sollte
sich durch eine Eingabe daran beteiligen. Um meine Thesen
zuzuspitzen: der 11.September hat nicht zu tun mit einem Kampf der
Kulturen oder mit der Verteidigung der Zivilisation gegen die Barbaren
oder mit einem Aufstand der Verelendeten und Entrechteten gegen den
US-Imperialismus, sondern es handelt sich um die Verschärfung von
Machtkämpfen zwischen etablierten, übermächtigen Machteliten des
Westens und aufstrebenden, sich in der Defensive sehenden und
oppositionellen Machtgruppen in der dritten und zweiten Welt, die für
ihre ökonomischen und militärischen Machtinteressen jeweils
unterschiedliche fundamentalistisch-religiöse, rassistische, auch
antisemitische sowie makulinistisch-sexistische Ideologien und
Mentalitäten einsetzen und intensivieren und die versuchen, diese
Machtkämpfe als ethnische, religiöse und kulturelle Kämpfe (als
Kreuzzug oder Heiliger Krieg) zu inszenieren. Sich dagegen zu
verwehren ist weder Anti-Angloamerikanismus noch Anti-Islamismus.
Diese Kämpfe werden rücksichtslos und mit immer mehr Opfern und auf
Kosten der Bevölkerungsmassen in allen betroffenen Gesellschaften
ausgetragen. Sie richten sich aber auch gegen säkularisierte,
kosmopolitische, multikulturelle
Intellektuelle, die der Illoyalität und des Verrats gegenüber
diesen chauvinistischen Machteliten verdächtigt
werden. Ich hoffe, dass viele Mitglieder dieser Universität noch oder
wieder stolz darauf sind, dass diese Institution den Namen eines
dieser kritischen und Machtwillkür
anprangernden Weltbürger und Weltbürgerinnen trägt (Aktuelle Literaturhinweise: Trutz
von Trotha, Das Kalaschsyndrom. Gewalt zwischen Privatisierung, Männlichkeit,
Jugend, Opferanspruch u. massenmedialer Verherrlichug, in: Frankf.
Rdsch.15.12.01,S.19; Abbas
Beydoun, Die Schuld des Westens. Der Orient ist eine Erfindung u. die
islamische Gewalt eine Folge der Kolonialisierung,in: Die Zeit,
13.12.01,S.46; Interview mit Klaus
Theweleit, in: taz 19.9.01,S.13-14)
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