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Lateinamerika in Preußen

»Imperialismus und strukturelle Gewalt«

- die Geschichte eines Buches

 von Dieter Senghaas

Seit Mitte der 60er Jahre hat es im Kontext der Auseinandersetzungen über den Vietnam-Krieg eine wiederauflebende Imperialismus-Diskussion gegeben. In ihr wurde der Vietnam-Krieg als Ausdruck des US-Imperialismus begriffen und diesem Verständnis folgte die politische Agitation. Der Begriff wurde zu, einer beliebigen Allerweltskategorie in den politischen Auseinandersetzungen In einem solchen politisch aufgeheizten Umfeld analytischer Kopflosigkeit war eine sinnvolle Imperialismus-Diskussion nicht möglich. Und auch gegenüber dem gleichzeitig zu beobachtenden, beliebigen Rückgriff auf Versatzstücke der klassischen Imperialismus-Theorien (Hobson, Lenin, Luxemburg, Hilferding, Bucharin etc.) war es schlichtweg erforderlich, von vorne zu beginnen. Johan Galtungs Beitrag über die Dimensionierung von Imperialismus war genau der hierfür erforderliche Beitrag - übrigens gerade, weil er keine neue große Theorie anvisierte, sondern sich mit einer interessanten taxonomischen Aufdröselung des Phänomens begnügte. Sein Beitrag schuf auch die Brücke zur Diskussion über »strukturelle Gewalt«. Gesucht war insgesamt ein Schichtungsmodell internationaler Gesellschaft, womit sich bemerkenswerterweise Soziologen niemals ernsthaft beschäftigt hatten, waren sie doch damals (und weithin heute noch) auf nationale Gesellschaften (d.h. die jeweils eigene) fixiert. Gab es in solcher Hinsicht, also mit Blick auf die gesamte Welt, die internationale Gesellschaft, die Welt als System, relevante intellektuelle Artgebote in der internationalen sozialwissenschaftlichen Diskussion?

Während einer Sitzung der Sektion internationale Politik der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft machte mich Gilbert Ziebura auf den seinerzeit eben in einer französischen Zeitschrift erschienenen, mehr als 50seitigen Aufsatz von Osvaldo Sunkel »Transnationale kapitalistische Integration und nationale Desintegration: Der Fall Lateinamerika« aufmerksam. Hier lag, dicht argumentiert, genau jener Beitrag vor, auf dessen Suche ich war. Er kombinierte, zwar »nur« aus der Perspektive Lateinamerikas, eine Strukturanalyse der Welt insgesamt, präsentierte jedoch ein Schichtungsmodell und machte Aussagen über die »Reproduktionsmechanismen« des gesamten Gebildes Welt. Der Beitrag kombinierte auf ideale Weise historisch-genetische, strukturelle und aktuelle Analyse. Und folgte man seiner Analyse, so erschloss sich die Wirklichkeit ganz anders als in den gängigen flächigen Angeboten aus der damaligen Disziplin Internationale Beziehungen, aus der neoklassischen Weltwirtschaftslehre und den seinerzeit allermeist schmalspurigen Entwicklungstheorien diverser Provenienz.: Hier, in Sunkels Beitrag, präsentierte sich Politische Ökonomie im besten Sinne des Begriffes: ökonomisch fundiert sowie gleichzeitig Gesellschaftsstruktur und politische Machtverhältnisse reflektierend, Mein Eindruck war, entweder musste Osvaldo Sunkel ein unbekannt gebliebenes Genie sein, oder aber es war diesem Autor gelungen, eine jahrelange Diskussion, die in den USA und in Westeuropa unbekannt geblieben war, zu einem neuen Paradigma verdichtet zu haben.

Auf der Suche, die Hintergrundgeschichte des Sunkelschen Beitrags zu erhellen, waren die Vertreter der seinerzeitigen Lateinamerika‑Institute Deutschlands nicht sehr hilfreich. Im Gegenteil spürte ich eine gewisse Abwehrhaltung, die die paradoxe Folge hatte, dass ich um so neugieriger wurde, die, wirkliche Geschichte kennen zu lernen. Besonders hilfreich war dann die Lateinamerika Bibliothek des Preußischen Kulturbesitzes in Berlin. Eine Woche des Herumwühlens einem unglaublich reichhaltigen Bestand an sozialwissenschaftlichen Zeitschriften aus Lateinamerika förderte den Schatz zutage: die Dependencia‑Diskussion. Mit gut einem halben Meter hohen Stapel Nasskopien verließ ich diese Institution, um dann in Frankfurt wochenlang mit der Lektüre dieser Texte die Entdeckungsreise fortzusetzen. Sie war in der Tat unvergleichlich faszinierend, nicht nur, weil hier ganz neue Autoren mit völlig fremden Namen auftauchten (Aguilar, Caputo, Cardoso, Cordova, dos Santos, Furtado, Marini, Pinto, Quijano und wie sie alle hießen), sondern weit hier deutlich wurde, dass es offensichtlich in einem Teil der Welt, hier, also in dem »peripheren« Lateinamerika, eine hochstehende, differenzierte und komplexe Diskussion gab; die die diversen Diskurse in den Metropolen (gleichgültig ob es sich um das so genannte bürgerliche oder marxistische Lager handelte) völlig unbeeinflusst ließ. Das war nach meinem damaligen Empfinden ein wissenschaftspolitischer Skandal, erster Ordnung. Und da es nach meinem Eindruck politische Gründe bei Lateinamerikanisten gab, diese Diskussion hier nicht oder nicht allzusehr bekannt werden zu lassen, hatte ich die feste Absicht, genau diese Diskussion hier bekannt zu machen. Es handelte sich dabei um den ersten Transfer eines fulminanten Theorieangebots auf erfahrungswissenschaftlicher Basis aus der »Peripherie« in eine »Metropole«, denn ein vergleichbarer Vorgang erfolgte erst Jahre später in Frankreich und den USA, und darüber in die internationale Diskussion im allgemeinen.

Imperialismus und strukturelle Gewalt waren also ein erster Schritt in Richtung eines solchen Transfers. Mit den Texten von dos Santos, Sunkel und Furtado und einer umfassenden Bibliographie über die Dependenz-Diskussion sollte dokumentiert werden, dass es sich bei dem Angebot aus Lateinamerika nicht um eine Eintagsfliege handelte. Transnationale kapitalistische Integration, nationale Desintegration, metropolitaner bzw. peripherer Kapitalismus, abhängige bzw. deformierte Reproduktion, strukturelle Heterogenität, Marginalität: das waren neue gehaltvolle Kategorien, eingebettet in umfassendere theoretische Bezüge (z.B. »Accumulation à l'échelle mondiale«), deren Kenntnis eine schlagwortartige Verwendung dieser Kategorien eigentlich verbot. Über die Folgebände Peripherer Kapitalismus. Analysen über Abhängigkeit und Unterentwicklung (1972, es 652) und Kapitalistische Weltökonomie. Kontroversen über ihren Ursprung und ihre Entwicklungsdynamik (1979, es 980) kam ich zu der Frage, warum Teile Europas sich entwickelten und andere Teile eben dieses Europas einem anhauenden Prozess der Fehl- bzw. Unterentwicklung unterlagen. Das Buch Von Europa lernen. Entwicklungsgeschichtliche Betrachtungen (1982, es 1134) war, vor allem wenn man es nicht gelesen hat, allein schon vom Titel her des Eurozentrismus verdächtig. Aber es belegt, dass außerhalb Europas Fehlentwicklungen genauso unvermeidlich sind wie sie in Europa selbst unvermeidlich waren; wenn elementare europäische Entwicklungserfahrungen unberücksichtigt bleiben oder gar missachtet werden. Es dokumentiert die Faktorenbündel, die dazu führen, dass Abhängigkeit (Dependenz) in eine strukturell sich verfestigende Deformation führt bzw. dass trotz Abhängigkeit Entwicklungschancen wahrgenommen werden und erfolgreiche Entwicklung inszeniert werden kann. Die Ergebnisse einer 15-jährigen Forschung finden sich schließlich in dem zusammen mit Ulrich Menzel verfassten Buch Europas Entwicklung und die Dritte Welt. Eine Bestandsaufnahme (1986, es 1393) niedergelegt. Wer allein dessen erstes Kapitel liest, wird leicht erkennen, wie leichtfertig und gegenüber unleugbaren Sachverhalten unbekümmert eine Diskussion ist, die in den 90er Jahren entwicklungstheoretische und entwicklungsgeschichtliche Erkenntnisse jedweder Provenienz für obsolet erklärt hat. Dieser Sachverhalt dokumentiert nur noch einmal, dass es auch in den Wissenschaften den mächtig wirkenden Freudschen Mechanismus der Verneinung und der Flucht aus der Realität gibt, und sei es auch nur, um sich neuen modischen Themen in die Arme werfen zu können. Das hat aber zwangsläufig zu einer intellektuellen Verarmung der Entwicklungsdiskussion geführt.

iz3w Nr. 251, feb-märz 2001