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Vorbemerkung von Günter Langer : Werner
Neufliess war ein syndikalistisch organisierter Gärtner aus
Breslau, der von den Nazis in das KZ Theresienstadt gesteckt wurde. Nach
der Befreiung durch die Rote Armee wollte ihm der neue
tschechoslowakische Staat keine Staatsbürgerschaft zuerkennen. Daraufhin
beschloss er, in dem neuen Staat Israel einen neuen Anfang zu
machen, um endlich frei von Antisemitismus leben zu können. Er wurde
dort Gärtner in einem Moschav, einer agrarischen Genossenschaft.
Gerhard Senft von der
Pierre Ramus-Gesellschaft hat seinen Lebensweg einfühlsam
beschrieben. Wir danken Gerhard Senft für die
freundliche Genehmigung, seinen Text hier übernehmen zu dürfen.
Gerhard Senft
BRESLAU/WROCLAW –
THERESIENSTADT
–
SHAVEI ZION
Gezeiten eines Jahrhundertlebens. Werner Neufliess (1908-2004)
Als
ich Werner Neufliess zum ersten Mal begegnete, war er im Gartenbereich
der Siedlung Shavei Zion
damit beschäftigt, einige Rosenstöcke sorgsam zu recht zu schneiden. Ich
hatte mich damals, im Sommer 1985 als Student der
Wirtschaftwissenschaften entschlossen, einige Monate in Israel zu
verbringen, um das Genossenschaftswesen des Landes, besonders aber den
legendären Kibbuz, kennen zu lernen. Zwei Monate meines Aufenthaltes
arbeitete ich in einem damals neu gegründeten Moschav in der Nähe der
Stadt Naharia im Norden Israels. Weitere Stationen meiner Reise waren
die Kibbuzim Dagania, Gescher Habiz, En Gev, Evron und Lohamei Hagetaot
sowie die Moschavim Nahalal und Shavei Zion im westlichen Galiläa. Als
Ergebnis meines Aufenthaltes in Israel entstand in der Folge eine an der
Wirtschaftuniversität Wien vorgelegte Hausarbeit. Was mich damals
besonders angeregt hatte, war Augustin Souchys Schrift „Reisen durch die
Kibbuzim“. Seine Hinweise waren es auch, die mich auf den Moschav Shavei
Zion aufmerksam machten. Bei meinem ersten Besuch in der Kommune fragte
ich im Sekretariat nach einem Interviewpartner, der mir über die
Geschichte und die aktuellen Entwicklungen der Siedlung Auskunft zu
geben imstande wäre. Ich wurde sogleich an Werner Neufliess verwiesen.
In seiner herzlichen Art lud er mich in sein bescheidenes Haus, wobei
ich auch seine Frau Rosa kennen lernen durfte. Werner Neufliess
versorgte mich, nachdem er mein Anliegen vernommen hatte, mit wertvollen
Literaturtipps und lieh mir noch einige seiner themenbezogenen Bücher.
Bei unserem letzten Treffen 1985 überreichte er mir zum Abschied den
Abzug eines Manuskripts, in dem er seine mehr als wechselvolle
Lebensgeschichte festgehalten hatte: In Breslau, im heutigen Polen
geboren, hatte er den Beruf des Gärtners erlernt. Von den
Nationalsozialisten verfolgt, flüchtet er 1933 in die Tschechoslowakei,
wo er nach der Besetzung durch die deutschen Truppen verhaftet und in
das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde. In dieser Zeit
war er im Bereich der landwirtschaftlichen Produktion eingesetzt. Nach
der Befreiung aus dem KZ entschlossen sich Werner Neufliess und seine
Frau Rosa zur Auswanderung nach Israel, wo sie sich in Shavei Zion
niederließen. Hier ging Neufliess wieder seinem erlernten Beruf als
Gärtner nach. Heute, in einer Zeit, in der das Existenzrecht des Staates
der Shoa-Überlebenden in unerträglicher Weise in Frage gestellt wird (am
„Jerusalem-Tag“ im Iran Ende Oktober 2005 wurde der Holocaust zum
„Mythos“ erklärt und dazu aufgerufen, Israel „von der Landkarte zu
tilgen“) erscheint jede
Begründung überflüssig, warum Lebensgeschichten, wie jene von Werner
Neufliess, immer wieder neu zu erzählen sind.
Werner Neufliess wurde im August 1908 als Sohn einer jüdischen
Ärztefamilie im Schlesischen Breslau geboren. Größer als Köln, Nürnberg,
Düsseldorf oder Frankfurt am Main zählte das expandierende industrielle
Ballungszentrum Breslau zu den zehn größten Städten des damaligen
deutschen Reichsgebietes. Der überwiegende Teil der rund 470.000
Einwohner umfassenden Stadt war in seinem religiösen Bekenntnis
– so das Ergebnis der
Volkszählung vom Dezember 1905 – protestantisch orientiert. Mehr als 57
Prozent der Breslauer Bevölkerung neigte zur lutherisch-reformerischen
Richtung, während sich knapp 37 Prozent zum Katholizismus bekannten. Die
jüdische Gemeinde Breslaus war entsprechend dem gesamten Wachstum der
Metropole zwischen 1850 und 1900 von 7.200 auf etwa 19.000 Mitglieder
angewachsen; sie repräsentierte also zum Zeitpunkt der statistischen
Erhebung etwas über vier Prozent der Bevölkerung. Der Beitrag des
Judentums zum kulturellen Geschehen und zum intellektuellen Klima der
Stadt war bedeutend. Die geistig anregende Sphäre Breslaus brachte im
20. Jahrhundert nicht wenige wichtige Zeitgenossinnen und Zeitgenossen
hervor. – Um nur eine kleine Auswahl zu erwähnen: Günther Anders (d. i.
Günther Stern, 1902-1992), Philosoph und Essayist, Dietrich Bonhoeffer
(1908-1945), Theologe und Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime,
Norbert Elias (1897-1990), Soziologe und Historiker, Ilse Langner
(1899-1987), Schriftstellerin und Dramatikerin.
Das Geburtsjahr von Werner Neufliess fiel ohne Zweifel in eine bewegte
Epoche: Die Wirtschaftsrivalitäten und die Auseinandersetzungen um
koloniale Einflussgebiete zwischen den großen Mächten hatten zugenommen,
kriegerische Konfliktaustragungen tobten in Afrika (Burenkrieg), in
Asien (Russland gegen Japan), und auch in Europa selbst, am Balkan,
spitzten sich die Verhältnisse zu. Unter Reichskanzler Bernhard von
Bülow (1900-1909) kam es mit der Verabschiedung der sog.
Flottengesetznovelle 1908 zu einer merklichen Beschleunigung des
Rüstungstempos im Deutschen Reich. Das Imponiergehabe und das
"persönliche Regiment" des deutschen Kaisers stießen jedoch in der
Bevölkerung nicht nur auf Zustimmung. Nach einem im englischen Blatt
"Daily Telegraph" 1908 erschienen Interview mit Willhelm II. regte sich
sowohl im deutschen Reichstag als auch in der kritischen Presse
Widerstand. Damit wurde deutlich, wie sehr innerhalb des Deutschen
Reiches das Vertrauen in die Monarchie bereits geschrumpft war. Die
aggressionsbeladenen Ambitionen der Führung des Deutschen Reiches kamen
1908 auch in dem "Notfall-Gesetz" zum Ausdruck, das die preußische
Regierung ermächtigte, polnischen Landbesitz bis zu einem Ausmaß von
70.000 ha zu enteignen und an deutsche Siedler weiterzugeben. Obwohl das
Enteignungsgesetz in seinen praktischen Auswirkungen nur eine geringe
Rolle spielte, war die Atmosphäre vergiftet und heftige Gegenreaktionen
auf internationaler Ebene waren die Folge.
Wie ein großer Schatten sollten sich nach und nach die Auswirkungen
dieser Ereignisse über die Kinderjahre Werners legen. Im Hause Neufliess
wurde alles getan, dem Jungen ebenso wie seiner etwas älteren Schwester
ein wohlbehütetes Dasein zu ermöglichen, aber nicht alles stand in der
Macht der Eltern. Werner Neufliess berichtet: "An die ersten Jahre kann
ich mich sehr wenig erinnern, ein paar Ferienaufenthalte tauchen da auf,
einmal an der Ostsee, einmal im Riesengebirge. Mit fünfeinhalb Jahren
kam ich in die Vorschule des Friedrich-Gymnasiums, ein humanistisches
Gymnasium ganz in unserer Nähe. Da es mir in der Schule nicht sehr
leicht fiel, war ich nie genug konzentriert und immer verspielt, so war
ich kein Musterschüler." In der vierten Klasse wurde der Knabe in das
Realgymnasium am Zwinger umgeschult, wo – so Neufliess – "es mir zwar
besser ging, aber eine Freude war es nicht, weder für mich, noch für
meine Lehrer. Ich war also froh, als ich nach Erreichung der
Obersekundarreife die Schule verlassen konnte und einen Beruf ergreifen
durfte."
Der Rathausplatz
von Breslau/Wroclaw um 1900
An seine Herkunft, an sein Elternhaus und an den Beruf seines Vaters
erinnert sich Werner Neufliess: "Mein Vater war ein schwer beschäftigter
Arzt. Er stammte aus sehr kleinen Verhältnissen, der Großvater betrieb
eine kleine Schnapsbrennerei und hatte, wie die Großmutter mir mal
erzählte, durch seine Gutmütigkeit all sein Geld verloren. Mein Vater
mußte sich sein Studium schwer erkämpfen und dafür sogar Schulden
machen. … Die Mutter war aus gutsituiertem Haus, eine Kaufmannsfamilie,
und so hatte es mein Vater dann etwas leichter, die Einrichtung für die
Praxis und der Start für den Aufbau der Existenz war gesichert. Meine
Schwester war 1905 geboren worden, es war eben ein gutbürgerliches Haus,
es gab keine finanziellen Sorgen, eine große guteingerichtete Wohnung,
man lebte aber sehr bescheiden, die Mutter war oft zu sparsam, wir
hätten uns mehr leisten können. … Der Vater war sehr fleißig, ein guter
und beliebter Arzt. Da wir in einem Arbeiterviertel wohnten, gab es fast
nur Kassenpatienten, keine Privatpatienten. Während die Kollegen meines
Vaters die Nachtglocke oder das Telefon abstellten, um ihre Ruhe zu
haben, war mein Vater immer bereit, seine Nachtruhe aufzugeben, seine
Ideale als Arzt verboten ihm solche Tricks. Natürlich ging das oft über
seine Kräfte, was gelegentlich zu familiären Spannungen führte."
Die Annäherung des jungen Werner Neufliess an das jüdische Leben in
Breslau vollzog sich erst allmählich: "In unserer Gegend gab es kaum
Juden, die wohnten eher im Zentrum oder im Süden der Stadt. Wir wußten
zwar, daß wir Juden sind und ich wurde auch auf der Straße angepöbelt.
Die Eltern waren beide aus liberalen Häusern und niemand legte Wert auf
das Einhalten der jüdischen Feiertage. Im Gymnasium hatte ich nicht mal
jüdischen Religionsunterricht, da wir nur drei Juden in der ganzen
Schule waren. So ging ich manchmal zum katholischen oder zum
protestantischen Religionsunterricht. Wegen der christlichen
Hausangestellten wurden dann eben alle christlichen Feiertage gehalten,
einen Weihnachtsbaum hatten wir immer. Einen Chanukka-Leuchter kannte
ich nicht. Mein bester Freund war der Sohn des Pastors der
Elftausendjungfrauen-Kirche, die neben unserm Haus stand und der Sohn
eines Roßfleischhauers. Der stillgelegte Friedhof der Kirche war unser
Spielplatz. Ich wurde auch von den Hausangestellten oft in die Kirche
mitgenommen und hatte nie Gelegenheit, eine Synagoge zu sehen. Die erste
Synagoge sah ich dann später in Brieg, wo unsere Großeltern wohnten. Im
Realgymnasium kam ich dann in jüdische Kreise und auch in den
Deutsch-Jüdischen Wanderbund "Kameraden". Es war eine jüdische
Organisation, aber alle waren aus den assimilierten Häusern."
Die Katastrophe des Ersten Weltkrieges, ausgelöst durch die
unglückselige Vermengung von Habsburgischer Überheblichkeit und
preußischem Militarismus, fiel wie ein großer Schatten auf die
Kinderjahre Werner Neufliess'. Der einige Jahre ältere Günther Anders,
der den Beginn der Kriegskatastrophe ebenfalls in Breslau miterlebte,
erinnerte sich später immer nur mit dem Gefühl des größten Unbehagens an
jene Zeit zurück. Die anfängliche Kriegsbegeisterung und der
Hurrapatriotismus, die in der Bevölkerung Deutschlands und Österreichs
herrschten, bekamen jedoch bald Risse. Zu Weihnachten 1914 – nur wenige
Monate nach Kriegsbeginn – zeigten sich erste Unwilligkeit und
Erschöpfungsanzeichen bei den
Truppen an der Front. Doch die gigantischen Rüstungsanstrengungen in den
Jahren davor hatten für eine erbarmungslose Prolongierung des blutigen
Geschehens gesorgt. Am Höhepunkt des Krieges standen 74 Millionen
Soldaten unter Waffen, davon 25 Millionen alleine bei den Mittelmächten.
Die bei Verdun oder an der Somme geführten Kriegshandlungen erforderten
einen gewaltigen Materialaufwand und brachten ein ungeheures Ausmaß an
menschlichem Leid mit sich. Zehn Millionen Tote insgesamt blieben mit
Kriegsende 1918 auf den Schlachtfeldern zurück, noch einmal so viele
kehrten als Kriegskrüppel oder verwundet heim. Großbritannien hatte eine
Million tote und zwei Millionen verwundete Soldaten zu beklagen. Das
Deutsche Reich, das im letzten Kriegjahr etwa 8 seiner 16,7 Millionen
männlichen Staatsbürger im Alter zwischen 15 und 60 Jahren im Dienst der
Streitkräfte stehen hatte, musste Verluste in der Größenordnung von 1,8
Millionen toten und 4,2 Millionen verwundeten Soldaten hinnehmen. Zurück
blieb nicht zuletzt eine erschöpfte Zivilbevölkerung, die die
Folgeschäden des Krieges zu tragen hatte. Die Kriegstoten unter den
Zivilisten waren ebenfalls mit etwa 10 Millionen zu beziffern, weitere
20 Millionen starben an Unterernährung und Krankheiten, die dem Kriege
zuzurechnen waren. Die militärischen Operationen hatten 180 bis 230
Millionen Dollar (gerechnet zu Kaufkraftwerten von 1914) verschlungen.
Dazu kamen vom Krieg verursachte materielle Schäden, die sich mit über
150 Millionen Dollar zu Buche schlugen. Der Rätesozialist Kurt Eisner,
1918/19 kurzzeitig bayrischer Ministerpräsident, hielt nach dem Ende des
großen Krieges fest: "Wenn wir die Milliarden, die wir für den Krieg
vergeudet haben, für das Leben ausgegeben hätten, dann wäre Deutschland
heute ein Paradies."
Der Erste Weltkrieg hatte innerhalb des Deutschen Reiches vieles an
Umwälzungen mit sich gebracht. Die Mobilisierung und die Organisation
aller verfügbaren Kräfte im Dienste der Kriegsführung verschafften dem
Staat einen wachsenden Einfluss auf das wirtschaftliche Geschehen. Der
Einbezug des weiblichen Teiles der Bevölkerung in das Arbeitsleben im
Rahmen der (Rüstungs-)Industrie führte zu einer Stärkung der
Emanzipationstendenzen, die Notwendigkeit des umfassenden Einsatzes
aller verfügbaren Arbeitskräfte ließ die Bedeutung der Arbeiterbewegung
und der Gewerkschaften anwachsen. Während also die Arbeiterschaft mit
einem gestärkten Selbstbewusstsein aus den Ereignissen des Krieges
hervorging, blieb ein in Substanz geschädigter Mittelstand zurück, der
seine Rücklagen mit der Zeichnung der Kriegsanleihen (in Summe: 96,93
Milliarden Mark) und im Zuge der inflationsbedingten Geldabwertung
verloren hatte. Das gesellschaftliche Konfliktpotential war im Vergleich
zu der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beträchtlich angewachsen.
Die Familie Neufliess wohnte in einem der proletarischen Viertel
Breslaus, und so war Werner bereits von Kind an mit gravierenden
sozialen Gegensätzen konfrontiert. Die fehlende Systemintegration der
Arbeiterschaft im Deutschen Reich bildete noch immer eines der
drängendsten Probleme, auf der Ebene der zum Teil heftig geführten
politischen Auseinandersetzungen (Räterepublik in Bayern,
Spartakus-Aufstand in Berlin) spiegelten sich die gesellschaftlichen
Disparitäten wider. Bei den Wahlen zum niederschlesischen
Provinziallandtag im Jahr 1921 – Breslau war 1919 zur Hauptstadt der neu
gegründeten Provinz Niederschlesien geworden – erreichte die
Sozialdemokratie mit 51,19 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit.
Das bürgerliche Lager mit dem
Katholischen Zentrum (20,24 Prozent), der
Deutschen Volkspartei (11,9
Prozent) und mit der Deutschen
Demokratischen Partei (9,52 Prozent) rangierte damit deutlich hinter
der SPD. Werner Neufliess selbst betrachtete das gesellschaftliche
Umfeld, wie er es erlebte, als prägend für seine spätere persönliche und
politische Entwicklung bzw. für seine noch im Jugendalter vollzogene
Hinwendung zu den Ideen des Sozialismus. Die Kluft zwischen den sozialen
Gruppen stellte sich im Gefolge des Ersten Weltkrieges noch schärfer
dar: "Breslau war nach dem Krieg die Stadt mit dem größten Elend und der
größten Wohnungsnot. … Ich sah große Familien, in einem oder zwei
Zimmern untergebracht. Dann kam noch die Inflation und später die
Massenarbeitslosigkeit und ich hörte zu Hause viel über die Not der
Patienten meines Vaters, oft hat er sie umsonst behandelt und ihnen auch
noch die Medizin bezahlt aus seiner eigenen Tasche. All das hat
natürlich meine spätere politische Einstellung stark beeinflußt. In
Breslau wurde auch so ein billiger Fusel verkauft, wurden die
Betrunkenen rabiat, dann wurde mein Vater gerufen, mußte die
Geschlagenen verbinden, oft die von ihren eigenen Ehemännern
malträtierten Frauen, und die Geschlagenen-Atteste ausstellen für die
Gerichte. Vielleicht kommt schon daher meine Abneigung gegen jeden
Alkoholgenuß."
Der Deutsch-Jüdische Wanderbund "Kameraden", in dem Werner Neufliess
während seiner Jugendjahre bevorzugt verkehrte, war Bestandteil der so
genannten Wandervogel-Verbände, die die erste größere Gruppenausformung
innerhalb der deutschen Jugendbewegung um 1900 repräsentierten.
Hervorgegangen aus einer Vereinigung von Schülern des Steglitzer
Gymnasiums in Berlin 1896, verbreiteten sich die auf Naturerfahrung und
Lebensreform (Vegetarismus, Antialkoholismus, alternative
Bodenbewirtschaftung) ausgerichteten Vereine sehr rasch im gesamten
deutschsprachigen Raum. Der Wandervogel bildete im Hinblick auf
Kleidung, Symbolik, Lagerleben, Fahrtenwesen, Musik- und
Tanzaufführungen einen eigenen Lebensstil aus und setzte sich im Sinne
einer autonomen Jugendkultur für eine unabhängig von der älteren
Generation entwickelte Selbsterziehung und Selbstgestaltung in
jugendlichen Gemeinschaften ein. Im Großen und Ganzen war die
Organisation der Jugendbewegung das Ergebnis einer Auflehnung gegen die
Einschränkungen der (zumeist) bürgerlichen Elternhäuser und gegen die
Sachzwänge, die das moderne kapitalistische Zeitalter hervorgebracht
hatte. Ziel war es, neue Antworten zu finden, auf Fragen des "Eros" oder
im Hinblick auf die psychische Beschaffenheit des modernen Menschen. Ein
Teil der Jugendbewegung entwickelte nach dem Ersten Weltkrieg – so
Margarete Buber-Neumann in ihren Erinnerungen "Von Potsdam nach Moskau"
– ein deutliches Naheverhältnis zur radikalen politischen Linken. Die
Wandervogel-Bünde bestanden in Deutschland bis zu ihrer Auflösung im
Jahr 1933, in Österreich bis 1938.
Das neue Umfeld, dass der Wanderbund für Werner Neufliess darstellte,
rückte die Frage der jüdischen Identität zwar näher an ihn heran, im
Zentrum seiner Gedanken stand sie aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht:
"Wenn die eine gewisse Vorprägung fehlte, wurde man sich dort nicht des
Judentums bewußt. Es gab zwar hitzige Diskussionen, aber ich war nie
daran beteiligt. Interessanter waren schon die Diskussionen mit den
zionistischen Blauweissen. Für mich waren jedenfalls die
Wandervogeljahre die schönsten meines Lebens. Die Wanderungen, die
Liebe zur Natur, die freiwillige Disziplin und die Kameradschaft
entsprachen meinen Idealen und noch heute erinnere ich mich an viele
schöne Einzelheiten. Die Kameradenjahre haben mir auch sehr geholfen
über häusliche Probleme hinwegzukommen. Aussprachen mit Gleichgesinnten
ersetzten mir oft den fehlenden väterlichen Rat in meinen
Jugendproblemen. … Die Wandervogelzeit war natürlich eine Auflehnung
gegen die bürgerliche Welt, war eben revolutionär, mit ein paar Mark in
der Tasche und dem Zelt auf dem Buckel durch ganz Deutschland zu
tippeln, anstatt mit dem Vater nach Bad Kissingen zu fahren. Durch die
Wandervogelerziehung und die Liebe zur Natur wurde ich auch weitgehend
in meiner Berufswahl beeinflußt. Dazu kam, daß wir in den Kriegsjahren
einen Schrebergarten hatten, als mein Vater nach zwei Frontjahren
zurückkam und sich von der schweren Lazarettarbeit erholen wollte. Für
ihn war es ein Hobby, aber bald machte ich alle Arbeit allein und die
Freude an dieser Arbeit war ausschlaggebend für meine Berufswahl. Auf
der Schule fiel es mir nicht leicht und ich hatte Angst vor dem Studium.
Mein Vater wollte natürlich unbedingt, daß ich auch Arzt werde, wie es
die bürgerliche Tradition verlangte. Unser Wandervogel war zwar nicht
sozialistisch, aber doch schwang die Einstellung mit, sich seinen Weg
selbst zu finden und nicht vom Geld des Vaters abhängig zu sein. Es war
auch ein schwerer Kampf, bis ich die Einwilligung bekam, Gärtner zu
lernen, auch mußte ich versprechen, die Gartenbauschule zu besuchen."
Lehrjahre
Der Breslauer Mediziner Doktor Neufliess hatte sich unter schwierigen
Bedingungen zum Akademiker hochgearbeitet, für ihn war der Gedanke nur
schwer zu ertragen, dass der Sohn sich mit einer Ausbildung zum Gärtner
begnügen wollte. Für Werner Neufliess bestand aber nie ein Zweifel,
damals die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Seine Lehrzeit
verbrachte er bei der Firma Paul Hatt in Breslau-Grünsiche. Es war ein
großes Unternehmen, das Landschaftsgärtnerei und Staudenzucht betrieb.
Werner Neufliess fügte sich gut in das betriebliche Leben ein, die
Arbeit machte ihm großen Spaß, mit Eifer ging er daran, sich die
gärtnerischen Fähigkeiten anzueignen. Er erinnert sich: "Was den Betrieb
besonders auszeichnete, war die Kameradschaft und die Solidarität unter
den Arbeitern. Der Chef versuchte immer, uns Lehrlinge als billige
Arbeitskräfte gegen die Gehilfen auszuspielen, aber das wurde von den
Gehilfen verhindert." Mit Unterstützung der Gehilfenschaft wurde es
möglich, dass Werner Neufliess seine Ausbildungsphase von drei auf zwei
Jahre reduzieren konnte, und er so im Jahr 1929 seine Lehrzeit mit der
Gehilfenprüfung bei der Landwirtschaftskammer in Breslau mit gutem
Erfolg abschloss. Auch für seine politische Entwicklung betrachtete
Werner Neufliess seine Lehrjahre als entscheidend. Innerhalb der
Kollegenschaft des Betriebes waren ziemlich alle Richtungen der
politischen Linken vertreten. Neufliess kam so in Kontakt mit der
Sozialdemokratie und mit der Gewerkschaftsbewegung. Auch ein
jugendlicher Kommunist befand sich unter den Lehrlingen, "ein guter
Kerl, voll ehrlicher Ideale und ein großer Arbeitersportler", wie
Neufliess später festhielt. "Die Arbeitspausen waren immer mit
politischen Diskussionen ausgefüllt, die ein bemerkenswert hohes Niveau
hatten. Einer der Obergärtner erzählte immer Geschichten aus dem Ersten
Weltkrieg, aber keine Heldentaten, wie all die anderen, sondern wie er
sich als eingefleischter Pazifist verhalten hat. Er war auch der, der
sich am meisten um unsere Ausbildung gekümmert hat und immer vom Chef
verlangte, daß wir wirkliche gärtnerische Arbeit leisteten und was
lernten. Er hinterließ bei mir den stärksten Eindruck."
Weiter schildert Werner Neufliess: "Am auffallendsten war ein Chauffeur,
der ein Anarcho-Syndikalist war. Ich konnte mich zwar nicht für seine
radikalen Ansichten begeistern, aber er war ein besonders feiner und
kultivierter Mensch. Ich habe es nie begriffen, daß er später seinem
Leben selbst ein Ende setzte, angeblich eine Frauenaffäre." Der
Anarcho-Syndikalismus war in Deutschland als politische Richtung und als
Kulturbewegung im Gefolge der SPD-internen Auseinandersetzungen um den
so genannten Revisionismus emporgekommen. Die Revisionisten, die in der
deutschen Sozialdemokratie bereits vor 1900 deutlich an Boden gewonnen
hatten, neigten dazu, alle revolutionären Aktivitäten auf die lange Bank
zu schieben. Auf dem Parteitag der SPD in Dresden 1903 wurde die vom
Wortführer der revisionistischen Richtung Eduard Bernstein verfochtene
Reformpolitik zwar mehrheitlich abgelehnt, in der Praxis blieb die
Führung der Sozialdemokratie jedoch dem revisionistischen Geist
verpflichtet. Für zahlreiche dem Sozialismus nahe stehende
Intellektuelle und Angehörige der Arbeiterschaft war dieser Weg nicht
mehr gangbar. Am 4. August 1904 hielt Raphael Friedeberg in Berlin vor
mehreren Tausend Zuhörerinnen und Zuhörern ein Referat zum Thema
„Parlamentarismus und Generalstreik“, in dem er eine
revolutionstaktische Erneuerung der Arbeiterbewegung auf der Basis des
Generalstreiks vorschlug. Friedeberg interpretierte die Diskrepanz
zwischen dem organisierten Machtpotential der Sozialdemokratie und der
relativen praktischen Erfolglosigkeit der Arbeiterbewegung als einen
Effekt einer staatsfreundlichen und zu anpassungsbereiten Politik. In
dieser heißen Phase der Auseinandersetzungen wurde die „Freie
Vereinigung deutscher Gewerkschaften“, eine rund 15.000 Anhänger
zählende oppositionelle Minderheit innerhalb der Gewerkschaftsbewegung,
zur Keimzelle des deutschen Anarcho-Syndikalismus. Die Führung der SPD,
die zu jener Zeit gerade massive Probleme hat, laufende Massenaktionen
im Zaum zu halten – die Bergarbeiter im Ruhrgebiet hatten die Arbeit
niedergelegt, die Metallarbeiter in Bayern streikten, ebenso die
Elektrizitätsarbeiter in Berlin –, war schwer irritiert und reagierte
mit Parteiausschlüssen. Die Vereinigung der radikalen Linken in eigenen
Organisationen erschien nun unumgänglich. Mit der Ausweitung
syndikalistischer Tendenzen in Deutschland erhielt die Sozialdemokratie
zunehmend Konkurrenz. Auf ihrem 12. Kongress im Jahr 1919 konnte die
syndikalistische „Freie Arbeiterunion Deutschlands“ (FAUD) bereits auf
fast 112.000 Mitglieder verweisen.
Unter dem Einfluss seiner neuen
Umgebung entschloss sich Werner Neufliess, dem "Arbeiter Turn- und
Sportbund" (ATUS) beizutreten. Dabei wurde er auch Mitglied der "Freien
Kanuvereinigung", die Ausflüge verlagerten sich nun mehr und mehr auf
das Wasser. Mit seinen neuen Aktivitäten, beruflich und in der Freizeit,
entfernte sich Werner Neufliess jedoch zunehmend von den "Kameraden" des
Wandervogelbundes, die ihn durch seine Jugendjahre begleitet hatten. Als
mit der Einschreibung in den ATUS der Austritt aus der bürgerlichen
Organisation verlangt wurde, tröstete er sich mit dem Gedanken: "Die
Entwicklung der 'Kameraden' ging ja auch in der sozialistischen
Richtung. Aus den 'Kameraden' wurden dann übrigens die 'Werkleute', die
später nach Palästina gingen und dort führend bei der Gründung
linkssozialistischer Kibbuzim wurden."
Der Abschluss seiner Lehrjahre fiel für Werner Neufliess mit einem
besonders einschneidenden Ereignis zusammen: 1930 kam seine Mutter unter
tragischen Umständen ums Leben. Zu diesem Zeitpunkt entschloss er sich,
von zu Hause wegzuziehen. Nach Ablauf eines Jahres heiratete der Vater
wieder, dessen neue Frau hat Neufliess in ausgesprochen guter Erinnerung
behalten: "Sie hat es immer verstanden, alle Spannungen zwischen meinem
Vater und mir zu mildern." Seine Urlaube nützte der junge Neufliess
daher gerne für Besuche im Elternhaus. Im Jahr 1930 deuten alle Zeichen
darauf hin, dass sich die Weltwirtschaft auf einer rasanten Talfahrt
befindet. In Deutschland hatten sich bereits im Winter 1928/29 Anzeichen
einer Krise gezeigt, die Jahre einer guten Konjunktur – Auswirkungen
eines ausgeprägten Produktivitätswachstums und einer hohen
Kapitalzufuhr, vor allem aus den USA (1929 betrug die deutsche
Auslandsverschuldung 25 Milliarden Reichsmark, davon 12 Milliarden
kurzfristige Gelder) – gingen zu Ende. Im Oktober 1929 erschütterte der
große Börsenkrach in den USA sowohl das monetäre Geschehen als auch die
realwirtschaftlichen Fundamente der westlichen Welt schwer. Drastische
Einbrüche auf der Seite des Konsums, in der Folge auch im
Investitionsbereich, setzten eine deflationäre Entwicklung in Gang,
deren negative Effekte nur allzu bald spürbar wurden. Die Staaten gingen
dazu über, ihre Schuldenrückzahlungen einzustellen, die generell
verminderte Nachfrage reduzierte in Verbindung mit den
protektionistischen staatlichen Maßnahmen das Volumen des Welthandels
auf ein Minimum, das alles, während das internationale Währungssystem
auf einen ungesunden Abwertungsreigen zusteuerte. Als Reaktion auf die
Verminderung der Austauschbeziehungen und des Preisverfalls der Produkte
wurde die Erzeugung enorm gedrosselt – mit dem Effekt einer Schwächung
der betroffenen Unternehmen. Betriebszusammenbrüche waren an der
Tagesordnung, ein gewaltiger Anstieg der Arbeitslosenziffern war eine
logische Folge. Am Tiefpunkt der großen Weltwirtschaftkrise im Herbst
1932 waren fast 30 Millionen Menschen weltweit arbeitslos geworden.
Trotz der zunehmend angespannten Situation auf dem Arbeitsmarkt gelang
es Werner Neufliess, bald eine Arbeitsstelle als Gärtnergehilfe zu
finden. Seinen ersten Posten erhielt er auf Empfehlung seines früheren
Lehrmeisters bei der Rosenfirma Teschendorf in Cossebaude bei Dresden.
Hier herrschte jedoch ein ganz anderes Klima als an der
Ausbildungsstätte. Die meisten seiner Kollegen waren Söhne von
Großgärtnern, die primär an ihrer beruflichen Entwicklung interessiert
waren. Der junge Gärtnergehilfe vermisste den Gemeinschaftsgeist, zudem
war er auch mit üblen antisemitischen Unterstellungen konfrontiert.
Insbesondere nachdem in Erfahrung gebracht worden war, dass der
Neuankömmling auch gewerkschaftlich organisiert war, ging die Hetze los.
Neufliess arbeitete in der Staudenabteilung, einem Zweig, in dem er sich
während der Lehrzeit spezielle Kenntnisse erworben hatte, wobei der
zuständige Obergärtner regelmäßig seine Zufriedenheit mit seinem
Arbeitsergebnis äußerte. Trotzdem blieb eine Eskalation nicht aus:
"Einmal, ich arbeitete gerade bei den Dahlien im Koller, hörte ich, wie
der Chef vom Obergärtner meine Entlassung verlangte, mit der Begründung,
daß ich Jude und Gewerkschaftler wäre. Der Obergärtner weigerte sich,
das zu tun, aber ich ging selber zum Chef und kündigte." Seine nächste
Stelle fand er bei der Firma Wiedow in Coswig, ein Betrieb mit
Gewächshäusern, Orchideen und anderen Topfpflanzen. Dort gab es zwar
Neues zu lernen, da die Arbeit aber Neufliess auf die Dauer doch etwas
zu einseitig erschien und er seinen Kenntnisstand erweitern wollte,
wechselte er zur Firma Reinhold Behnsch, ein Baumschulbetrieb in Brockau
bei Breslau. Hier blieb er bis zur Aufnahme in die Lehr- und
Forschungsanstalt für Gartenbau (LUFA) in Berlin-Dahlem. Vor Schulbeginn
begab er sich aber noch mit einem Freund auf eine größere Reise, mit dem
Faltboot die Oder abwärts bis nach Stettin, mit dem Schiff nach
Königsberg und von dort über die masurischen Seen zurück nach Breslau.
Es war selbstverständlich, unterwegs zwischendurch auch immer zu
arbeiten. Es war das Jahr 1931 und allerorts war bereits der
aufsteigende Nationalsozialismus zu spüren, es gab Terrorakte, unter
anderem in Allentsteig, wo Neufliess den späteren Gauleiter Koch im
Rahmen einer Versammlung erlebte. Die "Nationalsozialistische Deutsche
Arbeiterpartei" war das Produkt obskurer rechtsextremer Verbände, die in
der unruhigen Phase nach dem Ersten Weltkrieg emporgekommen waren. Mit
ihrer rassistisch-sozialdarwinistischen Ideologie und ihrem
sektiererischen Hintergrund war sie wesentlich auf die Bedingungen einer
gravierenden gesellschaftlichen Krise angewiesen, um zu einer
Massenpartei emporsteigen zu können.
In der Gartenbauschule bekam Neufliess noch mehr von der sich
vollziehenden politischen Umwälzung zu spüren. Er war der einzige Jude
seines Jahrganges und sein Tischnachbar saß bereits am ersten Schultag
mit der Hakenkreuzbinde am Arm neben ihm. Es gab Lehrer, die ihn schon
am ersten Tag fühlen ließen, dass sie überzeugte Nazis waren, andere
vollzogen ihre Gleichschaltung langsamer. "Es fiel mir schwer, mich
unter diesen Bedingungen zu konzentrieren", erinnert sich Neufliess,
"ich wußte genau, was uns blüht. Die Anforderungen in der Schule waren
sehr hoch, ich mußte mich sehr anstrengen und bestand auch die Prüfung
für den zweiten Jahrgang ganz gut." Im zweiten Jahrgang wählte er seinen
Neigungen entsprechend Obst- und Gemüsebau als Hauptfach. Die politische
Lage spitzte sich indessen aber immer mehr zu. Die Proteste gegen die
Anwesenheit von Juden in der Schule nahmen zu, die Schikanen mehrten
sich, Neufliess wurde von einem Kurs ausgeschlossen, obwohl er bis dahin
in jeder Hinsicht mustergültig gewirkt hatte. Es wurde klar, was zu tun
war: "Politisch war ich in dieser Zeit nicht sehr aktiv. Ich hatte keine
Zeit, mußte viel lernen. Aber da ich täglich den Terror der Nazis auf
der Straße beobachtete, trat ich dem 'Antifaschistischen Kampfbund' bei,
eine Abwehrorganisation der Sozialdemokraten und Kommunisten."
Werner Neufliess war etwa einen Monat an der Gartenbauschule, da
begegnete er dem Neuankömmling Ruth Hieber, ein "besonders hübsches
blondes Mädel". Sie stammte aus Konstanz, ihre Familie kam aber aus
Palästina. "Sie hatte dort schon mehrere Jahre als Gärtnerin gearbeitet,
und besuchte die Schule, um später Lehrerin an einer
landwirtschaftlichen Schule in Palästina zu werden. Sie bat mich, den
verlorenen Monat mit ihr nachzuholen und so saßen wir Abend für Abend
zusammen. Sie war eine besonders fähige und fleißige Schülerin und war
eine extreme Zionistin. Daß ich Sozialist war und nicht Zionist, nahm
sie mir sehr übel und so waren wir nur Kameraden. Einmal hörte ich, wie
hinter uns jemand sagte: wie kann dieses deutsche Mädel immer nur mit
dem Juden gehen. Als ich ihr das sagte, zog sie sofort einen Davidsstern
raus, den sie vorher unter der Bluse getragen hatte. Außer ihr gab es
noch ein Mädel, die kein Nazi war, sie war japanisch-deutscher
Abstammung, ein besonders lieber und netter Mensch, Petra Hagmann, ich
stand auch später noch mit ihr in Verbindung und sie war auch unter den
Nazis eingesperrt. Dann waren dort noch ein Engländer, der kein Nazi war
und ein Antroposoph, der auch den Mut hatte, seine Anti-Nazi-Gesinnung
zu bekennen."
Katastrophenjahre
Werner Neufliess durfte die Schule nicht mehr beenden. Am 30. Jänner
1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler berufen. Die Hoffnung der
bürgerlich-konservativen Kräfte in Hitlers erstem Kabinett, die
Alleinherrschaft der Nazi zu verhindern, scheiterte. Die
Schlüsselstellen der preußischen Polizei waren bereits unter Kontrolle
der Nationalsozialisten, auch die tolerierende Haltung der deutschen
Reichswehr gegenüber dem Vorgehen der NSDAP war mittlerweile gesichert.
Am 1. Februar wurde der Reichstag aufgelöst, die "Verordnung des
Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat" vom 28. des Monats
setzte wichtige Grundrechte außer Kraft und leitete den Abbau der
rechtsstaatlichen Grundlagen in Deutschland ein. Ende des Jahres 1933
war die Entwicklung hin zum Führerstaat mit totalitärem Anspruch im
Wesentlichen abgeschlossen. Die "Krisenbewältigung" des NS-Regimes bzw.
die markante Reduktion der Arbeitslosenziffern in den Jahren 1933ff
funktionierte über einen ausgedehnten staatlichen Interventionismus.
Eine vorrangige Rolle spielte dabei das Aufrüstungsprogramm, das mit den
rabiaten räumlichen Expansionsvorhaben der Nazielite unmittelbar
korrespondierte. Da die Finanzierung in hohem Ausmaß über die
Notenpresse funktionierte, waren flankierende Maßnahmen wie eine
systematische Devisenbewirtschaftung sowie eine autoritative staatliche
Kontrolle der Preise und der Löhne erforderlich. Das NS-Regime
verkörperte von Beginn an alle wesentlichen Merkmale einer
"konservativen Modernisierung", das heißt es zielte auf eine Erneuerung
und Effizienzsteigerung des technisch-ökonomischen Systems, bei
gleichzeitigem Abbau sozialer und politischer Errungenschaften. Mit der
Einrichtung der jeder ordentlichen Gerichtsbarkeit entzogenen
Konzentrationslager wurde ebenfalls schon 1933 begonnen: Dachau
(nordwestlich von München), Buchenwald (bei Weimar), Oranienburg
("Sachsenhausen", nördlich von Berlin). In letzterem sollte der linke
Schriftsteller und Politaktivist Erich Mühsam von Schergen des
NS-Regimes 1934 bestialisch ermordet werden.
Im Mai 1933 wurde Werner Neufliess im Gefolge einer Hausdurchsuchung in
der Wohnung seiner Tante verhaftet und mit mitsamt ihrer Familie in eine
zum Gefängnis umfunktionierte Schule gebracht. Der Hausmeister, der
schon die Funktion als "Blockwart" ausübte, hatte Neufliess für
verdächtig gehalten und die Feldpolizei von seinem Eintreffen
verständigt. Die Verwandte von Werner Neufliess betrieb ein
Vervielfältigungsbüro und arbeitete nebenbei als Sekretärin des
Schriftstellers Herrn von Hanstein, der im Ersten Weltkrieg als hoher
Offizier gekämpft und der danach eine Metamorphose zum Pazifisten sowie
zum Mitglied der "Liga für Menschenrechte" vollzogen hatte. Dem
Hausmeister-Spitzel war es aufgefallen, dass Neufliess regelmäßig jede
Woche die Familie seiner Tante aufsuchte, und er hatte ihn
fälschlicherweise mit der "Liga" in Verbindung gebracht. Nach der
Hausdurchsuchung wurden alle Verhafteten unter Mitnahme der
Vervielfältigungsapparate auf einen Lastwagen verladen und in die
General Pape-Straße gebracht, eine ehemalige Schule, die nun der
Feldpolizei als Hauptquartier diente. Die Schilderung des Werner
Neufliess lässt erahnen, was sich in den Folterkellern des NS-Regimes
zigtausendfach abgespielt hat: "Zuerst wurden wir, mein Cousin und ich,
im Keller schwer mißhandelt. Im Keller war ein langer Gang, an der Decke
waren die Kanalisationsröhren. Unter so ein Rohr wurde eine Bank
gestellt und wir mußten im Gang Spießruten laufen und über die Bank
springen, was nicht möglich war, ohne mit dem Kopf an das Rohr zu
stoßen. Wir wurden weiters veranlaßt, uns auch gegenseitig zu schlagen
und da wir das nicht taten, wurde uns 'gezeigt', wie man das macht. – So
ging das mehrere Stunden, bis ich zu einer Vernehmung geholt wurde. Da
waren zwei junge Burschen, sie sahen wie Studenten aus, die mich
fragten, ob ich Mitglied der 'Liga für Menschenrechte' sei. Als ich das
verneinte, fragten sie mich: wie alt bist du? – 24 Jahre – dann leg dich
auf den Tisch - und ich bekam 24 Schläge mit der Reitpeitsche. Dann noch
einmal: bist du Mitglied der 'Liga für Menschenrechte'? – nein – leg
dich noch einmal hin – und ich bekam noch einmal 24 mit der
Reitpeitsche." Als Werner Neufliess nach einer Pause wieder in den
Keller geholt wurde, wurde ihm mit der Schere ein Hakenkreuz in die
Haare geschnitten. "Dann mußte ich ein Klosett, das extra schmutzig
gemacht worden war, mit der Hand sauber machen. Einer von den Nazis
stand dabei und fragte: Du fürchtest dich wohl nicht vor Scheiße? Meine
Antwort: ich bin Gärtner, ich habe in meinem Beruf mehr mit Scheiße zu
tun. … Am späten Nachmittag wurde ich dann nochmals vernommen, es wurde
ein Protokoll aufgenommen, meine ganze Vergangenheit, ich gab zu, daß
ich Mitglied des ATUS und der Gewerkschaft war. Nach Unterschreiben des
Protokolls sollte ich entlassen werden. Aber in dem Augenblick kam jener
Nazi rein, der mich mit der Reitpeitsche geschlagen hatte und sagte: den
können wir doch nicht entlassen, der geht doch gleich ins Ausland und
macht dort Greuelpropaganda. Da mir aber ein junger Kommunist, den ich
auf der Latrine getroffen hatte zugeflüstert hatte, daß ich nie zugeben
soll, daß ich geschlagen worden bin, sonst komme ich nie raus, so sagte
ich gleich, daß ich nicht geschlagen worden sei, sondern die Treppe
runtergefallen sei. Bei mir gab es nur blutunterlaufene Stellen, der
junge Kommunist aber war nackt geprügelt worden und hatte ganz
vereiterte Wunden."
Es gelang Werner Neufliess, noch mal freizukommen. Unmittelbar nach
seiner Entlassung informierte er den geschiedenen Mann seiner Tante über
den Verbleib der Familie und fuhr nach Dresden zu seiner Schwester, die
dort mit ihrem Mann lebte. Er setzte seine Verwandten über den Stand der
Dinge in Kenntnis und bekundete seine Absicht, Deutschland so rasch wie
möglich zu verlassen. Neufliess war überzeugt, dass er es in der General
Pape-Straße nicht mit "Fachleuten" zu tun gehabt hatte. Solche hätten es
nämlich nicht verabsäumt, in der Schule Erkundigungen über ihn
einzuziehen. Zweifellos war im Schulbereich bereits ein Dossier über ihn
angelegt worden. Am Sonntag fuhr Neufliess wieder nach Berlin zurück, um
gleich am nächsten Morgen eine ihm bekannte Polizeiwachstube
aufzusuchen. Er hoffte dabei auf die Hilfestellung eines alten
Bekannten, eines Sozialdemokraten, der noch nicht gleichgeschaltet war.
Der erkannte sogleich, was passiert war: "Wie siehst denn du aus, du
musst wohl weg?" Einen Pass hatte Werner Neufliess bereits, er brauchte
nur noch den entsprechenden Sichtvermerk. Der Polizeibeamte versprach zu
helfen. Die verbleibende Zeit nutzte Neufliess noch, sich von seinem
Freundeskreis zu verabschieden. Dienstag früh nahm er seinen Pass mit
dem Sichtvermerk in Empfang und kurz nach zehn Uhr saß er bereits im Zug
nach Prag. Das Ziel war nicht ohne Bedacht gewählt: "Der Schwager
stammte aus der Tschechoslowakei und ich hoffte, dort unterzukommen. In
meinem Abteil saß nur eine junge Dänin, die immerfort rauskriegen
wollte, was mit mir los ist, warum ich nicht sitzen konnte und immerfort
rumlief (ich konnte 14 Tage nur auf dem Bauch liegen) - erst nach der
Grenze erzählte ich ihr, was los war und sie bekam einen Weinkrampf." Es
war der 23. Mai 1933.
In Prag angekommen, meldete sich Neufliess zuerst beim Hilfskomitee für
deutsche Flüchtlinge. Um eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten, musste
ein ärztliches Attest über die Misshandlungen vorgelegt werden. Sein
nächster Schritt war, der "Liga für Menschenrechte" über den Verbleib
seiner Familie und auch über das Schicksal des Herrn von Hanstein zu
berichten. Dieser war unmittelbar nach der Verhaftung von Werner
Neufliess von den Nazi-Schergen abgeholt worden. Neufliess konnte noch
in Erfahrung bringen, dass seine Tante mitsamt ihren Kindern nach acht
Tagen Haft entlassen worden waren. Auch ihnen war es gelungen,
Deutschland rechtzeitig zu verlassen, über Umwege emigrierten sie nach
Südamerika. Herr von Hanstein überlebte das NS-Regime nicht. Der Vater
von Werner Neufliess und dessen Gattin wurden 1942 von den Nazis
deportiert und kamen in ein Vernichtungslager in die Nähe von Lublin.
Für den Breslauer Arzt hätte es aufgrund seiner Kriegsauszeichnungen aus
dem Ersten Weltkrieg Chancen gegeben, dem Vernichtungslager zu entgehen.
Doch er war damals Arzt in einem Altersheim und wollte seine Patienten,
die zur Gänze deportiert wurden, nicht verlassen. Der Familie der
Schwester von Werner Neufliess, sie hatte einen Neurologen geheiratet,
beide hatten gemeinsam einen Sohn, gelang die Flucht nach Frankreich.
Dort mittellos geworden, führte sie der Weg in die Sowjetunion. Dort
gelang dem Paar zunächst, sich zu etablieren. Die Schwester arbeitete
als Buchhalterin und war als solche für sämtliche städtischen
Kindergärten zuständig, der Schwager wurde Direktor einer
Universitätsklinik. Neufliess bekam noch regelmäßig Post aus der UdSSR,
bevor der Kontakt plötzlich abriss. Es war die Zeit der Stalin’schen
Paranoia und der Ärzteprozesse. Erst nach dem Krieg erfuhr Neufliess,
dass zuerst der Schwager dann die Schwester in den Kerkern des
stalinistischen Regimes umgekommen war. Als Einziger der Familie, die in
der Sowjetunion Schutz gesucht hatte, überlebte nur der Sohn Peter.
Zunächst von Freunden in Prag aufgenommen, übersiedelte Neufliess in der
Folge nach Konoged in das Sudetenland, wo er im Sudetengebiet bei Graber
eine Stelle als Gärtner annahm. Bei Graber handelte es sich um ein
großes Gut, der Verwalter war der Bruder einer Kollegin von Neufliess in
der Gartenbauschule. Ein Aufatmen war Werner Neufliess aber nicht
vergönnt. Er war erst drei Monate auf dem Gut beschäftigt, als die
örtliche Gendarmerie auftauchte und ihm mitteilte, dass er ohne
Arbeitserlaubnis keinesfalls länger bleiben könne. So wechselte er –
nachdem eine Beschäftigungsbewilligung nicht zu bekommen war – seinen
Aufenthaltsort und begann auf dem Gut in Zahorschan bei Leitmeritz tätig
zu werden. Es entsprach wohl dem Schicksal eines Flüchtlings, dass nach
drei Monaten wieder die Gendarmerie erschien und das Arbeitsverhältnis
abrupt beendete. Aber diesmal gab ihm einer der Beamten den Tipp, es
doch mit einem Gewerbeschein zu versuchen und sich selbständig zu
machen. Der Vater von Werner Neufliess konnte 1934 zu diesem Zweck noch
etwas Geld in die CSR überweisen. Der nun selbständig erwerbstätige
Gärtner kaufte sich davon ein Haus mit einem halben Hektar Land in
Liebeschitz bei Ausche. Es war nur ein kleines Ausgedinge-Gebäude mit
zwei Zimmern, einer Küche sowie Stall und Scheune. Rundum waren
Obstbäume. Da es relativ abgewohnt war, musste einiges an zusätzlichen
Geldmitteln investiert werden, das Neufliess nun als Landschaftsgärtner
verdiente. Er bestellte verschiedene Gartenanlagen in Leitmeritz, das
mit dem Fahrrad über eine Berg und Tal-Strecke zu erreichen war, oder im
näher gelegenen Ausche. Dabei verkaufte er auch selbst geerntetes Gemüse
und Obst. Die meisten Aufträge kamen aus Leitmeritz, was bei ganztägiger
schwerer körperlicher Arbeit immer auch endlose Kilometer mit dem
Fahrrad hin und retour bedeutete. Da Neufliess beim Eigenanbau keine
Kunstdünger verwendete und entsprechend seinem lebensreformerischen
Denken nur biologisch-dynamische Bodenbewirtschaftung betrieb, hatte er
bald auch einen gewissen Absatz in einem Reformgeschäft. Die Bauern im
Ort waren allerdings oft feindlich gegenüber dem fremden Gärtner und
Landwirt eingestellt: "Sie waren schon von den "Henleins" (Konrad
Henlein, rechtsextremer sudetendeutscher Politiker) aufgehetzt, aber
allmählich setzte ich mich durch. Einmal hörte ich, wie die Nachbarin
sagte: ‚nee, daß das ein Jude ist, der tut ja arbeiten’. Für die dortige
Bevölkerung war der Jude der Hopfenhändler, und wenn die Preise gut
waren, waren es die braven Juden und wenn sie schlecht waren, dann waren
eben die Juden dran Schuld. Da dort auch ein schlesischer Dialekt
gesprochen wurde, konnte ich mit den Leuten im Dialekt reden und das
half mir viel. Ich fühlte mich bald dort zu Hause, die Gegend war
wunderbar, Mittelgebirge, viel Wald und Obst."
Unter den schwieriger gewordenen Lebensbedingungen gelang es Werner
Neufliess mit viel Herz und Geschick, sich zu bewähren. Bald war er der
Sprache seines Asyllandes mächtig. Die Tiefschläge im beruflichen
Bereich erschienen ihm nur als Anreize, Anderes, Besseres zu versuchen.
Wer ihn jemals gekannt hat, wird davon ausgehen, dass ihm sein
freundliches, zuvorkommendes und humorvolles Wesen in mancher Situation
geholfen hat. Der starke familiäre Rückhalt in seinen ersten
Lebensjahren und seine spätere Einbindung in die Jugendbewegung hatten
ihm zweifellos eine gesunde psychische Substanz und damit ein hohes Maß
an persönlicher Stabilität verschafft. So verschloss er sich nach seiner
Ankunft in der Tschechoslowakei auch in keiner Weise den Freuden des
Daseins und blieb so auch dem anderen Geschlecht nicht fern. Bei einem
Verwandtenbesuch lernte er schließlich seine spätere Frau Rosa kennen.
Sie stammte aus einfachen Verhältnissen und hatte das Schneiderhandwerk
gelernt. "Sie hat mit ihrer Schneiderei oft mehr verdient als ich mit
meiner Gärtnerei", erinnert sich Werner Neufliess. Im Jahr 1937 wurde
geheiratet, die Phase relativer Ruhe währte für das junge Paar jedoch
nur kurz. Mit Beginn des Einmarsches der deutschen Truppen in die
Tschechoslowakei kam im Oktober 1938 das Sudetengebiet unter die
Kontrolle des nationalsozialistischen Deutschland. Von seinem Vater
hatte Werner Neufliess zuvor noch den Rat erhalten, die Tschechoslowakei
zu verlassen und sich ein neues Exil zu suchen. Doch bis zum Zeitpunkt
der Okkupation hatte dieser noch an die Wirksamkeit der Verträge, die
die CSR mit Frankreich und der UdSSR abgeschlossen hatte, und damit an
einen baldigen Krieg geglaubt. Unter diesen Voraussetzungen hatte sich
Neufliess bereits freiwillig zur Armee der Tschechoslowakei gemeldet. Um
unter den geänderten Umständen Zeit zum Überlegen zu gewinnen,
übersiedelte das Paar kurzfristig nach Mähren, zu den Eltern von Rosa,
wo Neufliess in den Gärten von Olmütz temporär Arbeit fand.
Im Gefolge der Münchner Konferenz vom 29. September 1938, an der Hitler,
Mussolini, der französische Ministerpräsident Daladier und der britische
Premierminister Chamberlain teilgenommen hatten, war klar geworden, dass
die Tschechoslowakei dem Zugriff der faschistischen Mächte nicht mehr zu
entziehen war. Für Werner Neufliess und seine Frau wurde nun die
Ausreise unumgänglich. Da die Möglichkeiten des örtlichen Hilfskomitees
begrenzt waren, begab sich Neufliess nach Prag, um dort eine Ausreise
für ihn und seine Gattin zu erwirken. Bei Bekannten, im Hause der
Familie Löwenbach, im dem auch prominente Vertreter der tschechischen
Linken verkehrten, lernte er den Korrespondenten der "London Times" und
der "New York Times" Ralph Parker kennen. Parker imponierte der rührige
Gartenarbeiter (in seinem später in einem Moskauer Verlag erschienenen
Buch mit dem Titel "Die Verschwörung gegen den Frieden" berichtete
Parker über den Fall Werner Neufliess) und versprach zu helfen: "… da er
(Parker) sich damals gerade eine eigene Wohnung auf der Insel Kampa in
Prag einrichtete, stellte er mich als seinen Butler an. Früh mußte ich
ihm sein Ham und Eggs besorgen, seine Zeitung bringen und aufs Konsulat
um seine Post gehen. Für alle Nachrichten war er sehr dankbar und bald
hatte er auch Sonderaufträge für mich. … Manchmal mußte ich auch seine
Nachrichten telefonisch nach Paris oder London durchgeben, wenn er
anderweitig beschäftigt war. … Kurz bevor er aus Prag wegging, hatte er versucht, mir ein Visum
für gefährdete Personen zu verschaffen, und eines Abends kam er auch zu
mir in die Wohnung und sagte mir, daß mein Visum da sei, ich sollte
schnell meine Frau nach Prag kommen lassen. … Unmittelbar vor
Kriegsausbruch ging er dann nach Jugoslawien weiter und später nach
Moskau. Dort muß er wohl Kommunist geworden sein, denn wie ich erfuhr,
schrieb er später für den 'Daily Worker'." Neufliess verständigte noch
in der Nacht telegraphisch seine Frau von der Ausreisemöglichkeit, doch
als sie wenige Stunden später am Britischen Passamt die Visa in Empfang
nehmen wollten, waren diese nicht mehr verfügbar. Man hatte jemand
anderen mit den Passierscheinen aus der Tschechoslowakei rausgelotst.
Parker hatte jedoch, bevor er wegging, das junge Paar noch seinem
Nachfolger bei der "New York Times" in Prag, einem Holländer namens
Hanepen, und der Kanadierin Miss Wellington, die Leiterin eines
Hilfskomitees für Flüchtlinge war, empfohlen. Neufliess begann also, für
Hanepen und Wellington mit kleineren Hilfsdiensten tätig zu werden.
Ralph Parker half, als er von dem Missgeschick am britischen Passamt
erfahren hatte, noch einmal: Er sandte über die Adresse Miss Wellingtons
Werner Neufliess und seiner Frau ein Domestik-Permit, aus nur schwer
erklärbaren Gründen kam es aber bei den beiden nicht an.
Am 15. März 1939 erfolgte der deutsche Einmarsch in jene Gebiete der
Tschechoslowakei, die zuvor noch nicht okkupiert worden waren. In den
Tagen danach wurde das Reichprotektorat Böhmen-Mähren gebildet. Der
nächste Aggressionsakt des NS-Regimes richtete sich gegen Polen, von dem
u. a. die "Rückgabe" Danzigs gefordert wurde. In seiner Reichstagsrede
am 28. April lehnte Hitler die Aufforderung des US-Präsidenten Franklin
D. Roosevelt, alle Gewaltaktionen einzustellen, ab und kündigte zugleich
das deutsch-britische Flottenabkommen sowie den deutsch-polnischen
Nichtangriffspakt. Nach dem Abschluss des deutsch-sowjetischen Vertrages
(Hitler-Stalin-Pakt) am 23. August war die Führung des NS-Staates
überzeugt, sich genügend Spielraum für weitere Truppenbewegungen in
Europa geschaffen zu haben. Der deutsche Angriff auf Polen am 1.
September 1939 war der Auftakt zum Zweiten Weltkrieg. Wenige Tage danach
erfolgte die Kriegserklärung der Briten und der Franzosen an
NS-Deutschland. Der Zweite Weltkrieg stellte in seiner Dimension alles
bisher da gewesene in den Schatten, sowohl was die Zahl der
Menschenopfer anbelangt, als auch die Sachschäden. Der Terror der
deutschen Führung richtete sich im höchsten Ausmaß auch gegen Teile der
eigenen Bevölkerung. Im Laufe der nationalsozialistischen Herrschaft
wurden im deutschen Einflussgebiet an die 400 Konzentrationslager für
Männer und rund 20 Konzentrationslager für Frauen eingerichtet. Der im
Inneren Deutschlands geführte Kampf der Nationalsozialisten richtete
sich gegen politische Gegner, gegen "Kriminelle" und "Asoziale". Lager,
die mit modernster Technik auf eine industrielle Massenvernichtung hin
ausgelegt waren, sollten dazu dienen, den von rassistischen Wahnideen
ausgelösten Feldzug gegen Juden, Roma und Sinti in einem gesteigerten
Maße zu Ende zu führen. Allein der Ausrottungs-Versuch an den Juden
kostete bis 1945 fast sechs Millionen Menschen das Leben.
In der Zwischenzeit hatte Werner Neufliess – nachdem ein baldiges
Fortkommen aus der CSR nicht erkennbar war – bei der Jüdischen
Kultusgemeinde in Prag zusätzlich eine Stelle als Gärtner angenommen.
Die Kultusgemeinde verfügte über einige Einrichtungen mit Gärten und
Parks, und er übernahm die Aufgabe, die bestehenden Anlagen zu
Gemüsegärten umzufunktionieren, da es in der Stadt keine Obst- und
Gemüsezuteilungen mehr für jüdische Mitbürger gab. Damit konnten
verschiedene Kinderheime und Krankenhäuser mit gesunden Nahrungsmitteln
versorgt werden. Bei der Arbeit halfen jüdische Jugendliche, die bei
Neufliess zugleich eine Lehre absolvierten: "Das war eine schöne,
befriedigende Arbeit und die Jugendlichen arbeiteten mit besonderem
Eifer. Leider ist ja ein großer Teil der Jugendlichen später in den KZs
umgekommen, aber einige traf ich dann später in Theresienstadt und auch
in Israel." Die Frage der Auswanderung stellte sich in dieser Zeit immer
drängender. Einen illegalen Grenzübertritt, der damals etwa über Polen
noch möglich gewesen wäre, lehnte die Frau von Werner Neufliess ab, und
so suchte er weiter nach anderen Rettungswegen. Eine der letzten legalen
Ausreisemöglichkeiten, die sich noch ergab, führte nach San Domingo. Die
Neufliess’ versuchten sich einer Gruppe von Agrarexperten anzuschließen,
die dort eine neue landwirtschaftliche Siedlung aufbauen wollte. Im
April 1941 bekamen sie schließlich die ersehnten Visa, doch die Abfahrt
verzögert sich, da gerade Wochenende war, und als die Ausreisenden am
Brenner anlangten, wurden sie von den italienischen Grenzbeamten aus dem
Zug gewiesen. Diese folgten einem kürzlich erlassenen Befehl aus Rom,
keine jüdischen Flüchtlinge mehr in das Land rein zu lassen. Das
Vorhaben, über Genua und Spanien Europa verlassen zu können, war damit
verfehlt. Es folgte ein dreitägiger Aufenthalt in München unter Aufsicht
der SS, dann wurden die Ausreisewilligen wieder in das Protektorat
zurückgeschickt. Von der aus elf Personen bestehenden Gruppe überlebten
acht die Nazizeit nicht.
Zurück in Prag, blieb Werner Neufliess nichts anderes übrig, als seine
alte Arbeitsstelle wieder anzutreten. Zum Glück war die Wohnung
zumindest noch frei gewesen. Doch das Leben in Prag wurde täglich
schwerer und bedrohlicher; es blühte das Denunziantentum. "Eines Tages",
berichtet Neufliess, "ging ich über die Karlsbrücke, und dort traf ich
einen Studenten, der mich aus Auscha in Nordböhmen kannte, und ich
hörte, wie er zu seinem Kollegen sagte: 'was, das Schwein lebt noch?' -
und nun wußte ich, daß bald was Schlimmes geschehen würde. Drei Tage
später kam die Gestapo ins Haus, machte eine Hausdurchsuchung und zwei
tschechische Polizisten in Zivil nahmen mich mit ins Palais Petschek,
die Zentrale der Gestapo. Daß sie sich unterwegs mit dem Hinweis bei mir
entschuldigten, nur einen Befehl auszuführen, davon hatte ich nichts. -
Nach langem Warten wurde ich vernommen. … Die Einvernahme dauerte noch
viele Stunden, der vernehmende Beamte fragte mich nach allen meinen
Bekannten aus dem Sudetengebiet (offenbar alles Angaben von dem
Studenten), aber ich wußte genau, was ich zu antworten hatte. Am Schluß
wollte er mich dort behalten, über Nacht, er wollte am nächsten Tag die
Reinschrift des Protokolls fertigstellen, und ich sollte es
unterschreiben. Ich bat ihn aber, daß er mich gehen lassen sollte, da
ich doch verantwortlich wäre für die lebenswichtige Arbeit in den
Gärten. Er ging auch darauf ein und bestellte mich für den nächsten Tag
zur Unterschrift. Beim Vorlesen des Protokolls merkte ich, daß er einige
Stellen zu meinen Gunsten abgeschwächt hatte. Ich wurde dann regelmäßig
von der Gestapo vorgeladen und mußte jedes Mal nachweisen, was ich für
meine Auswanderung tue. Ich zeigte dann immer meinen Paß mit dem Stempel
von Innsbruck und die Schiffskarte nach San Domingo für das italienische
Schiff und wurde wieder heimgeschickt." Bis zum Juli 1943 – so lange
konnte die Gartenbautätigkeit in Prag als unverzichtbare Facharbeit
geltend gemacht werden – blieb das Ehepaar Neufliess von der Deportation
verschont. Dann kam die Einberufung für den Transport ins
Konzentrationslager.
Die Deportation nach Theresienstadt
Die zur Deportation vorgesehenen Personen befanden sich ab dem Zeitpunkt
der Einberufung unter Aufsicht der deutschen SS, wobei sie immer wieder
für Hilfsarbeiten in und im Umfeld von Prag herangezogen wurden. In
dieser Phase hatte Neufliess noch überlegt, in den Untergrund zu gehen.
Doch er gelangte zu dem Ergebnis, dass er mit der Anspruchnahme fremder
Hilfe niemanden gefährden wollte. "Nach der Ermordung Heydrichs (der
stellvertretende Reichsprotektor von Böhmen und Mähren Reinhard Heydrich
war im Juni 1942 bei einem Attentat ums Leben gekommen) wurden Leute,
die Juden versteckt hatten, hingerichtet." Es war purer Zufall – wie
Werner Neufliess später erfuhr –, dass er und seine Frau von den
Sondertransporten, die nach Auschwitz gingen, verschont wurden. Doch
auch der Transport nach Theresienstadt blieb ihm als ein schreckliches
Erlebnis in Erinnerung: "Wir wurden im Ausstellungspalast in Prag
gesammelt und dann mit einem Sonderzug nach Bauschowitz gefahren und von
dort auf einem Schleppgleis, das von Juden gebaut worden war, direkt ins
Lager. Jeder durfte nur 50 kg Gepäck mithaben und in der sogenannten
'Schleuse' wurde uns schon ein Teil der Sachen gestohlen."
In Theresienstadt wurde jeder Neuankömmling zunächst in die
"Hundertschaft" übernommen, eine Arbeitsgruppe, die die körperlich
schwierigsten Tätigkeiten zu verrichten hatte. Eine Erleichterung für
Neufliess ergab sich erst, als er als Fachmann für den Agrarbereich
angefordert wurde. Über Theresienstadt ist mittlerweile viel geschrieben
worden, Anna Šupíková, die in der Umgebung von Theresienstadt aufwuchs,
schildert in ihren Erinnerungen, wie sie als zehn- bis elfjähriges Kind
mit einer Mischung aus „Angst und Mitleid … die unendlichen Reihen von
Leuten in gestreiften Kleidern (beobachtete), die zu Fuß von
Theresienstadt bis in die unterirdische Fabrik Richard gegangen sind.“
Prügel und Übergriffe der deutschen Wachmannschaften standen an der
Tagesordnung. Für Werner Neufliess waren die Lebensbedingungen, die das
KZ bot, mehr als dramatisch: "In der Stadt waren damals 48.000 Juden,
überfüllt, staubig, schlechte Luft und voll mit Ungeziefer. … Ich habe
im ersten Jahr, bis ich mich an alles gewöhnt hatte, sehr gehungert.
Viel bedrückender aber waren die ständige Nervenanspannung und die
Verantwortung (als Fachkraft war er zum "Partieführer" gemacht worden)
für die Gruppe und die Arbeit. Wenn der SS-Mann aufs Feld kam, mußte man
sich melden: ein Gärtner und so und so viel Menschen bei der und der
Arbeit. Dann gab es Fragen und Erklärungen. Wir hatten einen direkten
Vorgesetzten, der die Aufsicht über das Fachliche hatte, einen
sogenannten Verwalter."
Die landwirtschaftlichen Flächen, die Neufliess und die anderen
abkommandierten Insassen des KZ zu bestellen hatten, lagen im Umfeld von
Theresienstadt. Beim Verlassen des Konzentrationslagers wurden die
Häftlinge von tschechischen Polizisten begleitet, wobei sie ihre
Legitimationen beim Wachdienst abzugeben hatten. Als so genannter
Partieführer verfügte Werner Neufliess über einen Durchlassschein, der
etwas mehr Freizügigkeit zuließ, und so – erinnert er sich – "konnte ich
auch mal Post rausschaffen oder wieder mit reinbringen". In der
Zwischenzeit hatte er auch Anschluss an die Widerstandsbewegung
innerhalb von Theresienstadt gefunden. Der Widerstand wurde von
Häftlingen des KZ und zum Teil vom tschechischen Wachpersonal getragen:
"Es gab auch Gendarmen, die Mitglieder der Untergrundbewegung waren,
einer, ein besonders feiner Kerl, hieß bei uns nur Pranta. Seinen
richtigen Namen habe ich nie erfahren, er half uns sehr viel." Als ein
wesentliches Ziel galt unter den gegebenen Umständen, die
Versorgungslage der Häftlinge mit Lebensmitteln zu verbessern. Das im
Umland von Theresienstadt produzierte Gemüse und die Feldfrüchte waren
ausschließlich für die Besatzungstruppen gedacht – "nicht mal der Abfall
war für uns, das ging in den Stall", so Werner Neufliess. In Verbindung
mit dem kooperationswilligen Wach- und Begleitpersonal gelang es aber
immer wieder, Feldgemüse abzuzweigen und in das KZ zu schmuggeln, um
damit Insassen, die gesundheitlich besonders gefährdet waren, zu
versorgen. Die weiblichen KZ-Häftlinge hatten die günstigsten
Voraussetzungen zum "Schleusen" der Lebensmittel, "sie durften nur von
der Frauenpolizei durchsucht werden, den sogenannten Beruschkis. Aber
meistens bekamen wir rechtzeitig eine Warnung von den tschechischen
Gendarmen. … Die Wach- und Begleitmannschaft hatte immer 24 Stunden
Dienst, von 13 bis 13 Uhr den nächsten Tag. So wußten wir immer, ob eine
gute Gruppe da ist oder Kollaborateure der Deutschen."
Im Rückblick schienen Werner Neufliess die zahlreichen Akte der
Solidarität und der Kameradschaft unter den KZ-Häftlingen besonders
hervorhebenswert. In Daubschitz wurden auf einer Fläche von rund fünf
Hektar Tomaten an Stangen hochgezogen. Dort waren vier Gruppen zur
Arbeit eingeteilt: Jugendliche, Frauen unter 24 Jahre, Frauen über 24
Jahre und Männer zum Tragen der schweren Kisten. "Damit sich die
Jugendlichen nicht zu sehr anstrengen, hatten wir es so organisiert, daß
immer ein Drittel zwischen den hohen Stauden liegt und sich ausruht.
Einer der Aufseher mußte das bemerkt haben, schlich sich auf allen
Vieren an und als ich mich meldete, stellte er fest, daß er um
soundsoviel Leute weniger hätte arbeiten sehen. Als Strafe bekamen wir
Arbeitsverlängerung, so daß wir oft zu spät zurückkehrten und um unser
Essen kamen. Erst nach Intervention beim Lagerleiter wurde die Strafe
aufgehoben. Auch er war ein brutaler Kerl, ein Schlossermeister, und er
haßte alle Akademiker. Er brachte es fertig, einen Juden, gegen den er
was hatte, vor dem Pferd oder dem Fahrrad um das ganze Ghetto zu jagen.
Ich hatte bei ihm die Taktik, nie Angst zu zeigen und auf meinem Wissen
als Fachmann zu bestehen und seinen Drohungen nicht nachzugeben."
In Theresienstadt traf Neufliess eines Tages den ehemaligen Legationsrat
Hoffmann, der ebenfalls im Hause der Familie Löwenbach verkehrt hatte. –
Eine fruchtbare Begegnung, wie sich sehr bald herausstellen sollte.
Hoffmann hatte innerhalb des Konzentrationslagers einen mit
Außenkontakten versehenen Prominentenstatus, und er war auch Mitglied
des so genannten Ältestenrates im Ghetto. Als solcher konnte er
Neufliess mit für den Widerstand wichtigen Informationen versorgen. Im
Gegenzug schmuggelte Neufliess für ihn Nachrichten und Zeitungen ins KZ,
wobei es sogar gelang, für Hoffmann eine Verbindung mit dem ehemaligen
Außenminister der CSR herzustellen, der in der Nähe von Theresienstadt
inhaftiert war. Durch Hoffmann kam Werner Neufliess in Kontakt mit dem
Rabbiner Leo Baeck, der sich gleich im ersten Gespräch als ein
entfernter Verwandter Neufliess’ entpuppte. "Daraus wurde eine große
Freundschaft, ich besuchte ihn öfters und übersetzte ihm die
tschechischen Zeitungen und bekam dafür deutsche Zeitungen, die er sich
illegal verschaffte. Er arbeitete auf der Post und seine Aufgabe war es,
alle Zeitungen zu entfernen, die als Einpackpapier in den Päckchen
benutzt worden waren. Er war ein sehr liberaler Mensch und hat uns und
anderen viel geholfen." Später, in Israel, sollte die Freundschaft
zwischen Werner Neufliess und Leo Baeck ihre Fortsetzung finden. Der
prominente KZ-Häftling Hoffmann überlebte die Kriegszeit übrigens nicht.
Er wurde noch mit einem der letzten Transporte im Oktober 1944 nach
Auschwitz gebracht.
In unmittelbarer Nähe zum Ghetto Theresienstadt gab es noch die so
genannte Kleine Festung. In diesem Lager waren politische Häftlinge
untergebracht. "Juden lebten hier nie länger als drei Wochen", berichtet
Werner Neufliess. – "Eine Gruppe dieser Häftlinge arbeitete neben
unserem Feld in Drabschitz. Wir konnten sehen, wie sie von den SS-Leuten
gequält und auch erschossen wurden. Wir konnten auch mal mit ihnen ein
Wort wechseln, das häufigste war ‚Hunger’. So beschlossen wir, ihnen von
unserer Ration etwas abzugeben." Auf dem Weg zur Latrine wurde Brot
versteckt, das sich die Gefangenen der Kleinen Festung bei Gelegenheit
holen konnten. Selbst solche kleinen Hilfeleistungen untereinander waren
äußerst gefährlich, da sie streng verboten waren. In der letzten Phase
des Bestandes des Ghettos Theresienstadt war es Werner Neufliess
aufgrund seines Durchlassscheines möglich, auch Menschen aus dem Lager
hinaus zu bringen: "Wir rechneten noch immer mit der Vernichtung und so
schmuggelten wir Juden raus, die nichtjüdische Verwandte und dort
Chancen hatten, unterzukommen. Wenn eine Wachmannschaft Dienst hatte,
die nicht genau zählte, nahmen wir (zu den Außenarbeiten) einen mehr und
meldeten einen weniger, der blieb dann draußen. Wir nahmen auch mal
nichtjüdische Verwandte mit rein, später sogar Partisanen, aber da waren
die (mit dem lagerinternen Widerstand verbundenen) Gendarmen meist
informiert."
Das Ende des Krieges kündigte sich für die Bewohner des Ghettos mit den
ersten amerikanischen Flugzeugen an, die auftauchten, um die
Kraftstoffwerke im nahe gelegenen Brüx zu bombardieren. Eine der
KZ-eigenen Gärtnereien lag auf der Kreta, einem der Vororte von
Theresienstadt. Hier begegnete Neufliess der aus Leitmeritz stammenden
Frau Wagner, deren Mann als Antifaschist selbst in einem KZ einsaß. Sie
wohnte damals in unmittelbarer Nachbarschaft der Gärtnerei, wo auch ein
Reservelazarett untergebracht war. Zunächst hatte sie begonnen, die
Häftlinge des nahen KZ mit Essbarem zu versorgen. In den letzten Tagen
des Krieges ging sie dazu über, deutsche desertierungswillige Soldaten
aus dem Lazarett mit Zivilkleidung zu versorgen. Die Russischen Truppen
hatten zu diesem Zeitpunkt bereits Dresden erreicht. Im Gegenzug für die
Bereitstellung der Kleidungsstücke bekam Frau Wagner Waffen
ausgehändigt, die sogleich in das Lager Theresienstadt eingeschmuggelt
wurden. "Wir dachten damals an einen Aufstand", berichtet Werner
Neufliess. Es hatte sich herumgesprochen, dass die Einwohnerschaft von
Theresienstadt vor dem Rückzug der deutschen Wehrmacht noch von
SS-Einheiten vernichtet werden sollte. Dem wollte man mit einem Aufstand
der Häftlinge entgegenwirken. Bevor es aber so weit kam, wurde das Lager
vom Roten Kreuz in seine Obhut übernommen. Mit dem zu Ende gehen des
Krieges trat auch die ganze Tragweite der nationalsozialistischen
Verbrechen hervor: "Zu den schlimmsten Ereignissen in Theresienstadt
gehörte die Ankunft der "Todestransporte", Ende März – Anfang April
1945. Sie kamen zu Fuß und mit der Bahn aus anderen Lagern, die
aufgelöst worden waren. Wir von der Landwirtschaft mußten dann beim
Ausladen helfen. Es waren meist offene Waggons, in ihnen standen oder
lagen halbnackte Menschen, die gar nicht mehr wie Menschen aussahen. In
jedem Waggon gab es Tote und die anderen standen auf ihnen. Wir mußten
dann die Toten raustragen und auf einen Wagen laden, der zum Krematorium
fuhr. Die Überlebenden kamen in eine Quarantäne, wo sie gebadet und
entlaust werden sollten. Aber nach den traurigen Erfahrungen von
Auschwitz trauten sie uns nicht, hatten Angst, daß aus den Duschen Gas
käme, rissen aus und versteckten sich. Dadurch wurden Läuse und Typhus
in unser Lager eingeschleppt und bald starben bis zu 250 Menschen
täglich. – Am Anfang nahmen wir auch von unserem Brot für die
Ankommenden mit, aber als wir sahen, daß sie sich untereinander um so
ein Stückchen Brot erschlugen, wurde das verboten."
Theresienstadt wurde von der Roten Armee befreit, die in der Nacht vom
8. auf den 9. Mai 1945 das Ghetto passierte. Dabei gab es noch Tote und
Verwundete, da bei der Verfolgung einer SS-Brigade versehentlich auch
das Lager unter Beschuss kam. Als Sofortmaßnahme wurde von der örtlichen
Führung der Roten Armee die Bekämpfung des Typhus in Angriff genommen.
Zu diesem Zweck wurde auch ein Sonderzug mit Ärzten, Krankenschwestern
und Medikamenten angefordert. Die Sterblichkeitsrate im Lager ging damit
rasch zurück. Ein Teil der Theresienstädter Häftlinge war bereits fünf
Tage vor der Befreiung aus dem Ghetto verschwunden, um sich am Aufstand
in Prag zu beteiligen. Ein anderer Teil hatte die Aufgabe übernommen,
sich nach der Befreiung um den Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen in
Theresienstadt zu kümmern. Werner Neufliess blieb mit seiner Frau noch
bis Ende November in Theresienstadt, wobei er als verantwortlicher
Gärtner vom neu errichteten Ministerium für Sozialfürsorge angestellt
und bezahlt wurde. Nach dem Neubezug des Hauses in Liebeschitz trat er
eine Stelle als Gärtner auf einem Gut in Zahoschan bei Leitmeritz an.
Von der neuen öffentlichen Verwaltung ersucht, als Instruktor für
Obstbau in der Gegend tätig zu werden, übernahm Neufliess die Aufgabe,
fachbezogene Schulungen durchzuführen und praktische Fertigkeiten wie
Baumschnitt oder Schädlingsbekämpfung weiter zu geben. Die
Sudetendeutschen waren nach dem in Kraft treten der Beneš-Dekrete
bereits ausgesiedelt und an ihre Stelle waren tschechische Landarbeiter
getreten, die sich das notwendige Fachwissen erst aneignen mussten. Noch
einmal kehrte das Ehepaar Neufliess nach Theresienstadt zurück, da
Werner von der Jüdischen Kultusgemeinde in Prag den Auftrag erhalten
hatte, den örtlichen Friedhof neu zu gestalten und vor allem die
Rekonstruktion des Urnenhaines und der Gräber durchzuführen. "Da ich
eine Wohnung außerhalb der Stadt auf der Kreta fand, übernahm ich den
Posten. Innerhalb der Stadt hätte ich nicht wohnen können, schon allein
der Geruch war nicht zu ertragen. Es war auch so schwer genug, aber es
war doch eine Aufgabe, die erledigt werden mußte und schließlich wußte
ich am besten dort Bescheid."
Den Überlebenden, denen so viele Jahre ihres Lebens geraubt worden
waren, lag viel daran, rasch wieder in eine gewisse Normalität zurück zu
finden. Für das Ehepaar Neufliess kam nach dem Erlittenen eine Rückkehr
in Werners frühere Heimat nicht in Frage. Sollte man in unmittelbarer
Nachbarschaft zu den ehemaligen Peinigern leben? Dazu kam: Breslau,
dessen Verwaltung am 9. Mai 1945 von der sowjetischen Militärbehörde an
Polen übergeben worden war, war in hohem Ausmaß zerstört; 65 bis 80
Prozent der Gebäude lagen in Schutt und Asche. Inzwischen war auch eine
Tochter, Daschenka, zur Welt gekommen. Die Nachkriegsbedingungen boten
für neue Erdenbürgerinnen und Erdenbürger alles andere als günstige
Voraussetzungen, doch auf der Kreta, wo die Familie Neufliess nun
Quartier bezogen hatte, waren die Verhältnisse immer noch besser als im
dörflichen Bereich. Das Ansuchen bei den staatlichen Stellen um die
tschechoslowakische Staatsbürgerschaft zog sich allerdings in die Länge,
und so war es Werner Neufliess nicht möglich, das zum Haus in
Liebeschitz gehörende Grundstück zu behalten. Der rund einen halben
Hektar umfassende Boden wurde als "deutscher" landwirtschaftlicher
Grundbesitz deklariert und damit dem ursprünglichen Eigentümer entzogen.
Als Neufliess einige Tage später auf der Bezirksbehörde erklärt wurde,
dass alle seine Papiere "verloren" gegangen waren, war das Maß voll, und
die Familie entschloss sich zur Auswanderung. Noch eine Schikane folgte,
als man der Familie die Ausstellung der Pässe verweigerte – als
wertvolle landwirtschaftliche Fachkraft wollte man Werner Neufliess
nicht einfach ziehen lassen –, doch da "ich aber eben die
Staatsbürgerschaft nicht hatte, konnte man mich nicht halten. So
wanderten wir im Juli 1949 nach Israel aus. Ich war kein Zionist, ich
wollte nur endlich einmal als Gleichberechtigter unter Menschen leben.
Ich wollte natürlich in einen Kibbuz gehen, weil das meinen Idealen
entsprach, aber Rosa wollte das auf keinen Fall. … Ich hatte alle meine
Freunde im Kibbuz und wollte auch, daß meine Tochter in diesem Sinne
erzogen werde, aber da eben Rosa nicht wollte, so gingen wir in ein
Kollektiv, wo die Arbeit genauso wie in einem Kibbuz war, aber das Leben
individueller gestaltet ist, es war ein Kompromiß … ."
Heimkehr nach Zion
Die Familie Neufliess zog in den Moschav Shavei Zion (Heimkehrer nach
Zion) im westlichen Galiläa, wo der Gartenarbeiter seine Fähigkeiten im
landwirtschaftlichen Sektor voll zur Geltung bringen konnte. Die drei
Neuankömmlinge im gelobten Land waren Teil einer großen
Einwanderungswelle; rund 700.000 Immigranten kamen in den ersten vier
Jahren nach der Proklamation des Staates Israel am 14. Mai 1948 als neue
Siedler ins Land. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte es noch
zäher Verhandlungen und heftiger Auseinandersetzungen mit dem britischen
Mandatsherrn bedurft, bis den Überlebenden der Shoa eine eigene neue
Heimstätte gesichert war. Grundlage des Staates Israel waren der
Beschluss der Vereinten Nationen (Resolution 181/II vom 29. November
1947), eine Aufteilung des ehemaligen britischen Mandatsgebietes
Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat bei
gleichzeitiger Internationalisierung des Gebietes von Jerusalem
vorzunehmen, sowie der Abzug der Briten selbst. Shavei Zion war eine
Gründung jüdischer Einwanderer, die nach dem Machtantritt des
Nationalsozialismus aus Rexingen, einer südwestlich von Stuttgart
gelegenen Ortschaft gekommen waren. In der kleinen Gemeinde Rexingen
hatten sich auf der Flucht vor Pogromen in Osteuropa bereits um 1650
Juden niedergelassen, im Jahr 1710 wurde die örtliche Synagoge
errichtet. Der Emanzipationsprozess des 19. Jahrhunderts ermöglichte es
den Rexinger Juden, Land zu erwerben und es als Bauern zu bewirtschaften
oder ein Gewerbe zu ergreifen. Um 1850 war rund die Hälfte der
Bevölkerung Rexingens jüdischen Glaubens, danach schrumpfte die
Gemeinde, so dass es 1933 nur mehr 262 jüdische Mitbürger gab. Davon
wanderten in den 1930er Jahren rund 40 Prozent nach Palästina aus, wo
sie sich in der Nähe von Naharija niederließen und Shavei Zion
begründeten. In der so genannten Reichskristallnacht vom 8. auf den 9.
November 1938 wurde die Rexinger Synagoge in Brand gesetzt, wobei die
Inneneinrichtung komplett zerstört wurde. Aus Rexingen wurden während
der NS-Zeit 126 Juden deportiert, die Gräuel des Dritten Reiches
überlebten davon nur drei.
Der Moschav als Genossenschaftsform mit einer mittelständischen und
familienbezogenen Ausrichtung – kollektivistisch in der Produktion,
individualistisch im Konsum – war im Raum Palästina Anfang der 1920er
Jahre entstanden. Diese, das Modell der Kibbuzim ergänzende
Siedlungsform basierte auf der Idee des Agrarökonomen Wilkansky. Er
hatte 1918 die Errichtung so genannter Moschvei Ovdim vorgeschlagen, ein
Gemeinwesen, in dessen Rahmen intensive Landwirtschaft auf einer den
Familiengrößen entsprechenden Bodenfläche betrieben werden sollte.
Wilkansky trat dafür ein, Grund und Boden nicht in Form von
Eigentumsrechten sondern nur mittels Pachtverträgen übertragbar zu
machen. Der erste Moschav Ovdim, Nahalal, wurde 1921 gegründet und blieb
mit 280 Einwohnern lange Zeit die größte Siedlung dieses Typs. Im Zuge
der weiteren Besiedlung Palästinas bildeten sich nach und nach
verschiedene Varianten dieser Genossenschaftsform heraus. Der Moschav
Shitufi etwa betonte die kollektive Bewirtschaftung wieder stärker und
bedeutete damit eine Wiederannäherung an den Prototyp der
Kollektivsiedlungen im Raum Palästina, an den Kibbuz.
Die Siedlung Shavei Zion, die in den 1930er Jahren als Moschav Shitufi
errichtet worden war, wird von dem anarchosyndikalistischen Publizisten
Augustin Souchy, der die Kommune 1951 erstmals besuchte, wie folgt
beschrieben: "Die zionistische Organisation (Souchy meint die
Jewish Agency for Palestine
und ihre Unterabteilung, die Rural
and Suburban Settlement Company Ltd.) überließ den Gründern (damals
rund vierzig Familien) Ödland, das sie selbst kolonisieren konnte. Wie
alle Siedler legten sie gemeinsam Wege, Wasserleitungen und Kanäle an
und bauten sich, gleichfalls mit gegenseitiger Unterstützung,
Wohnbaracken. Bald ging man einen Schritt in gleicher Richtung weiter.
Obwohl keine Sozialisten, beschlossen sie aus praktischen Erwägungen,
nicht aus ideologischen Motiven, die ihnen anvertrauten 50 Hektar nicht
individuell, sondern gemeinsam zu bebauen, wovon sie sich größeren
Erfolg versprachen. Doch hielten sie an den alten Familientraditionen
fest. Keine Großküche, kein Speisesaal für alle. Die Hausfrauen sollten
zuhause kochen, Eltern und Kinder am Familientisch essen, alle unter dem
gleichen Dach schlafen. Zur Versorgung mit Lebensmitteln und anderen
Gütern eröffnete man einen genossenschaftlichen Konsumladen
(Tsarchania). Jeder fühlt sich als Schicksalsgenosse, es sollte keine
Bevorzugten und keine Benachteiligten geben, der Bedarf aller
gleichmäßig gedeckt werden. Das wurde erreicht durch die
Einführung eines Einheitslohnes ohne Unterschied von Beruf, Alter,
oder Geschlecht. Organisationssekretär oder Viehbetreuer,
Traktorenführer oder Lehrerin, Mann oder Frau, haben das gleiche
Einkommen."
Die Wirtschaftsverfassung des Moschav Shitufi sieht vor, dass die
Betreuung hauseigener Tiere und die Bearbeitung der Obst- und
Gemüsegärten von den Einzelbauern mitsamt ihren Familienangehörigen
erledigt werden. Kleine landwirtschaftliche Arbeitsmittel befinden sich
im Privateigentum. Die Bestellung der großen Felder aber, dort wo
Traktoren und anderes großes Gerät erforderlich sind, wird auf
genossenschaftlicher Basis vollzogen. Alle Siedlerinnen und Siedler
gehören den einkaufs-, verkaufs- und arbeitsgenossenschaftlichen
Bereichen der Kommune an. Sämtliche Verkaufsaktionen werden damit über
die Kanäle des Moschav getätigt. Das soll ganz bestimmte Vorteile
sicherstellen: Abnahmegarantie für alle Erzeugnisse durch überregionale
Kooperation sowie Bereitstellung von Lagerhäusern und Transportmitteln.
Der gemeinsame Bezug von Futter und Produktionsmitteln, Saatgut und
ähnlichem bietet, betrachtet man die Einsparmöglichkeiten etwa durch
Mengenrabatte, optimierte Lagerhaltung usw., erhebliche
Wirtschaftlichkeitsgewinne.
Die Siedlungsgemeinschaften im Raum Palästina waren von Beginn an mit
einem weit reichenden Selbstbestimmungsrecht ausgestattet. Als oberste
Entscheidungsinstanz des Moschavs gilt die ordentliche
Generalversammlung aller Kommunemitglieder. In dieser Generalversammlung
wird über grundsätzliche Fragen – zum Beispiel über die Errichtung eines
neuen Wirtschaftszweiges, Aufnahme neuer Mitglieder in die
Genossenschaft – abgestimmt. Im Rahmen der Generalversammlung wird auch
über die Zusammensetzung des Exekutivkomitees oder diverser
Fachkommissionen (für die Bereiche Wirtschaft, Kultur, Gesundheitswesen,
Schulbildung etc.) entschieden. Die Amtsdauer ist für die Kommissionen
und das Exekutivkomitee jeweils für ein Jahr vorgesehen. Letzteres
erfüllt im Wesentlichen die Aufgaben eines Gemeinderates, es entscheidet
aber auch über die Zusammensetzung des Sekretariats, dem die Funktion
des obersten "Managements" zukommt. Mittelpunkt des Moschavs ist das
Gemeinschaftshaus, in welchem regelmäßig kulturelle Veranstaltungen
stattfinden. Der Moschav sorgt zudem für Einrichtungen wie Kindergarten
und Schule, aber auch für Krankenstationen und eine entsprechende
Altersversorgung.
Aus den so genannten Rexinger Richtlinien vom 3./4. Juli 1937, die zur
Grundlage des Statuts der Genossenschaft Shavei Zion wurden, geht
hervor, dass mit der Errichtung der Siedlung ein Sonderweg zwischen dem
mittelständischen Moschav Ovdim und dem sozialistischen Kibbuz
angestrebt wurde. Unabhängig von Shavei Zion entschieden sich etwa zur
gleichen Zeit auch die beiden Kommunen Moledeth und Kfar Chitim für den
neuen Siedlungstyp des Moschav Shitufi. Die Errichtung von Shavei Zion
vollzog sich jedoch in keiner Weise unter günstigen Bedingungen. Die
britische Mandatsregierung hatte bereits begonnen, die Einwanderung in
den Raum Palästina einzuschränken (zwischen 1932 und 1938 konnten sich
noch etwas mehr als 250.000 Menschen in Palästina in Sicherheit
bringen), nach Naharia war Shavei Zion erst die zweite jüdischen
Siedlung im westlichen Galiläa, die zudem mit feindlichen Aktionen von
Seiten der arabischen Bevölkerung zu rechnen hatte. Die massenhafte
Vertreibung der mit Konzentrationslager und Vernichtung bedrohten Juden
vom europäischen Kontinent ließ die ortsansässigen Palästinenser – die
um die Aufrechterhaltung ihrer Lebensgrundlagen bangten und mit
Aggression reagierten – mittelfristig zu "Sekundäropfern" eines
ungezügelten Antisemitismus werden, und produzierte damit einen
Konflikt, der bis heute nicht gelöst ist. Die Anfänge von Shavei Zion
waren in jeder Hinsicht mehr als bescheiden. Nach dem Bau der ersten
Siedlungshäuser und einer Zufahrtsstrasse begannen die Siedler mit
Gemüseanbau und Viehzucht, später kamen Viehhaltung, Feld-, Futter- und
Weinbau dazu. Baumwolle und Zuckerrüben ergänzten bald das Sortiment
landwirtschaftlicher Produkte. Anfang der 1940er Jahre entstanden in
unmittelbarer Nähe zu dem Moshav die ersten Häuser einer Strandsiedlung,
die rund eine Dekade später mit Shavei Zion zu einer größeren Gemeinde
zusammengeschlossen wurde. Nach dem Teilungsbeschluss der UNO vom 29.
November 1947 wurde festgelegt, dass das westliche Galiläa Bestandteil
eines arabischen Palästina werden sollte, wobei das Gebiet dem sich
herausbildenden Staat Israel verloren gegangen wäre. Der Angriff
arabischer Staaten auf die Israeli am 14./15. Mai 1948 führte zum ersten
Unabhängigkeitskrieg, in dem das neu entstandene Israel das westliche
Galiläa behauptete.
In der Folge begann sich Shavei Zion zu verändern. Einige Mitglieder der
Gründergeneration waren zwischenzeitlich aus dem Moschav ausgetreten,
Zuwanderer aus anderen Ländern führten zu einer bunter werdenden
Einwohnerstruktur. Nach der Vergrößerung der Bodenfläche um rund das
vierfache wuchs die Zahl der Siedlerfamilien auf über achtzig an.
Konfliktpotentiale innerhalb der Gemeinschaft ergaben sich aus den
unterschiedlichen Kapital-Einlagen, die die Genossenschafter im Laufe
der Zeit eingebracht hatten. Vor allem in Anbetracht des
Inflationsprozesses wurde die Sorge über die Wertbeständigkeit der
geleisteten Einlagen laut. Erst mit der Reformierung der Statuten von
Shavei Zion, mit der nun alle kleineren Einlagen verzinsbar gemacht und
die großen Einlagen mit dem Bauwert der Siedlungshäuser gesichert
wurden, war eine allgemein zufrieden stellende Lösung gefunden. In den
ersten Jahrzehnten nach der Gründung widmeten sich die Mitglieder der
Genossenschaft mit voller Energie aber auch mit zunehmendem Erfolg dem
Aufbau eines modern ausgestatteten Landwirtschaftsbetriebes. Zusätzliche
Einnahmen für die Siedlung ergaben sich nach der Eröffnung eines Hotels
aus dem Tourismus. 1983 wurde mit der Errichtung einer Kunststofffabrik
ein weiterer Betriebszweig hinzugewonnen, der nur fünf Jahre später
bereits 60 Prozent des Gesamtumsatzes für die Kommune erwirtschaftete,
wobei zu diesem Zeitpunkt auf den landwirtschaftlichen Sektor noch 30,
auf den Tourismusbereich 10 Prozent entfielen.
Wie viele artähnliche Gemeinschaftssiedlungen in Israel befindet sich
auch die Genossenschaft Shavei Zion heute im Prozess eines anhaltenden
Strukturwandels. Die Bedeutung der Landwirtschaft geht drastisch zurück,
wie Werner Neufliess in verschiedenen Gesprächen mit dem Autor im Jahr
1985 betonte, stellten damals die Abwanderung der jungen Kräfte in den
urbanen Raum und das Phänomen einer beginnenden Demokratiemüdigkeit die
größten Probleme dar. Nur mehr 30 Prozent der Gemeindemitglieder etwa
waren zu diesem Zeitpunkt noch bereit, regelmäßig an den
Generalversammlungen des Moschav teilzunehmen. Etwas mehr als zehn Jahre
später hatte sich das Bild noch mehr verändert. In einem Brief an den
Verfasser vom Dezember 1996 berichtet Werner Neufliess von weiteren
"großen Problemen", die sich aufgetan hatten: "Die Landwirtschaft sieht
böse aus, zu wenig Wasser und zu teuer. Bis jetzt war das Hotel sehr
gut, … aber bei der jetzigen … Kriegsgefahr geht die Touristik stark
zurück. Sehr gut geht die Plastikfabrik. Viele Mitglieder gehen jetzt
auf Außenarbeit. Wir haben Boden abgeben müssen nach Naharia, dort wurde
verstärkt gebaut und wir haben das Geld dafür in die Fabrik und das
Hotel gesteckt." Als ein zentrales Problem erweist sich auch der
vorhandene Kapitalmangel (Werner Neufliess: „Die Fabrik geht
einigermaßen, es müsste aber viel Geld in neue Maschinen gesteckt
werden, und das ist nicht da.“ Brief vom 16. Februar 1998), der seit den
1980er Jahren den Einfluss des Bankkapitals im Bereich der
Siedlungsprojekte gestärkt hat. Der Strukturwandel und die anhaltenden
Privatisierungstendenzen – die Siedlungshäuser in Shavei Zion wurden
bereits 2002 privatisiert – könnten in nicht allzu ferner Zukunft den
Bestand des gesamten Genossenschaftsbetriebes gefährden. Im Jahr 2003
hat die Kommune Shavei Zion zudem im Zuge einer Verwaltungsreform ihre
bisherige Selbständigkeit verloren, und sie wird seither zusammen mit 31
anderen Siedlungen vom Bezirk Mateh Asher verwaltet. Die aktuelle
Raumplanung sieht vor, dass bis 2020 die Zahl der Einwohner von derzeit
rund 900 auf 2300 anwachsen soll. – Ein Szenario, das auf Grund der nach
wie vor gegebenen starken Zuwanderung nach Israel realistisch erscheint.
Es scheint also absehbar zu sein, wann Shavei Zion in seiner
ursprünglichen Gestalt verschwunden sein wird. Auskunft geben wird dann
nur noch ein Archiv, das in Shavei Zion seit einigen Jahren mit viel
Mühe und liebevoller Sorgfalt aufgebaut wird. Es beinhaltet unter
anderem unternehmensbezogene Berichte, Betriebsplanungen und Bilanzen,
Angaben zum Bodenerwerb und zur -entwicklung, zahlreiche Fotos, Dias,
Filme und Videos (darunter ein von der Shoa-Spielberg-Gruppe
aufgezeichnetes Gespräch mit Werner Neufliess), Angaben zur Bautätigkeit
und zum Gesundheitswesen sowie Personenakten. Da die Gründer von Shavei
Zion erst nach und nach die Landessprache Iwrit erlernten, sind die
Sitzungsprotokolle zwischen 1939 und 1955 in Deutsch gehalten. Die von
1955 bis 1957 angefertigten Protokolle sind zweisprachig, ab 1957 nur
noch auf Iwrit ausgeführt.
Werner Neufliess (1908 – 2004)
Das Ehepaar Werner und Rosa Neufliess übersiedelte 1994 in das
Altenheim, das „Haus der Gründer“, von Shavei Zion. Im Februar 1996
musste Rosa ins Krankenhaus, wo sie nach kurzem Leiden aus dem Leben
schied. Werner Neufliess überlebte seine Frau noch um acht Jahre. Obwohl
ihm die Beschwernisse des Alters schon zu schaffen machten, pflegte er
mit Hingabe seine weit reichenden persönlichen Kontakte. Werner
Neufliess verstarb drei Monate vor seinem 96. Geburtstag, im Mai 2004.
Wer das Ehepaar Neufliess kannte, wird die beiden als ruhige,
warmherzige und gastfreundliche Menschen in Erinnerung behalten. Die
große Lebens- und Leidenserfahrung hat Werner Neufliess zweifellos mit
einem skeptischen Blick für die Zukunft ausgestattet. Was ihn aber
besonders auszeichnete, war sein herzliches, humorvolles Wesen sowie die
Vielzahl seiner Interessensgebiete. Fanatismus – egal von welcher Seite
er kam – war ihm ein Gräuel. Den religiösen Fundamentalismus erkannte
er, wie er einmal in einem seiner Briefe schrieb, als „große Gefahr“.
Was bei ihm zählte, war, wie es Martin Buber einmal genannt hat, „Das
dialogische Prinzip“. Bei allem, was er erlebt hatte, war er ein
Menschenfreund geblieben, und in politischer Hinsicht der Sache des
Sozialismus zugetan. Werner Neufliess war ein Gärtner nicht nur von
Beruf aus, wie es in einem der Nachrufe auf ihn so schön formuliert
wird, er war ein Gärtner „auch in seiner Seele“.
Persönliche Nachbemerkung: Bei unserem ersten gemeinsamen Rundgang in
Shavei Zion zeigte mir Werner Neufliess unter anderem eine
archäologische Ausgrabungsstätte, die übrig gebliebenen Mauerreste eines
alten Gebäudes. Dabei wies er mich darauf hin, dass die Handwerker
seinerzeit bei der Gestaltung des Fundamentes und des Bodens bewusst mit
einer der Bodenfliesen eine Unregelmäßigkeit in das gegebene Muster
hineingebracht hatten. Ein perfektes Werk zu liefern, sollte damals nur
den Gottheiten vorbehalten sein. Dass auch der Mensch ein absolut
unfehlbares Werk hervorbringen könne, wurde als Anmaßung betrachtet.
Wann immer mich heute ein innerer Perfektionsdrang zu übermannen
beginnt, fällt mir Werner Neufliess’ schöne und erhellende Erklärung der
Bodenbeschaffenheit in den Überresten des alten Bauwerkes in Shavei Zion
ein.
Grundlage des vorliegenden Textes sind die von Werner Neufliess 1974
verfassten Lebenserinnerungen. Das ursprüngliche
Manuskript wurde 1997 von seinem Verfasser nochmals durchgesehen
und gekürzt. Kleinere orthographische Anpassungen wurden von Gerhard
Senft vorgenommen.
Weiterführende Literatur:
Adler, H. G.:
Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft,
Göttingen 2005
Bracher, Karl-Dietrich:
Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des
Nationalsozialismus, Köln 2003
Blüher, Hans:
Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung, Drei Bände, Prien am
Chiemsee 1922
Buber-Neumann, Margarete:
Von Potsdam nach Moskau. Stationen eines Irrweges, München 2002
Chomsky, Noam:
Offene Wunde Nahost. Israel, die Palästinenser und die US-Politik,
Hamburg 2002
Conze, Werner; Hentschel, Volker (Hg.):
Ploetz. Deutsche Geschichte, Epochen und Daten, Freiburg – Würzbug 1996
Goytisolo, Juan:
Weder Krieg noch Frieden. Palästina und Israel heute, Frankfurt am Main
1995
Haug, Wolfgang:
„Eine Flamme erlischt“. Die Freie Arbeiter Union Deutschlands
(Anarchosyndikalisten) von 1932 bis 1937. In: Internationale
wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen
Arbeiterbewegung, 5. Jg., H. 3, September 1989
Kershaw, Ian:
Hitler 1889-1945, Drei Bände, Stuttgart 2002
Kohlmann, Carsten:
Das Archiv der Gemeinde Shavei Zion in Israel – Archivgeschichte,
Beständestruktur, Ausstellungsplanung, Institut für Archivwissenschaft,
Marburg an der Lahn 2005
Mayer, Egon:
Der Moschav, Basel 1967
Mommsen, Hans:
Von Weimar nach Auschwitz. Zur Geschichte Deutschlands in der
Weltkriegsepoche, München 2001
Pauker, Arnold:
Deutsche Juden im Kampf um Recht und Freiheit. Zu Abwehr,
Selbstbehauptung und Widerstand der deutschen Juden seit dem 19.
Jahrhundert, Berlin 2004
Petzold, Günther; Petzold, Leslie:
Shavei Zion. Blüte in Israel aus schwäbischer Wurzel, Gerlingen 1993
Seelmann-Eggebrecht, Rolf:
Schavei Zion. Studie eines gemäßigten Kollektivs – seiner Geschichte,
seiner Bewährung, seiner Chancen, Führt - Erlangen 1970
Senft, Gerhard:
Aufbruch in das Gelobte Land. Die Ursprünge der Kibbutz-Wirtschaft, Wien
1997
Souchy, Augustin:
Reisen durch die Kibbuzim, Reutlingen 1984
Steinhauser, Mary (Hg.):
Totenbuch Theresienstadt. Damit sie nicht vergessen werden, Wien 1987
Šupíková, Anna:
Auch ich habe plötzlich gespürt, daß ich anders bin. In: Losová, Jana
(Hg.): Kindheit in Böhmen und Mähren, Wien - Köln – Weimar 1996
Quelle: Erkennnis - Zeitschrift der Pierre Ramus Gesellschaft Wien, Nr. 14, 2006 |