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Buchbesprechung zur Revolte in Polen

JACEK KURON / KAREL MODZELEWSKI

MONOPOLSOZIALISMUS

Offener Brief an die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei.

 Herausgegeben von Helmut Wagner. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1969. Reihe „Standpunkte". 120 S., brosch. 7,80 DM.

 

Karol Modzelewski, Jacek Kuroń: Offener Brief an die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei

 

Die beiden jungen Polen Jacek Kuron und Karel Modzelewski — beides ehemalige Parteimitglieder, letzterer ein Sohn des zweiten polnischen Außenministers der Nachkriegszeit — sitzen heute zum dritten Male seit 1964 — auf Grund einer Strafgesetzordnung von 1932, einem Instrument der halbfaschistischen „Sanacja"-Diktatur, sowie einer kleinen Strafgesetzordnung aus der Stalinzeit — im sozialistischen Gefängnis. Ihr Verbrechen: sie haben den Sozialismus ernst und den Marxismus beim Wort genommen; sie haben das, was sie an der Warschauer Universität an Marxismus gelernt hatten, auf die Wirklichkeit des polnischen „Sozialismus" angewandt, und sie wollten dann die Ergebnisse ihrer Untersuchungen in Form von Dissertationen verarbeiten. Aber leider waren diese Ergebnisse nicht so, daß der herrschende „Sozialismus" sie sich hätte an den Hut stecken können: diese Ergebnisse einer marxistischen Analyse des polnischen „Sozialismus" waren für diesen schlechthin vernichtend. So kamen die beiden Assistenten am Historischen Institut der Universität Warschau anstatt ins Examen ins Gefängnis.

Wieder in Freiheit, setzten sie sich hin und schrieben einen 128 Schreibmaschinenseiten langen „Offenen Brief an die Partei", in dem sie — um eine Diskussion anzuregen — ihre Untersuchungsergebnisse und ihre Thesen formulierten. Aber anstatt mit ihnen zu diskutieren, steckte man sie ein zweites Mal ins Gefängnis. Ihr „Offener Brief" durfte in Polen nicht veröffentlicht werden. Seine Veröffentlichung erfolgte dann in französischer Übersetzung zunächst in Paris, und nun liegt unter dem Titel „Monopolsozialismus" auch eine deutsche Übersetzung vor.

Kuron und Modzelewski stehen stellvertretend für eine neue Generation im sogenannten Osten, die ähnlich wie unsere rebellischen Studenten die ihnen von ihren Vätern vorgesetzte beste aller Welten unbarmherzig auf ihren Gehalt an Hypokrisie, Lüge, Verbrechen, kurz: an Ideologie abklopft; nur mit dem Unterschied, daß diese junge Generation im „Osten" dem dort herrschenden System mit Hilfe einer immanenten Kritik zu Leibe rückt: der herrschende Marxismus wird mit Hilfe einer marxistischen Methode und um marxistischer Ziele willen kritisiert. Das heißt im wesentlichen: die herrschende Bürokratie (Wagner übersetzt den von den Autoren verwendeten Ausdruck „zentrale politische Bürokratie" legitimerweise mit „Monopolbürokratie") wird auf ihren Klassencharakter hin untersucht, wobei der Begriff „Klasse" durchaus im Sinne von Marx durch deren Verhältnis zum Eigentum an den Produktionsmitteln definiert wird. Die beiden Autoren liefern dann folgende Analyse der Situation in Polen: Die Macht im Staate gehört einer einzigen, monopolistischen Partei, die über die Gesamtheit der verstaatlichten Produktionsmittel verfügt und über den Anteil der Akkumulation und des Konsums entscheidet. Die Masse der Parteimitglieder hat auf die Entscheidungen der Partei keinerlei Einfluß und kann auch keinerlei Kontrolle über sie ausüben. Die Arbeiter können deshalb auch nicht darüber entscheiden, wie das Mehrprodukt ihrer Arbeit verwendet werden soll. Die Arbeiter haben kein Recht auf ökonomische Selbstverteidigung. Versuchen sie, sich zu organisieren oder gar zu streiken, werden Polizei, Staatsanwalt, Gerichte gegen sie mobilisiert. Das Mehrprodukt wird so der Arbeiterschaft mit Gewalt entzogen und u. a. zur Festigung des Polizei- und Parteiapparates verwendet, der die Arbeiter zum Gehorsam gegenüber den Machthabern zwingen soll. Da die Arbeiter gleichzeitig nur ein Existenzminimum an Lohn und anderen Leistungen erhalten, bedeutet das, „daß der Arbeiter ausgebeutet wird: er produziert das Existenzminimum für sich und unterhält die Staatsmacht gegen sich". So erweist sich die Monopolbürokratie als eine Klasse, und wie „jede herrschende Klasse ist (sie) bestrebt, ihre Herrschaft über die Produktion und die Gesellschaft zu erhalten, zu verlängern und zu festgen; für dieses Ziel wird das Mehrprodukt verwendet und diesem Ziel wird der gesamte Produktionsprozeß untergeordnet".

Daß die Dinge sich so entwickelt haben, ist nach Ansicht der Autoren nicht lediglich dem Einfluß der Sowjetunion und ihrer Roten Armee, die diese Form des „Sozialismus" nach Polen importierten, zuzuschreiben, sondern wesentlich eine notwendige Folge des Versuchs, ein zurückgebliebenes Land in raschem Tempo zu industrialisieren. Aber dieses Industrialisierungsprogramm ist inzwischen verwirklicht worden: „Die Produktionsverhältnisse, die auf monopolbürokratischem Eigentum beruhen, haben sich in Fesseln der Produktivkräfte verwandelt. .. Die einzige .. . Lösung der ökonomischen Krise besteht daher in der Abschaffung eben dieser Produktionsverhältnisse, im Sturz der monopolbürokratischen Klassenherrschaft."

Da die Arbeiterklasse der Hauptgegner der Monopolbürokratie sei, sei der Machtapparat des Staates in erster Linie gegen sie gerichtet. Ein Direktor verdient zehnmal soviel wie ein Arbeiter. Er ist der positive Held des sozialistischen Aufbaus. Auto und Villa sind sichtbare Zeichen seines gesellschaftlichen Prestiges. Die Monopolbürokratie hat aber heute nicht einmal mehr eine eigene Ideologie, und sie mystifiziert ihr Klasseninteresse auf nationalistische Art, indem sie es als Interesse der ganzen Nation ausgibt. (Unterdessen ist noch der Antisemitismus hinzugekommen, dieses untrügliche Zeichen der Dekadenz eines Regimes.) Die Folgen sind eine geistige Krise, Zynismus, Karrieredenken, hohe Jugendkriminalität. Die ganze Gesellschaft hat keine Zukunftsperspektive mehr. Deshalb muß das monopolbürokratische System mit Hilfe einer proletarischen Revolution gestürzt werden.

Aber die sowjetischen Panzer? Die beiden Revolutionäre sind überzeugt, daß die revolutionäre Bewegung sich über den ganzen Ostblock ausbreiten und auch die Sowjetunion erfassen werde. „Unsere Bundesgenossen im Kampf gegen die Intervention sowjetischer Panzer ist die russische, die ukrainische, die ungarische und die tschechoslowakische Arbeiterklasse ..."

Kuron und Modzelewski haben sich aber nicht mit der Marx'schen radikalen Kritik des Bestehenden begnügt, sondern auch noch ein konkretes Alternativprogramm ausgearbeitet, das unter dem Motto „Arbeiterdemokratie" vorgelegt wird. Es hat einige Ähnlichkeiten mit Gedankengängen unserer „Neuen Linken", wie die beiden Polen ja überhaupt eine Art östliche „Neue Linke" repräsentieren. Den Arbeitern — sagen sie — muß in Form von Arbeiterräten in den verselbständigten Unternehmen die Möglichkeit gegeben werden, über ihre Arbeit und deren Produkt selbst zu bestimmen. Aber das Rätesystemmuß, damit es nicht fiktiv bleibt, auf den Staat ausgedehnt werden. Es ist deshalb ein System von Räten mit einem Zentralrat der Arbeiterdelegierten zu bilden. Diese Rätedemokratie muß nach den Grundsätzen des Mehrparteiensystems organisiert sein: jede politische Arbeitergruppe hat das Recht, eine eigene politische Partei zu gründen. Es herrscht Freiheit des Wortes und der Presse. „Ohne die volle Freiheit für die Intellektuellen gibt es keine Arbeiterdemokratie." Die Gewerkschaften müssen vom Staat unabhängig sein. Politische Polizei und Berufsarmee werden abgeschafft und letztere wird durch eine Arbeitermiliz mit Spezialeinheiten ersetzt.

Dieser „Offene Brief an die Partei" von Kuron und Modzelewski ist ein Dokument, das an der Seite der Aufrufe der Matrosen von Kronstadt, der anarchistischen Kritik an Marx, Lenin und den Bolschewisten, der Oppositionsschriften Rosa Luxemburgs gegen Lenin, der trotzkistischen Kritik an Stalin, neben Djilas' Theorie der Neuen Klasse und so manchen anderen Dokumenten des Widerstandes gegen eine „verratene Revolution" in die Geschichte der Arbeiterbewegung eingehen wird.

Die Intelligenz, die Treue zur sozialistischen Überzeugung, der sittliche Ernst, der Mut und die Standhaftigkeit der beiden jungen Polen beeindrucken. Dennoch muß auf einige Schwächen ihrer Schrift hingewiesen werden. Was zunächst den kritischen Teil anbelangt, so erweist es sich einmal mehr, daß mit Marx allein heute nicht mehr durchzukommen ist. Auch die um die Zeitschrift Praxis gescharten marxistischen Philosophen Jugoslawiens denunzieren schon seit geraumer Zeit offen den Ausbeutungscharakter des herrschenden „sozialistischen" Bürokratenregimes, aber mit einem wesentlich moderneren soziologischen Rüstzeug und entsprechend überzeugender. (Man lese etwa, was Mihailo Markovic in seinem edition-suhrkamp-Bändchen „Dialektik der Praxis" [Nr. 285, Frankfurt/M. 1968] dazu zu sagen hat.)

Um das Phänomen des „Monopolsozialismus" in seinen mannigfachen Verästelungen erfassen und darstellen zu können, müßte man auch noch Max Webers Bürokratietheorie, Moscas und Paretos Elitentheorie, Freuds und Adlers Psychoanalyse und noch so manche moderne Soziologen, Psychologen, Anthropologen, Politologen zu Rate ziehen. Was wir da im „Osten" erleben, ist nicht nur ein Sachzwang irgendeiner ökonomischen Dialektik, sondern u. a. auch die fröhliche Wiederauferstehung des „alten Adam" aus dem Geiste einer Revolution, die nach Marx einen neuen Menschen hätte hervorbringen sollen. Man muß mit der Kritik bei Marx beginnen, wenn man die — für einen Sozialisten tragische — Situation im „Osten" verstehen will. Nur so kann man sich auch vor Illusionen hüten wie etwa derjenigen, daß die heute in Polen und anderswo bestehende Gesellschaftsordnung „unvermeidlich zur Revolution führt" und die sowjetischen Panzer durch Arbeiteraufstände in der Ukraine gestoppt würden.

Was den konstruktiven Teil anbelangt, so nimmt sich das Konzept einer auf dem Räteprinzip gegründeten Arbeiterdemokratie zwar sehr schön aus, aber man muß sich fragen, ob in Polen heute die objektiven Bedingungen für die Verwirklichung einer derart idealen direkten Demokratie gegeben sind. Ein bescheideneres Programm, das den Akzent etwg auf eine innere institutionelle Demokratisierung der Partei und auf die Schaffung wirksamer demokratischer Kontrollorgane in allen Bereichen des staatlichen und politischen Lebens setzen würde, hätte vielleicht mehr Chancen. Die tschechoslowakischen Reformer waren jedenfalls realistischer. Freilich kümmern die sowjetischen Panzer sich wenig um dergleichen Differenzierungen, und solange der Monopolsozialismus durch die Panzer einer Supermacht vor der „zweiten Revolution" geschützt wird, hat er die Geschichte auf seiner Seite.

Dr. Arnold Künzli

Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung, Gewerkschaftliche Monatshefte, Juni 1969; http://library.fes.de/gmh/main/pdf-files/gmh/1969/1969-06-b-375.pdf