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Vorbemerkung von Günter Langer : Werner Neufliess war ein syndikalistisch organisierter Gärtner aus Breslau, der von den Nazis in das KZ Theresienstadt gesteckt wurde. Nach der Befreiung durch die Rote Armee wollte ihm der neue tschechoslowakische Staat keine Staatsbürgerschaft zuerkennen. Daraufhin beschloss er, in dem neuen Staat Israel  einen neuen Anfang zu machen, um endlich frei von Antisemitismus leben zu können. Er wurde dort Gärtner in einem Moschav, einer agrarischen Genossenschaft. Gerhard Senft von der Pierre Ramus-Gesellschaft hat seinen Lebensweg einfühlsam beschrieben. Wir danken Gerhard Senft für die freundliche Genehmigung, seinen Text hier übernehmen zu dürfen.
Im SDS hatten wir uns viel zu wenig mit dem Schicksal der von den Nazis eliminatorisch verfolgten Juden beschäftigt. Stattdessen schlich sich allmählich der Antizionismus als zu bekämpfender "Imperialismus" mehr und mehr ein. Das war kein Ruhmesblatt für uns.

Gerhard Senft

 

BRESLAU/WROCLAW –  THERESIENSTADT SHAVEI ZION

Gezeiten eines Jahrhundertlebens. Werner Neufliess (1908-2004)

 

 

Als ich Werner Neufliess zum ersten Mal begegnete, war er im Gartenbereich der Siedlung  Shavei Zion damit beschäftigt, einige Rosenstöcke sorgsam zu recht zu schneiden. Ich hatte mich damals, im Sommer 1985 als Student der Wirtschaftwissenschaften entschlossen, einige Monate in Israel zu verbringen, um das Genossenschaftswesen des Landes, besonders aber den legendären Kibbuz, kennen zu lernen. Zwei Monate meines Aufenthaltes arbeitete ich in einem damals neu gegründeten Moschav in der Nähe der Stadt Naharia im Norden Israels. Weitere Stationen meiner Reise waren die Kibbuzim Dagania, Gescher Habiz, En Gev, Evron und Lohamei Hagetaot sowie die Moschavim Nahalal und Shavei Zion im westlichen Galiläa. Als Ergebnis meines Aufenthaltes in Israel entstand in der Folge eine an der Wirtschaftuniversität Wien vorgelegte Hausarbeit. Was mich damals besonders angeregt hatte, war Augustin Souchys Schrift „Reisen durch die Kibbuzim“. Seine Hinweise waren es auch, die mich auf den Moschav Shavei Zion aufmerksam machten. Bei meinem ersten Besuch in der Kommune fragte ich im Sekretariat nach einem Interviewpartner, der mir über die Geschichte und die aktuellen Entwicklungen der Siedlung Auskunft zu geben imstande wäre. Ich wurde sogleich an Werner Neufliess verwiesen. In seiner herzlichen Art lud er mich in sein bescheidenes Haus, wobei ich auch seine Frau Rosa kennen lernen durfte. Werner Neufliess versorgte mich, nachdem er mein Anliegen vernommen hatte, mit wertvollen Literaturtipps und lieh mir noch einige seiner themenbezogenen Bücher. Bei unserem letzten Treffen 1985 überreichte er mir zum Abschied den Abzug eines Manuskripts, in dem er seine mehr als wechselvolle Lebensgeschichte festgehalten hatte: In Breslau, im heutigen Polen geboren, hatte er den Beruf des Gärtners erlernt. Von den Nationalsozialisten verfolgt, flüchtet er 1933 in die Tschechoslowakei, wo er nach der Besetzung durch die deutschen Truppen verhaftet und in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde. In dieser Zeit war er im Bereich der landwirtschaftlichen Produktion eingesetzt. Nach der Befreiung aus dem KZ entschlossen sich Werner Neufliess und seine Frau Rosa zur Auswanderung nach Israel, wo sie sich in Shavei Zion niederließen. Hier ging Neufliess wieder seinem erlernten Beruf als Gärtner nach. Heute, in einer Zeit, in der das Existenzrecht des Staates der Shoa-Überlebenden in unerträglicher Weise in Frage gestellt wird (am „Jerusalem-Tag“ im Iran Ende Oktober 2005 wurde der Holocaust zum „Mythos“ erklärt und dazu aufgerufen, Israel „von der Landkarte zu tilgen“)  erscheint jede Begründung überflüssig, warum Lebensgeschichten, wie jene von Werner Neufliess, immer wieder neu zu erzählen sind.

 

Werner Neufliess wurde im August 1908 als Sohn einer jüdischen Ärztefamilie im Schlesischen Breslau geboren. Größer als Köln, Nürnberg, Düsseldorf oder Frankfurt am Main zählte das expandierende industrielle Ballungszentrum Breslau zu den zehn größten Städten des damaligen deutschen Reichsgebietes. Der überwiegende Teil der rund 470.000 Einwohner umfassenden Stadt war in seinem religiösen Bekenntnis so das Ergebnis der Volkszählung vom Dezember 1905 – protestantisch orientiert. Mehr als 57 Prozent der Breslauer Bevölkerung neigte zur lutherisch-reformerischen Richtung, während sich knapp 37 Prozent zum Katholizismus bekannten. Die jüdische Gemeinde Breslaus war entsprechend dem gesamten Wachstum der Metropole zwischen 1850 und 1900 von 7.200 auf etwa 19.000 Mitglieder angewachsen; sie repräsentierte also zum Zeitpunkt der statistischen Erhebung etwas über vier Prozent der Bevölkerung. Der Beitrag des Judentums zum kulturellen Geschehen und zum intellektuellen Klima der Stadt war bedeutend. Die geistig anregende Sphäre Breslaus brachte im 20. Jahrhundert nicht wenige wichtige Zeitgenossinnen und Zeitgenossen hervor. – Um nur eine kleine Auswahl zu erwähnen: Günther Anders (d. i. Günther Stern, 1902-1992), Philosoph und Essayist, Dietrich Bonhoeffer (1908-1945), Theologe und Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, Norbert Elias (1897-1990), Soziologe und Historiker, Ilse Langner (1899-1987), Schriftstellerin und Dramatikerin. Das Geburtsjahr von Werner Neufliess fiel ohne Zweifel in eine bewegte Epoche: Die Wirtschaftsrivalitäten und die Auseinandersetzungen um koloniale Einflussgebiete zwischen den großen Mächten hatten zugenommen, kriegerische Konfliktaustragungen tobten in Afrika (Burenkrieg), in Asien (Russland gegen Japan), und auch in Europa selbst, am Balkan, spitzten sich die Verhältnisse zu. Unter Reichskanzler Bernhard von Bülow (1900-1909) kam es mit der Verabschiedung der sog. Flottengesetznovelle 1908 zu einer merklichen Beschleunigung des Rüstungstempos im Deutschen Reich. Das Imponiergehabe und das "persönliche Regiment" des deutschen Kaisers stießen jedoch in der Bevölkerung nicht nur auf Zustimmung. Nach einem im englischen Blatt "Daily Telegraph" 1908 erschienen Interview mit Willhelm II. regte sich sowohl im deutschen Reichstag als auch in der kritischen Presse Widerstand. Damit wurde deutlich, wie sehr innerhalb des Deutschen Reiches das Vertrauen in die Monarchie bereits geschrumpft war. Die aggressionsbeladenen Ambitionen der Führung des Deutschen Reiches kamen 1908 auch in dem "Notfall-Gesetz" zum Ausdruck, das die preußische Regierung ermächtigte, polnischen Landbesitz bis zu einem Ausmaß von 70.000 ha zu enteignen und an deutsche Siedler weiterzugeben. Obwohl das Enteignungsgesetz in seinen praktischen Auswirkungen nur eine geringe Rolle spielte, war die Atmosphäre vergiftet und heftige Gegenreaktionen auf internationaler Ebene waren die Folge.

 

Wie ein großer Schatten sollten sich nach und nach die Auswirkungen dieser Ereignisse über die Kinderjahre Werners legen. Im Hause Neufliess wurde alles getan, dem Jungen ebenso wie seiner etwas älteren Schwester ein wohlbehütetes Dasein zu ermöglichen, aber nicht alles stand in der Macht der Eltern. Werner Neufliess berichtet: "An die ersten Jahre kann ich mich sehr wenig erinnern, ein paar Ferienaufenthalte tauchen da auf, einmal an der Ostsee, einmal im Riesengebirge. Mit fünfeinhalb Jahren kam ich in die Vorschule des Friedrich-Gymnasiums, ein humanistisches Gymnasium ganz in unserer Nähe. Da es mir in der Schule nicht sehr leicht fiel, war ich nie genug konzentriert und immer verspielt, so war ich kein Musterschüler." In der vierten Klasse wurde der Knabe in das Realgymnasium am Zwinger umgeschult, wo – so Neufliess – "es mir zwar besser ging, aber eine Freude war es nicht, weder für mich, noch für meine Lehrer. Ich war also froh, als ich nach Erreichung der Obersekundarreife die Schule verlassen konnte und einen Beruf ergreifen durfte."

 

Breslau

Der Rathausplatz von Breslau/Wroclaw um 1900

 

An seine Herkunft, an sein Elternhaus und an den Beruf seines Vaters erinnert sich Werner Neufliess: "Mein Vater war ein schwer beschäftigter Arzt. Er stammte aus sehr kleinen Verhältnissen, der Großvater betrieb eine kleine Schnapsbrennerei und hatte, wie die Großmutter mir mal erzählte, durch seine Gutmütigkeit all sein Geld verloren. Mein Vater mußte sich sein Studium schwer erkämpfen und dafür sogar Schulden machen. … Die Mutter war aus gutsituiertem Haus, eine Kaufmannsfamilie, und so hatte es mein Vater dann etwas leichter, die Einrichtung für die Praxis und der Start für den Aufbau der Existenz war gesichert. Meine Schwester war 1905 geboren worden, es war eben ein gutbürgerliches Haus, es gab keine finanziellen Sorgen, eine große guteingerichtete Wohnung, man lebte aber sehr bescheiden, die Mutter war oft zu sparsam, wir hätten uns mehr leisten können. … Der Vater war sehr fleißig, ein guter und beliebter Arzt. Da wir in einem Arbeiterviertel wohnten, gab es fast nur Kassenpatienten, keine Privatpatienten. Während die Kollegen meines Vaters die Nachtglocke oder das Telefon abstellten, um ihre Ruhe zu haben, war mein Vater immer bereit, seine Nachtruhe aufzugeben, seine Ideale als Arzt verboten ihm solche Tricks. Natürlich ging das oft über seine Kräfte, was gelegentlich zu familiären Spannungen führte."

 

Die Annäherung des jungen Werner Neufliess an das jüdische Leben in Breslau vollzog sich erst allmählich: "In unserer Gegend gab es kaum Juden, die wohnten eher im Zentrum oder im Süden der Stadt. Wir wußten zwar, daß wir Juden sind und ich wurde auch auf der Straße angepöbelt. Die Eltern waren beide aus liberalen Häusern und niemand legte Wert auf das Einhalten der jüdischen Feiertage. Im Gymnasium hatte ich nicht mal jüdischen Religionsunterricht, da wir nur drei Juden in der ganzen Schule waren. So ging ich manchmal zum katholischen oder zum protestantischen Religionsunterricht. Wegen der christlichen Hausangestellten wurden dann eben alle christlichen Feiertage gehalten, einen Weihnachtsbaum hatten wir immer. Einen Chanukka-Leuchter kannte ich nicht. Mein bester Freund war der Sohn des Pastors der Elftausendjungfrauen-Kirche, die neben unserm Haus stand und der Sohn eines Roßfleischhauers. Der stillgelegte Friedhof der Kirche war unser Spielplatz. Ich wurde auch von den Hausangestellten oft in die Kirche mitgenommen und hatte nie Gelegenheit, eine Synagoge zu sehen. Die erste Synagoge sah ich dann später in Brieg, wo unsere Großeltern wohnten. Im Realgymnasium kam ich dann in jüdische Kreise und auch in den Deutsch-Jüdischen Wanderbund "Kameraden". Es war eine jüdische Organisation, aber alle waren aus den assimilierten Häusern."

 

Die Katastrophe des Ersten Weltkrieges, ausgelöst durch die unglückselige Vermengung von Habsburgischer Überheblichkeit und preußischem Militarismus, fiel wie ein großer Schatten auf die Kinderjahre Werner Neufliess'. Der einige Jahre ältere Günther Anders, der den Beginn der Kriegskatastrophe ebenfalls in Breslau miterlebte, erinnerte sich später immer nur mit dem Gefühl des größten Unbehagens an jene Zeit zurück. Die anfängliche Kriegsbegeisterung und der Hurrapatriotismus, die in der Bevölkerung Deutschlands und Österreichs herrschten, bekamen jedoch bald Risse. Zu Weihnachten 1914 – nur wenige Monate nach Kriegsbeginn – zeigten sich erste Unwilligkeit und  Erschöpfungsanzeichen bei den Truppen an der Front. Doch die gigantischen Rüstungsanstrengungen in den Jahren davor hatten für eine erbarmungslose Prolongierung des blutigen Geschehens gesorgt. Am Höhepunkt des Krieges standen 74 Millionen Soldaten unter Waffen, davon 25 Millionen alleine bei den Mittelmächten. Die bei Verdun oder an der Somme geführten Kriegshandlungen erforderten einen gewaltigen Materialaufwand und brachten ein ungeheures Ausmaß an menschlichem Leid mit sich. Zehn Millionen Tote insgesamt blieben mit Kriegsende 1918 auf den Schlachtfeldern zurück, noch einmal so viele kehrten als Kriegskrüppel oder verwundet heim. Großbritannien hatte eine Million tote und zwei Millionen verwundete Soldaten zu beklagen. Das Deutsche Reich, das im letzten Kriegjahr etwa 8 seiner 16,7 Millionen männlichen Staatsbürger im Alter zwischen 15 und 60 Jahren im Dienst der Streitkräfte stehen hatte, musste Verluste in der Größenordnung von 1,8 Millionen toten und 4,2 Millionen verwundeten Soldaten hinnehmen. Zurück blieb nicht zuletzt eine erschöpfte Zivilbevölkerung, die die Folgeschäden des Krieges zu tragen hatte. Die Kriegstoten unter den Zivilisten waren ebenfalls mit etwa 10 Millionen zu beziffern, weitere 20 Millionen starben an Unterernährung und Krankheiten, die dem Kriege zuzurechnen waren. Die militärischen Operationen hatten 180 bis 230 Millionen Dollar (gerechnet zu Kaufkraftwerten von 1914) verschlungen. Dazu kamen vom Krieg verursachte materielle Schäden, die sich mit über 150 Millionen Dollar zu Buche schlugen. Der Rätesozialist Kurt Eisner, 1918/19 kurzzeitig bayrischer Ministerpräsident, hielt nach dem Ende des großen Krieges fest: "Wenn wir die Milliarden, die wir für den Krieg vergeudet haben, für das Leben ausgegeben hätten, dann wäre Deutschland heute ein Paradies."

 

Der Erste Weltkrieg hatte innerhalb des Deutschen Reiches vieles an Umwälzungen mit sich gebracht. Die Mobilisierung und die Organisation aller verfügbaren Kräfte im Dienste der Kriegsführung verschafften dem Staat einen wachsenden Einfluss auf das wirtschaftliche Geschehen. Der Einbezug des weiblichen Teiles der Bevölkerung in das Arbeitsleben im Rahmen der (Rüstungs-)Industrie führte zu einer Stärkung der Emanzipationstendenzen, die Notwendigkeit des umfassenden Einsatzes aller verfügbaren Arbeitskräfte ließ die Bedeutung der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften anwachsen. Während also die Arbeiterschaft mit einem gestärkten Selbstbewusstsein aus den Ereignissen des Krieges hervorging, blieb ein in Substanz geschädigter Mittelstand zurück, der seine Rücklagen mit der Zeichnung der Kriegsanleihen (in Summe: 96,93 Milliarden Mark) und im Zuge der inflationsbedingten Geldabwertung verloren hatte. Das gesellschaftliche Konfliktpotential war im Vergleich zu der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beträchtlich angewachsen.

 

Die Familie Neufliess wohnte in einem der proletarischen Viertel Breslaus, und so war Werner bereits von Kind an mit gravierenden sozialen Gegensätzen konfrontiert. Die fehlende Systemintegration der Arbeiterschaft im Deutschen Reich bildete noch immer eines der drängendsten Probleme, auf der Ebene der zum Teil heftig geführten politischen Auseinandersetzungen (Räterepublik in Bayern, Spartakus-Aufstand in Berlin) spiegelten sich die gesellschaftlichen Disparitäten wider. Bei den Wahlen zum niederschlesischen Provinziallandtag im Jahr 1921 – Breslau war 1919 zur Hauptstadt der neu gegründeten Provinz Niederschlesien geworden – erreichte die Sozialdemokratie mit 51,19 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit. Das bürgerliche Lager mit dem Katholischen Zentrum (20,24 Prozent), der Deutschen Volkspartei (11,9 Prozent) und mit der Deutschen Demokratischen Partei (9,52 Prozent) rangierte damit deutlich hinter der SPD. Werner Neufliess selbst betrachtete das gesellschaftliche Umfeld, wie er es erlebte, als prägend für seine spätere persönliche und politische Entwicklung bzw. für seine noch im Jugendalter vollzogene Hinwendung zu den Ideen des Sozialismus. Die Kluft zwischen den sozialen Gruppen stellte sich im Gefolge des Ersten Weltkrieges noch schärfer dar: "Breslau war nach dem Krieg die Stadt mit dem größten Elend und der größten Wohnungsnot. … Ich sah große Familien, in einem oder zwei Zimmern untergebracht. Dann kam noch die Inflation und später die Massenarbeitslosigkeit und ich hörte zu Hause viel über die Not der Patienten meines Vaters, oft hat er sie umsonst behandelt und ihnen auch noch die Medizin bezahlt aus seiner eigenen Tasche. All das hat natürlich meine spätere politische Einstellung stark beeinflußt. In Breslau wurde auch so ein billiger Fusel verkauft, wurden die Betrunkenen rabiat, dann wurde mein Vater gerufen, mußte die Geschlagenen verbinden, oft die von ihren eigenen Ehemännern malträtierten Frauen, und die Geschlagenen-Atteste ausstellen für die Gerichte. Vielleicht kommt schon daher meine Abneigung gegen jeden Alkoholgenuß."

 

Der Deutsch-Jüdische Wanderbund "Kameraden", in dem Werner Neufliess während seiner Jugendjahre bevorzugt verkehrte, war Bestandteil der so genannten Wandervogel-Verbände, die die erste größere Gruppenausformung innerhalb der deutschen Jugendbewegung um 1900 repräsentierten. Hervorgegangen aus einer Vereinigung von Schülern des Steglitzer Gymnasiums in Berlin 1896, verbreiteten sich die auf Naturerfahrung und Lebensreform (Vegetarismus, Antialkoholismus, alternative Bodenbewirtschaftung) ausgerichteten Vereine sehr rasch im gesamten deutschsprachigen Raum. Der Wandervogel bildete im Hinblick auf Kleidung, Symbolik, Lagerleben, Fahrtenwesen, Musik- und Tanzaufführungen einen eigenen Lebensstil aus und setzte sich im Sinne einer autonomen Jugendkultur für eine unabhängig von der älteren Generation entwickelte Selbsterziehung und Selbstgestaltung in jugendlichen Gemeinschaften ein. Im Großen und Ganzen war die Organisation der Jugendbewegung das Ergebnis einer Auflehnung gegen die Einschränkungen der (zumeist) bürgerlichen Elternhäuser und gegen die Sachzwänge, die das moderne kapitalistische Zeitalter hervorgebracht hatte. Ziel war es, neue Antworten zu finden, auf Fragen des "Eros" oder im Hinblick auf die psychische Beschaffenheit des modernen Menschen. Ein Teil der Jugendbewegung entwickelte nach dem Ersten Weltkrieg – so Margarete Buber-Neumann in ihren Erinnerungen "Von Potsdam nach Moskau" – ein deutliches Naheverhältnis zur radikalen politischen Linken. Die Wandervogel-Bünde bestanden in Deutschland bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1933, in Österreich bis 1938.

 

Das neue Umfeld, dass der Wanderbund für Werner Neufliess darstellte, rückte die Frage der jüdischen Identität zwar näher an ihn heran, im Zentrum seiner Gedanken stand sie aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht: "Wenn die eine gewisse Vorprägung fehlte, wurde man sich dort nicht des Judentums bewußt. Es gab zwar hitzige Diskussionen, aber ich war nie daran beteiligt. Interessanter waren schon die Diskussionen mit den zionistischen Blauweissen. Für mich waren jedenfalls die Wandervogeljahre die schönsten meines Lebens. Die Wanderungen, die Liebe zur Natur, die freiwillige Disziplin und die Kameradschaft entsprachen meinen Idealen und noch heute erinnere ich mich an viele schöne Einzelheiten. Die Kameradenjahre haben mir auch sehr geholfen über häusliche Probleme hinwegzukommen. Aussprachen mit Gleichgesinnten ersetzten mir oft den fehlenden väterlichen Rat in meinen Jugendproblemen. … Die Wandervogelzeit war natürlich eine Auflehnung gegen die bürgerliche Welt, war eben revolutionär, mit ein paar Mark in der Tasche und dem Zelt auf dem Buckel durch ganz Deutschland zu tippeln, anstatt mit dem Vater nach Bad Kissingen zu fahren. Durch die Wandervogelerziehung und die Liebe zur Natur wurde ich auch weitgehend in meiner Berufswahl beeinflußt. Dazu kam, daß wir in den Kriegsjahren einen Schrebergarten hatten, als mein Vater nach zwei Frontjahren zurückkam und sich von der schweren Lazarettarbeit erholen wollte. Für ihn war es ein Hobby, aber bald machte ich alle Arbeit allein und die Freude an dieser Arbeit war ausschlaggebend für meine Berufswahl. Auf der Schule fiel es mir nicht leicht und ich hatte Angst vor dem Studium. Mein Vater wollte natürlich unbedingt, daß ich auch Arzt werde, wie es die bürgerliche Tradition verlangte. Unser Wandervogel war zwar nicht sozialistisch, aber doch schwang die Einstellung mit, sich seinen Weg selbst zu finden und nicht vom Geld des Vaters abhängig zu sein. Es war auch ein schwerer Kampf, bis ich die Einwilligung bekam, Gärtner zu lernen, auch mußte ich versprechen, die Gartenbauschule zu besuchen."

 

Lehrjahre

 

Der Breslauer Mediziner Doktor Neufliess hatte sich unter schwierigen Bedingungen zum Akademiker hochgearbeitet, für ihn war der Gedanke nur schwer zu ertragen, dass der Sohn sich mit einer Ausbildung zum Gärtner begnügen wollte. Für Werner Neufliess bestand aber nie ein Zweifel, damals die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Seine Lehrzeit verbrachte er bei der Firma Paul Hatt in Breslau-Grünsiche. Es war ein großes Unternehmen, das Landschaftsgärtnerei und Staudenzucht betrieb. Werner Neufliess fügte sich gut in das betriebliche Leben ein, die Arbeit machte ihm großen Spaß, mit Eifer ging er daran, sich die gärtnerischen Fähigkeiten anzueignen. Er erinnert sich: "Was den Betrieb besonders auszeichnete, war die Kameradschaft und die Solidarität unter den Arbeitern. Der Chef versuchte immer, uns Lehrlinge als billige Arbeitskräfte gegen die Gehilfen auszuspielen, aber das wurde von den Gehilfen verhindert." Mit Unterstützung der Gehilfenschaft wurde es möglich, dass Werner Neufliess seine Ausbildungsphase von drei auf zwei Jahre reduzieren konnte, und er so im Jahr 1929 seine Lehrzeit mit der Gehilfenprüfung bei der Landwirtschaftskammer in Breslau mit gutem Erfolg abschloss. Auch für seine politische Entwicklung betrachtete Werner Neufliess seine Lehrjahre als entscheidend. Innerhalb der Kollegenschaft des Betriebes waren ziemlich alle Richtungen der politischen Linken vertreten. Neufliess kam so in Kontakt mit der Sozialdemokratie und mit der Gewerkschaftsbewegung. Auch ein jugendlicher Kommunist befand sich unter den Lehrlingen, "ein guter Kerl, voll ehrlicher Ideale und ein großer Arbeitersportler", wie Neufliess später festhielt. "Die Arbeitspausen waren immer mit politischen Diskussionen ausgefüllt, die ein bemerkenswert hohes Niveau hatten. Einer der Obergärtner erzählte immer Geschichten aus dem Ersten Weltkrieg, aber keine Heldentaten, wie all die anderen, sondern wie er sich als eingefleischter Pazifist verhalten hat. Er war auch der, der sich am meisten um unsere Ausbildung gekümmert hat und immer vom Chef verlangte, daß wir wirkliche gärtnerische Arbeit leisteten und was lernten. Er hinterließ bei mir den stärksten Eindruck."

 

Weiter schildert Werner Neufliess: "Am auffallendsten war ein Chauffeur, der ein Anarcho-Syndikalist war. Ich konnte mich zwar nicht für seine radikalen Ansichten begeistern, aber er war ein besonders feiner und kultivierter Mensch. Ich habe es nie begriffen, daß er später seinem Leben selbst ein Ende setzte, angeblich eine Frauenaffäre." Der Anarcho-Syndikalismus war in Deutschland als politische Richtung und als Kulturbewegung im Gefolge der SPD-internen Auseinandersetzungen um den so genannten Revisionismus emporgekommen. Die Revisionisten, die in der deutschen Sozialdemokratie bereits vor 1900 deutlich an Boden gewonnen hatten, neigten dazu, alle revolutionären Aktivitäten auf die lange Bank zu schieben. Auf dem Parteitag der SPD in Dresden 1903 wurde die vom Wortführer der revisionistischen Richtung Eduard Bernstein verfochtene Reformpolitik zwar mehrheitlich abgelehnt, in der Praxis blieb die Führung der Sozialdemokratie jedoch dem revisionistischen Geist verpflichtet. Für zahlreiche dem Sozialismus nahe stehende Intellektuelle und Angehörige der Arbeiterschaft war dieser Weg nicht mehr gangbar. Am 4. August 1904 hielt Raphael Friedeberg in Berlin vor mehreren Tausend Zuhörerinnen und Zuhörern ein Referat zum Thema „Parlamentarismus und Generalstreik“, in dem er eine revolutionstaktische Erneuerung der Arbeiterbewegung auf der Basis des Generalstreiks vorschlug. Friedeberg interpretierte die Diskrepanz zwischen dem organisierten Machtpotential der Sozialdemokratie und der relativen praktischen Erfolglosigkeit der Arbeiterbewegung als einen Effekt einer staatsfreundlichen und zu anpassungsbereiten Politik. In dieser heißen Phase der Auseinandersetzungen wurde die „Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften“, eine rund 15.000 Anhänger zählende oppositionelle Minderheit innerhalb der Gewerkschaftsbewegung, zur Keimzelle des deutschen Anarcho-Syndikalismus. Die Führung der SPD, die zu jener Zeit gerade massive Probleme hat, laufende Massenaktionen im Zaum zu halten – die Bergarbeiter im Ruhrgebiet hatten die Arbeit niedergelegt, die Metallarbeiter in Bayern streikten, ebenso die Elektrizitätsarbeiter in Berlin –, war schwer irritiert und reagierte mit Parteiausschlüssen. Die Vereinigung der radikalen Linken in eigenen Organisationen erschien nun unumgänglich. Mit der Ausweitung syndikalistischer Tendenzen in Deutschland erhielt die Sozialdemokratie zunehmend Konkurrenz. Auf ihrem 12. Kongress im Jahr 1919 konnte die syndikalistische „Freie Arbeiterunion Deutschlands“ (FAUD) bereits auf fast 112.000 Mitglieder verweisen.

 

 Unter dem Einfluss seiner neuen Umgebung entschloss sich Werner Neufliess, dem "Arbeiter Turn- und Sportbund" (ATUS) beizutreten. Dabei wurde er auch Mitglied der "Freien Kanuvereinigung", die Ausflüge verlagerten sich nun mehr und mehr auf das Wasser. Mit seinen neuen Aktivitäten, beruflich und in der Freizeit, entfernte sich Werner Neufliess jedoch zunehmend von den "Kameraden" des Wandervogelbundes, die ihn durch seine Jugendjahre begleitet hatten. Als mit der Einschreibung in den ATUS der Austritt aus der bürgerlichen Organisation verlangt wurde, tröstete er sich mit dem Gedanken: "Die Entwicklung der 'Kameraden' ging ja auch in der sozialistischen Richtung. Aus den 'Kameraden' wurden dann übrigens die 'Werkleute', die später nach Palästina gingen und dort führend bei der Gründung linkssozialistischer Kibbuzim wurden."

 

Der Abschluss seiner Lehrjahre fiel für Werner Neufliess mit einem besonders einschneidenden Ereignis zusammen: 1930 kam seine Mutter unter tragischen Umständen ums Leben. Zu diesem Zeitpunkt entschloss er sich, von zu Hause wegzuziehen. Nach Ablauf eines Jahres heiratete der Vater wieder, dessen neue Frau hat Neufliess in ausgesprochen guter Erinnerung behalten: "Sie hat es immer verstanden, alle Spannungen zwischen meinem Vater und mir zu mildern." Seine Urlaube nützte der junge Neufliess daher gerne für Besuche im Elternhaus. Im Jahr 1930 deuten alle Zeichen darauf hin, dass sich die Weltwirtschaft auf einer rasanten Talfahrt befindet. In Deutschland hatten sich bereits im Winter 1928/29 Anzeichen einer Krise gezeigt, die Jahre einer guten Konjunktur – Auswirkungen eines ausgeprägten Produktivitätswachstums und einer hohen Kapitalzufuhr, vor allem aus den USA (1929 betrug die deutsche Auslandsverschuldung 25 Milliarden Reichsmark, davon 12 Milliarden kurzfristige Gelder) – gingen zu Ende. Im Oktober 1929 erschütterte der große Börsenkrach in den USA sowohl das monetäre Geschehen als auch die realwirtschaftlichen Fundamente der westlichen Welt schwer. Drastische Einbrüche auf der Seite des Konsums, in der Folge auch im Investitionsbereich, setzten eine deflationäre Entwicklung in Gang, deren negative Effekte nur allzu bald spürbar wurden. Die Staaten gingen dazu über, ihre Schuldenrückzahlungen einzustellen, die generell verminderte Nachfrage reduzierte in Verbindung mit den protektionistischen staatlichen Maßnahmen das Volumen des Welthandels auf ein Minimum, das alles, während das internationale Währungssystem auf einen ungesunden Abwertungsreigen zusteuerte. Als Reaktion auf die Verminderung der Austauschbeziehungen und des Preisverfalls der Produkte wurde die Erzeugung enorm gedrosselt – mit dem Effekt einer Schwächung der betroffenen Unternehmen. Betriebszusammenbrüche waren an der Tagesordnung, ein gewaltiger Anstieg der Arbeitslosenziffern war eine logische Folge. Am Tiefpunkt der großen Weltwirtschaftkrise im Herbst 1932 waren fast 30 Millionen Menschen weltweit arbeitslos geworden.

 

Trotz der zunehmend angespannten Situation auf dem Arbeitsmarkt gelang es Werner Neufliess, bald eine Arbeitsstelle als Gärtnergehilfe zu finden. Seinen ersten Posten erhielt er auf Empfehlung seines früheren Lehrmeisters bei der Rosenfirma Teschendorf in Cossebaude bei Dresden. Hier herrschte jedoch ein ganz anderes Klima als an der Ausbildungsstätte. Die meisten seiner Kollegen waren Söhne von Großgärtnern, die primär an ihrer beruflichen Entwicklung interessiert waren. Der junge Gärtnergehilfe vermisste den Gemeinschaftsgeist, zudem war er auch mit üblen antisemitischen Unterstellungen konfrontiert. Insbesondere nachdem in Erfahrung gebracht worden war, dass der Neuankömmling auch gewerkschaftlich organisiert war, ging die Hetze los. Neufliess arbeitete in der Staudenabteilung, einem Zweig, in dem er sich während der Lehrzeit spezielle Kenntnisse erworben hatte, wobei der zuständige Obergärtner regelmäßig seine Zufriedenheit mit seinem Arbeitsergebnis äußerte. Trotzdem blieb eine Eskalation nicht aus: "Einmal, ich arbeitete gerade bei den Dahlien im Koller, hörte ich, wie der Chef vom Obergärtner meine Entlassung verlangte, mit der Begründung, daß ich Jude und Gewerkschaftler wäre. Der Obergärtner weigerte sich, das zu tun, aber ich ging selber zum Chef und kündigte." Seine nächste Stelle fand er bei der Firma Wiedow in Coswig, ein Betrieb mit Gewächshäusern, Orchideen und anderen Topfpflanzen. Dort gab es zwar Neues zu lernen, da die Arbeit aber Neufliess auf die Dauer doch etwas zu einseitig erschien und er seinen Kenntnisstand erweitern wollte, wechselte er zur Firma Reinhold Behnsch, ein Baumschulbetrieb in Brockau bei Breslau. Hier blieb er bis zur Aufnahme in die Lehr- und Forschungsanstalt für Gartenbau (LUFA) in Berlin-Dahlem. Vor Schulbeginn begab er sich aber noch mit einem Freund auf eine größere Reise, mit dem Faltboot die Oder abwärts bis nach Stettin, mit dem Schiff nach Königsberg und von dort über die masurischen Seen zurück nach Breslau. Es war selbstverständlich, unterwegs zwischendurch auch immer zu arbeiten. Es war das Jahr 1931 und allerorts war bereits der aufsteigende Nationalsozialismus zu spüren, es gab Terrorakte, unter anderem in Allentsteig, wo Neufliess den späteren Gauleiter Koch im Rahmen einer Versammlung erlebte. Die "Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei" war das Produkt obskurer rechtsextremer Verbände, die in der unruhigen Phase nach dem Ersten Weltkrieg emporgekommen waren. Mit ihrer rassistisch-sozialdarwinistischen Ideologie und ihrem sektiererischen Hintergrund war sie wesentlich auf die Bedingungen einer gravierenden gesellschaftlichen Krise angewiesen, um zu einer Massenpartei emporsteigen zu können.

 

In der Gartenbauschule bekam Neufliess noch mehr von der sich vollziehenden politischen Umwälzung zu spüren. Er war der einzige Jude seines Jahrganges und sein Tischnachbar saß bereits am ersten Schultag mit der Hakenkreuzbinde am Arm neben ihm. Es gab Lehrer, die ihn schon am ersten Tag fühlen ließen, dass sie überzeugte Nazis waren, andere vollzogen ihre Gleichschaltung langsamer. "Es fiel mir schwer, mich unter diesen Bedingungen zu konzentrieren", erinnert sich Neufliess, "ich wußte genau, was uns blüht. Die Anforderungen in der Schule waren sehr hoch, ich mußte mich sehr anstrengen und bestand auch die Prüfung für den zweiten Jahrgang ganz gut." Im zweiten Jahrgang wählte er seinen Neigungen entsprechend Obst- und Gemüsebau als Hauptfach. Die politische Lage spitzte sich indessen aber immer mehr zu. Die Proteste gegen die Anwesenheit von Juden in der Schule nahmen zu, die Schikanen mehrten sich, Neufliess wurde von einem Kurs ausgeschlossen, obwohl er bis dahin in jeder Hinsicht mustergültig gewirkt hatte. Es wurde klar, was zu tun war: "Politisch war ich in dieser Zeit nicht sehr aktiv. Ich hatte keine Zeit, mußte viel lernen. Aber da ich täglich den Terror der Nazis auf der Straße beobachtete, trat ich dem 'Antifaschistischen Kampfbund' bei, eine Abwehrorganisation der Sozialdemokraten und Kommunisten."

 

Werner Neufliess war etwa einen Monat an der Gartenbauschule, da begegnete er dem Neuankömmling Ruth Hieber, ein "besonders hübsches blondes Mädel". Sie stammte aus Konstanz, ihre Familie kam aber aus Palästina. "Sie hatte dort schon mehrere Jahre als Gärtnerin gearbeitet, und besuchte die Schule, um später Lehrerin an einer landwirtschaftlichen Schule in Palästina zu werden. Sie bat mich, den verlorenen Monat mit ihr nachzuholen und so saßen wir Abend für Abend zusammen. Sie war eine besonders fähige und fleißige Schülerin und war eine extreme Zionistin. Daß ich Sozialist war und nicht Zionist, nahm sie mir sehr übel und so waren wir nur Kameraden. Einmal hörte ich, wie hinter uns jemand sagte: wie kann dieses deutsche Mädel immer nur mit dem Juden gehen. Als ich ihr das sagte, zog sie sofort einen Davidsstern raus, den sie vorher unter der Bluse getragen hatte. Außer ihr gab es noch ein Mädel, die kein Nazi war, sie war japanisch-deutscher Abstammung, ein besonders lieber und netter Mensch, Petra Hagmann, ich stand auch später noch mit ihr in Verbindung und sie war auch unter den Nazis eingesperrt. Dann waren dort noch ein Engländer, der kein Nazi war und ein Antroposoph, der auch den Mut hatte, seine Anti-Nazi-Gesinnung zu bekennen."

 

Katastrophenjahre

 

Werner Neufliess durfte die Schule nicht mehr beenden. Am 30. Jänner 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler berufen. Die Hoffnung der bürgerlich-konservativen Kräfte in Hitlers erstem Kabinett, die Alleinherrschaft der Nazi zu verhindern, scheiterte. Die Schlüsselstellen der preußischen Polizei waren bereits unter Kontrolle der Nationalsozialisten, auch die tolerierende Haltung der deutschen Reichswehr gegenüber dem Vorgehen der NSDAP war mittlerweile gesichert. Am 1. Februar wurde der Reichstag aufgelöst, die "Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat" vom 28. des Monats setzte wichtige Grundrechte außer Kraft und leitete den Abbau der rechtsstaatlichen Grundlagen in Deutschland ein. Ende des Jahres 1933 war die Entwicklung hin zum Führerstaat mit totalitärem Anspruch im Wesentlichen abgeschlossen. Die "Krisenbewältigung" des NS-Regimes bzw. die markante Reduktion der Arbeitslosenziffern in den Jahren 1933ff funktionierte über einen ausgedehnten staatlichen Interventionismus. Eine vorrangige Rolle spielte dabei das Aufrüstungsprogramm, das mit den rabiaten räumlichen Expansionsvorhaben der Nazielite unmittelbar korrespondierte. Da die Finanzierung in hohem Ausmaß über die Notenpresse funktionierte, waren flankierende Maßnahmen wie eine systematische Devisenbewirtschaftung sowie eine autoritative staatliche Kontrolle der Preise und der Löhne erforderlich. Das NS-Regime verkörperte von Beginn an alle wesentlichen Merkmale einer "konservativen Modernisierung", das heißt es zielte auf eine Erneuerung und Effizienzsteigerung des technisch-ökonomischen Systems, bei gleichzeitigem Abbau sozialer und politischer Errungenschaften. Mit der Einrichtung der jeder ordentlichen Gerichtsbarkeit entzogenen Konzentrationslager wurde ebenfalls schon 1933 begonnen: Dachau (nordwestlich von München), Buchenwald (bei Weimar), Oranienburg ("Sachsenhausen", nördlich von Berlin). In letzterem sollte der linke Schriftsteller und Politaktivist Erich Mühsam von Schergen des NS-Regimes 1934 bestialisch ermordet werden.

 

Im Mai 1933 wurde Werner Neufliess im Gefolge einer Hausdurchsuchung in der Wohnung seiner Tante verhaftet und mit mitsamt ihrer Familie in eine zum Gefängnis umfunktionierte Schule gebracht. Der Hausmeister, der schon die Funktion als "Blockwart" ausübte, hatte Neufliess für verdächtig gehalten und die Feldpolizei von seinem Eintreffen verständigt. Die Verwandte von Werner Neufliess betrieb ein Vervielfältigungsbüro und arbeitete nebenbei als Sekretärin des Schriftstellers Herrn von Hanstein, der im Ersten Weltkrieg als hoher Offizier gekämpft und der danach eine Metamorphose zum Pazifisten sowie zum Mitglied der "Liga für Menschenrechte" vollzogen hatte. Dem Hausmeister-Spitzel war es aufgefallen, dass Neufliess regelmäßig jede Woche die Familie seiner Tante aufsuchte, und er hatte ihn fälschlicherweise mit der "Liga" in Verbindung gebracht. Nach der Hausdurchsuchung wurden alle Verhafteten unter Mitnahme der Vervielfältigungsapparate auf einen Lastwagen verladen und in die General Pape-Straße gebracht, eine ehemalige Schule, die nun der Feldpolizei als Hauptquartier diente. Die Schilderung des Werner Neufliess lässt erahnen, was sich in den Folterkellern des NS-Regimes zigtausendfach abgespielt hat: "Zuerst wurden wir, mein Cousin und ich, im Keller schwer mißhandelt. Im Keller war ein langer Gang, an der Decke waren die Kanalisationsröhren. Unter so ein Rohr wurde eine Bank gestellt und wir mußten im Gang Spießruten laufen und über die Bank springen, was nicht möglich war, ohne mit dem Kopf an das Rohr zu stoßen. Wir wurden weiters veranlaßt, uns auch gegenseitig zu schlagen und da wir das nicht taten, wurde uns 'gezeigt', wie man das macht. – So ging das mehrere Stunden, bis ich zu einer Vernehmung geholt wurde. Da waren zwei junge Burschen, sie sahen wie Studenten aus, die mich fragten, ob ich Mitglied der 'Liga für Menschenrechte' sei. Als ich das verneinte, fragten sie mich: wie alt bist du? – 24 Jahre – dann leg dich auf den Tisch - und ich bekam 24 Schläge mit der Reitpeitsche. Dann noch einmal: bist du Mitglied der 'Liga für Menschenrechte'? – nein – leg dich noch einmal hin – und ich bekam noch einmal 24 mit der Reitpeitsche." Als Werner Neufliess nach einer Pause wieder in den Keller geholt wurde, wurde ihm mit der Schere ein Hakenkreuz in die Haare geschnitten. "Dann mußte ich ein Klosett, das extra schmutzig gemacht worden war, mit der Hand sauber machen. Einer von den Nazis stand dabei und fragte: Du fürchtest dich wohl nicht vor Scheiße? Meine Antwort: ich bin Gärtner, ich habe in meinem Beruf mehr mit Scheiße zu tun. … Am späten Nachmittag wurde ich dann nochmals vernommen, es wurde ein Protokoll aufgenommen, meine ganze Vergangenheit, ich gab zu, daß ich Mitglied des ATUS und der Gewerkschaft war. Nach Unterschreiben des Protokolls sollte ich entlassen werden. Aber in dem Augenblick kam jener Nazi rein, der mich mit der Reitpeitsche geschlagen hatte und sagte: den können wir doch nicht entlassen, der geht doch gleich ins Ausland und macht dort Greuelpropaganda. Da mir aber ein junger Kommunist, den ich auf der Latrine getroffen hatte zugeflüstert hatte, daß ich nie zugeben soll, daß ich geschlagen worden bin, sonst komme ich nie raus, so sagte ich gleich, daß ich nicht geschlagen worden sei, sondern die Treppe runtergefallen sei. Bei mir gab es nur blutunterlaufene Stellen, der junge Kommunist aber war nackt geprügelt worden und hatte ganz vereiterte Wunden."

 

Es gelang Werner Neufliess, noch mal freizukommen. Unmittelbar nach seiner Entlassung informierte er den geschiedenen Mann seiner Tante über den Verbleib der Familie und fuhr nach Dresden zu seiner Schwester, die dort mit ihrem Mann lebte. Er setzte seine Verwandten über den Stand der Dinge in Kenntnis und bekundete seine Absicht, Deutschland so rasch wie möglich zu verlassen. Neufliess war überzeugt, dass er es in der General Pape-Straße nicht mit "Fachleuten" zu tun gehabt hatte. Solche hätten es nämlich nicht verabsäumt, in der Schule Erkundigungen über ihn einzuziehen. Zweifellos war im Schulbereich bereits ein Dossier über ihn angelegt worden. Am Sonntag fuhr Neufliess wieder nach Berlin zurück, um gleich am nächsten Morgen eine ihm bekannte Polizeiwachstube aufzusuchen. Er hoffte dabei auf die Hilfestellung eines alten Bekannten, eines Sozialdemokraten, der noch nicht gleichgeschaltet war. Der erkannte sogleich, was passiert war: "Wie siehst denn du aus, du musst wohl weg?" Einen Pass hatte Werner Neufliess bereits, er brauchte nur noch den entsprechenden Sichtvermerk. Der Polizeibeamte versprach zu helfen. Die verbleibende Zeit nutzte Neufliess noch, sich von seinem Freundeskreis zu verabschieden. Dienstag früh nahm er seinen Pass mit dem Sichtvermerk in Empfang und kurz nach zehn Uhr saß er bereits im Zug nach Prag. Das Ziel war nicht ohne Bedacht gewählt: "Der Schwager stammte aus der Tschechoslowakei und ich hoffte, dort unterzukommen. In meinem Abteil saß nur eine junge Dänin, die immerfort rauskriegen wollte, was mit mir los ist, warum ich nicht sitzen konnte und immerfort rumlief (ich konnte 14 Tage nur auf dem Bauch liegen) - erst nach der Grenze erzählte ich ihr, was los war und sie bekam einen Weinkrampf." Es war der 23. Mai 1933.

 

In Prag angekommen, meldete sich Neufliess zuerst beim Hilfskomitee für deutsche Flüchtlinge. Um eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten, musste ein ärztliches Attest über die Misshandlungen vorgelegt werden. Sein nächster Schritt war, der "Liga für Menschenrechte" über den Verbleib seiner Familie und auch über das Schicksal des Herrn von Hanstein zu berichten. Dieser war unmittelbar nach der Verhaftung von Werner Neufliess von den Nazi-Schergen abgeholt worden. Neufliess konnte noch in Erfahrung bringen, dass seine Tante mitsamt ihren Kindern nach acht Tagen Haft entlassen worden waren. Auch ihnen war es gelungen, Deutschland rechtzeitig zu verlassen, über Umwege emigrierten sie nach Südamerika. Herr von Hanstein überlebte das NS-Regime nicht. Der Vater von Werner Neufliess und dessen Gattin wurden 1942 von den Nazis deportiert und kamen in ein Vernichtungslager in die Nähe von Lublin. Für den Breslauer Arzt hätte es aufgrund seiner Kriegsauszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg Chancen gegeben, dem Vernichtungslager zu entgehen. Doch er war damals Arzt in einem Altersheim und wollte seine Patienten, die zur Gänze deportiert wurden, nicht verlassen. Der Familie der Schwester von Werner Neufliess, sie hatte einen Neurologen geheiratet, beide hatten gemeinsam einen Sohn, gelang die Flucht nach Frankreich. Dort mittellos geworden, führte sie der Weg in die Sowjetunion. Dort gelang dem Paar zunächst, sich zu etablieren. Die Schwester arbeitete als Buchhalterin und war als solche für sämtliche städtischen Kindergärten zuständig, der Schwager wurde Direktor einer Universitätsklinik. Neufliess bekam noch regelmäßig Post aus der UdSSR, bevor der Kontakt plötzlich abriss. Es war die Zeit der Stalin’schen Paranoia und der Ärzteprozesse. Erst nach dem Krieg erfuhr Neufliess, dass zuerst der Schwager dann die Schwester in den Kerkern des stalinistischen Regimes umgekommen war. Als Einziger der Familie, die in der Sowjetunion Schutz gesucht hatte, überlebte nur der Sohn Peter.

 

Zunächst von Freunden in Prag aufgenommen, übersiedelte Neufliess in der Folge nach Konoged in das Sudetenland, wo er im Sudetengebiet bei Graber eine Stelle als Gärtner annahm. Bei Graber handelte es sich um ein großes Gut, der Verwalter war der Bruder einer Kollegin von Neufliess in der Gartenbauschule. Ein Aufatmen war Werner Neufliess aber nicht vergönnt. Er war erst drei Monate auf dem Gut beschäftigt, als die örtliche Gendarmerie auftauchte und ihm mitteilte, dass er ohne Arbeitserlaubnis keinesfalls länger bleiben könne. So wechselte er – nachdem eine Beschäftigungsbewilligung nicht zu bekommen war – seinen Aufenthaltsort und begann auf dem Gut in Zahorschan bei Leitmeritz tätig zu werden. Es entsprach wohl dem Schicksal eines Flüchtlings, dass nach drei Monaten wieder die Gendarmerie erschien und das Arbeitsverhältnis abrupt beendete. Aber diesmal gab ihm einer der Beamten den Tipp, es doch mit einem Gewerbeschein zu versuchen und sich selbständig zu machen. Der Vater von Werner Neufliess konnte 1934 zu diesem Zweck noch etwas Geld in die CSR überweisen. Der nun selbständig erwerbstätige Gärtner kaufte sich davon ein Haus mit einem halben Hektar Land in Liebeschitz bei Ausche. Es war nur ein kleines Ausgedinge-Gebäude mit zwei Zimmern, einer Küche sowie Stall und Scheune. Rundum waren Obstbäume. Da es relativ abgewohnt war, musste einiges an zusätzlichen Geldmitteln investiert werden, das Neufliess nun als Landschaftsgärtner verdiente. Er bestellte verschiedene Gartenanlagen in Leitmeritz, das mit dem Fahrrad über eine Berg und Tal-Strecke zu erreichen war, oder im näher gelegenen Ausche. Dabei verkaufte er auch selbst geerntetes Gemüse und Obst. Die meisten Aufträge kamen aus Leitmeritz, was bei ganztägiger schwerer körperlicher Arbeit immer auch endlose Kilometer mit dem Fahrrad hin und retour bedeutete. Da Neufliess beim Eigenanbau keine Kunstdünger verwendete und entsprechend seinem lebensreformerischen Denken nur biologisch-dynamische Bodenbewirtschaftung betrieb, hatte er bald auch einen gewissen Absatz in einem Reformgeschäft. Die Bauern im Ort waren allerdings oft feindlich gegenüber dem fremden Gärtner und Landwirt eingestellt: "Sie waren schon von den "Henleins" (Konrad Henlein, rechtsextremer sudetendeutscher Politiker) aufgehetzt, aber allmählich setzte ich mich durch. Einmal hörte ich, wie die Nachbarin sagte: ‚nee, daß das ein Jude ist, der tut ja arbeiten’. Für die dortige Bevölkerung war der Jude der Hopfenhändler, und wenn die Preise gut waren, waren es die braven Juden und wenn sie schlecht waren, dann waren eben die Juden dran Schuld. Da dort auch ein schlesischer Dialekt gesprochen wurde, konnte ich mit den Leuten im Dialekt reden und das half mir viel. Ich fühlte mich bald dort zu Hause, die Gegend war wunderbar, Mittelgebirge, viel Wald und Obst."

 

Unter den schwieriger gewordenen Lebensbedingungen gelang es Werner Neufliess mit viel Herz und Geschick, sich zu bewähren. Bald war er der Sprache seines Asyllandes mächtig. Die Tiefschläge im beruflichen Bereich erschienen ihm nur als Anreize, Anderes, Besseres zu versuchen. Wer ihn jemals gekannt hat, wird davon ausgehen, dass ihm sein freundliches, zuvorkommendes und humorvolles Wesen in mancher Situation geholfen hat. Der starke familiäre Rückhalt in seinen ersten Lebensjahren und seine spätere Einbindung in die Jugendbewegung hatten ihm zweifellos eine gesunde psychische Substanz und damit ein hohes Maß an persönlicher Stabilität verschafft. So verschloss er sich nach seiner Ankunft in der Tschechoslowakei auch in keiner Weise den Freuden des Daseins und blieb so auch dem anderen Geschlecht nicht fern. Bei einem Verwandtenbesuch lernte er schließlich seine spätere Frau Rosa kennen. Sie stammte aus einfachen Verhältnissen und hatte das Schneiderhandwerk gelernt. "Sie hat mit ihrer Schneiderei oft mehr verdient als ich mit meiner Gärtnerei", erinnert sich Werner Neufliess. Im Jahr 1937 wurde geheiratet, die Phase relativer Ruhe währte für das junge Paar jedoch nur kurz. Mit Beginn des Einmarsches der deutschen Truppen in die Tschechoslowakei kam im Oktober 1938 das Sudetengebiet unter die Kontrolle des nationalsozialistischen Deutschland. Von seinem Vater hatte Werner Neufliess zuvor noch den Rat erhalten, die Tschechoslowakei zu verlassen und sich ein neues Exil zu suchen. Doch bis zum Zeitpunkt der Okkupation hatte dieser noch an die Wirksamkeit der Verträge, die die CSR mit Frankreich und der UdSSR abgeschlossen hatte, und damit an einen baldigen Krieg geglaubt. Unter diesen Voraussetzungen hatte sich Neufliess bereits freiwillig zur Armee der Tschechoslowakei gemeldet. Um unter den geänderten Umständen Zeit zum Überlegen zu gewinnen, übersiedelte das Paar kurzfristig nach Mähren, zu den Eltern von Rosa, wo Neufliess in den Gärten von Olmütz temporär Arbeit fand.

 

Im Gefolge der Münchner Konferenz vom 29. September 1938, an der Hitler, Mussolini, der französische Ministerpräsident Daladier und der britische Premierminister Chamberlain teilgenommen hatten, war klar geworden, dass die Tschechoslowakei dem Zugriff der faschistischen Mächte nicht mehr zu entziehen war. Für Werner Neufliess und seine Frau wurde nun die Ausreise unumgänglich. Da die Möglichkeiten des örtlichen Hilfskomitees begrenzt waren, begab sich Neufliess nach Prag, um dort eine Ausreise für ihn und seine Gattin zu erwirken. Bei Bekannten, im Hause der Familie Löwenbach, im dem auch prominente Vertreter der tschechischen Linken verkehrten, lernte er den Korrespondenten der "London Times" und der "New York Times" Ralph Parker kennen. Parker imponierte der rührige Gartenarbeiter (in seinem später in einem Moskauer Verlag erschienenen Buch mit dem Titel "Die Verschwörung gegen den Frieden" berichtete Parker über den Fall Werner Neufliess) und versprach zu helfen: "… da er (Parker) sich damals gerade eine eigene Wohnung auf der Insel Kampa in Prag einrichtete, stellte er mich als seinen Butler an. Früh mußte ich ihm sein Ham und Eggs besorgen, seine Zeitung bringen und aufs Konsulat um seine Post gehen. Für alle Nachrichten war er sehr dankbar und bald hatte er auch Sonderaufträge für mich. … Manchmal mußte ich auch seine Nachrichten telefonisch nach Paris oder London durchgeben, wenn er anderweitig beschäftigt war. Kurz bevor er aus Prag wegging, hatte er versucht, mir ein Visum für gefährdete Personen zu verschaffen, und eines Abends kam er auch zu mir in die Wohnung und sagte mir, daß mein Visum da sei, ich sollte schnell meine Frau nach Prag kommen lassen. … Unmittelbar vor Kriegsausbruch ging er dann nach Jugoslawien weiter und später nach Moskau. Dort muß er wohl Kommunist geworden sein, denn wie ich erfuhr, schrieb er später für den 'Daily Worker'." Neufliess verständigte noch in der Nacht telegraphisch seine Frau von der Ausreisemöglichkeit, doch als sie wenige Stunden später am Britischen Passamt die Visa in Empfang nehmen wollten, waren diese nicht mehr verfügbar. Man hatte jemand anderen mit den Passierscheinen aus der Tschechoslowakei rausgelotst. Parker hatte jedoch, bevor er wegging, das junge Paar noch seinem Nachfolger bei der "New York Times" in Prag, einem Holländer namens Hanepen, und der Kanadierin Miss Wellington, die Leiterin eines Hilfskomitees für Flüchtlinge war, empfohlen. Neufliess begann also, für Hanepen und Wellington mit kleineren Hilfsdiensten tätig zu werden. Ralph Parker half, als er von dem Missgeschick am britischen Passamt erfahren hatte, noch einmal: Er sandte über die Adresse Miss Wellingtons Werner Neufliess und seiner Frau ein Domestik-Permit, aus nur schwer erklärbaren Gründen kam es aber bei den beiden nicht an.

 

Am 15. März 1939 erfolgte der deutsche Einmarsch in jene Gebiete der Tschechoslowakei, die zuvor noch nicht okkupiert worden waren. In den Tagen danach wurde das Reichprotektorat Böhmen-Mähren gebildet. Der nächste Aggressionsakt des NS-Regimes richtete sich gegen Polen, von dem u. a. die "Rückgabe" Danzigs gefordert wurde. In seiner Reichstagsrede am 28. April lehnte Hitler die Aufforderung des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, alle Gewaltaktionen einzustellen, ab und kündigte zugleich das deutsch-britische Flottenabkommen sowie den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt. Nach dem Abschluss des deutsch-sowjetischen Vertrages (Hitler-Stalin-Pakt) am 23. August war die Führung des NS-Staates überzeugt, sich genügend Spielraum für weitere Truppenbewegungen in Europa geschaffen zu haben. Der deutsche Angriff auf Polen am 1. September 1939 war der Auftakt zum Zweiten Weltkrieg. Wenige Tage danach erfolgte die Kriegserklärung der Briten und der Franzosen an NS-Deutschland. Der Zweite Weltkrieg stellte in seiner Dimension alles bisher da gewesene in den Schatten, sowohl was die Zahl der Menschenopfer anbelangt, als auch die Sachschäden. Der Terror der deutschen Führung richtete sich im höchsten Ausmaß auch gegen Teile der eigenen Bevölkerung. Im Laufe der nationalsozialistischen Herrschaft wurden im deutschen Einflussgebiet an die 400 Konzentrationslager für Männer und rund 20 Konzentrationslager für Frauen eingerichtet. Der im Inneren Deutschlands geführte Kampf der Nationalsozialisten richtete sich gegen politische Gegner, gegen "Kriminelle" und "Asoziale". Lager, die mit modernster Technik auf eine industrielle Massenvernichtung hin ausgelegt waren, sollten dazu dienen, den von rassistischen Wahnideen ausgelösten Feldzug gegen Juden, Roma und Sinti in einem gesteigerten Maße zu Ende zu führen. Allein der Ausrottungs-Versuch an den Juden kostete bis 1945 fast sechs Millionen Menschen das Leben.

 

In der Zwischenzeit hatte Werner Neufliess – nachdem ein baldiges Fortkommen aus der CSR nicht erkennbar war – bei der Jüdischen Kultusgemeinde in Prag zusätzlich eine Stelle als Gärtner angenommen. Die Kultusgemeinde verfügte über einige Einrichtungen mit Gärten und Parks, und er übernahm die Aufgabe, die bestehenden Anlagen zu Gemüsegärten umzufunktionieren, da es in der Stadt keine Obst- und Gemüsezuteilungen mehr für jüdische Mitbürger gab. Damit konnten verschiedene Kinderheime und Krankenhäuser mit gesunden Nahrungsmitteln versorgt werden. Bei der Arbeit halfen jüdische Jugendliche, die bei Neufliess zugleich eine Lehre absolvierten: "Das war eine schöne, befriedigende Arbeit und die Jugendlichen arbeiteten mit besonderem Eifer. Leider ist ja ein großer Teil der Jugendlichen später in den KZs umgekommen, aber einige traf ich dann später in Theresienstadt und auch in Israel." Die Frage der Auswanderung stellte sich in dieser Zeit immer drängender. Einen illegalen Grenzübertritt, der damals etwa über Polen noch möglich gewesen wäre, lehnte die Frau von Werner Neufliess ab, und so suchte er weiter nach anderen Rettungswegen. Eine der letzten legalen Ausreisemöglichkeiten, die sich noch ergab, führte nach San Domingo. Die Neufliess’ versuchten sich einer Gruppe von Agrarexperten anzuschließen, die dort eine neue landwirtschaftliche Siedlung aufbauen wollte. Im April 1941 bekamen sie schließlich die ersehnten Visa, doch die Abfahrt verzögert sich, da gerade Wochenende war, und als die Ausreisenden am Brenner anlangten, wurden sie von den italienischen Grenzbeamten aus dem Zug gewiesen. Diese folgten einem kürzlich erlassenen Befehl aus Rom, keine jüdischen Flüchtlinge mehr in das Land rein zu lassen. Das Vorhaben, über Genua und Spanien Europa verlassen zu können, war damit verfehlt. Es folgte ein dreitägiger Aufenthalt in München unter Aufsicht der SS, dann wurden die Ausreisewilligen wieder in das Protektorat zurückgeschickt. Von der aus elf Personen bestehenden Gruppe überlebten acht die Nazizeit nicht.

 

Zurück in Prag, blieb Werner Neufliess nichts anderes übrig, als seine alte Arbeitsstelle wieder anzutreten. Zum Glück war die Wohnung zumindest noch frei gewesen. Doch das Leben in Prag wurde täglich schwerer und bedrohlicher; es blühte das Denunziantentum. "Eines Tages", berichtet Neufliess, "ging ich über die Karlsbrücke, und dort traf ich einen Studenten, der mich aus Auscha in Nordböhmen kannte, und ich hörte, wie er zu seinem Kollegen sagte: 'was, das Schwein lebt noch?' - und nun wußte ich, daß bald was Schlimmes geschehen würde. Drei Tage später kam die Gestapo ins Haus, machte eine Hausdurchsuchung und zwei tschechische Polizisten in Zivil nahmen mich mit ins Palais Petschek, die Zentrale der Gestapo. Daß sie sich unterwegs mit dem Hinweis bei mir entschuldigten, nur einen Befehl auszuführen, davon hatte ich nichts. - Nach langem Warten wurde ich vernommen. … Die Einvernahme dauerte noch viele Stunden, der vernehmende Beamte fragte mich nach allen meinen Bekannten aus dem Sudetengebiet (offenbar alles Angaben von dem Studenten), aber ich wußte genau, was ich zu antworten hatte. Am Schluß wollte er mich dort behalten, über Nacht, er wollte am nächsten Tag die Reinschrift des Protokolls fertigstellen, und ich sollte es unterschreiben. Ich bat ihn aber, daß er mich gehen lassen sollte, da ich doch verantwortlich wäre für die lebenswichtige Arbeit in den Gärten. Er ging auch darauf ein und bestellte mich für den nächsten Tag zur Unterschrift. Beim Vorlesen des Protokolls merkte ich, daß er einige Stellen zu meinen Gunsten abgeschwächt hatte. Ich wurde dann regelmäßig von der Gestapo vorgeladen und mußte jedes Mal nachweisen, was ich für meine Auswanderung tue. Ich zeigte dann immer meinen Paß mit dem Stempel von Innsbruck und die Schiffskarte nach San Domingo für das italienische Schiff und wurde wieder heimgeschickt." Bis zum Juli 1943 – so lange konnte die Gartenbautätigkeit in Prag als unverzichtbare Facharbeit geltend gemacht werden – blieb das Ehepaar Neufliess von der Deportation verschont. Dann kam die Einberufung für den Transport ins Konzentrationslager.

 

Die Deportation nach Theresienstadt

 

Die zur Deportation vorgesehenen Personen befanden sich ab dem Zeitpunkt der Einberufung unter Aufsicht der deutschen SS, wobei sie immer wieder für Hilfsarbeiten in und im Umfeld von Prag herangezogen wurden. In dieser Phase hatte Neufliess noch überlegt, in den Untergrund zu gehen. Doch er gelangte zu dem Ergebnis, dass er mit der Anspruchnahme fremder Hilfe niemanden gefährden wollte. "Nach der Ermordung Heydrichs (der stellvertretende Reichsprotektor von Böhmen und Mähren Reinhard Heydrich war im Juni 1942 bei einem Attentat ums Leben gekommen) wurden Leute, die Juden versteckt hatten, hingerichtet." Es war purer Zufall – wie Werner Neufliess später erfuhr –, dass er und seine Frau von den Sondertransporten, die nach Auschwitz gingen, verschont wurden. Doch auch der Transport nach Theresienstadt blieb ihm als ein schreckliches Erlebnis in Erinnerung: "Wir wurden im Ausstellungspalast in Prag gesammelt und dann mit einem Sonderzug nach Bauschowitz gefahren und von dort auf einem Schleppgleis, das von Juden gebaut worden war, direkt ins Lager. Jeder durfte nur 50 kg Gepäck mithaben und in der sogenannten 'Schleuse' wurde uns schon ein Teil der Sachen gestohlen."

 

In Theresienstadt wurde jeder Neuankömmling zunächst in die "Hundertschaft" übernommen, eine Arbeitsgruppe, die die körperlich schwierigsten Tätigkeiten zu verrichten hatte. Eine Erleichterung für Neufliess ergab sich erst, als er als Fachmann für den Agrarbereich angefordert wurde. Über Theresienstadt ist mittlerweile viel geschrieben worden, Anna Šupíková, die in der Umgebung von Theresienstadt aufwuchs, schildert in ihren Erinnerungen, wie sie als zehn- bis elfjähriges Kind mit einer Mischung aus „Angst und Mitleid … die unendlichen Reihen von Leuten in gestreiften Kleidern (beobachtete), die zu Fuß von Theresienstadt bis in die unterirdische Fabrik Richard gegangen sind.“ Prügel und Übergriffe der deutschen Wachmannschaften standen an der Tagesordnung. Für Werner Neufliess waren die Lebensbedingungen, die das KZ bot, mehr als dramatisch: "In der Stadt waren damals 48.000 Juden, überfüllt, staubig, schlechte Luft und voll mit Ungeziefer. … Ich habe im ersten Jahr, bis ich mich an alles gewöhnt hatte, sehr gehungert. Viel bedrückender aber waren die ständige Nervenanspannung und die Verantwortung (als Fachkraft war er zum "Partieführer" gemacht worden) für die Gruppe und die Arbeit. Wenn der SS-Mann aufs Feld kam, mußte man sich melden: ein Gärtner und so und so viel Menschen bei der und der Arbeit. Dann gab es Fragen und Erklärungen. Wir hatten einen direkten Vorgesetzten, der die Aufsicht über das Fachliche hatte, einen sogenannten Verwalter."

 

Die landwirtschaftlichen Flächen, die Neufliess und die anderen abkommandierten Insassen des KZ zu bestellen hatten, lagen im Umfeld von Theresienstadt. Beim Verlassen des Konzentrationslagers wurden die Häftlinge von tschechischen Polizisten begleitet, wobei sie ihre Legitimationen beim Wachdienst abzugeben hatten. Als so genannter Partieführer verfügte Werner Neufliess über einen Durchlassschein, der etwas mehr Freizügigkeit zuließ, und so – erinnert er sich – "konnte ich auch mal Post rausschaffen oder wieder mit reinbringen". In der Zwischenzeit hatte er auch Anschluss an die Widerstandsbewegung innerhalb von Theresienstadt gefunden. Der Widerstand wurde von Häftlingen des KZ und zum Teil vom tschechischen Wachpersonal getragen: "Es gab auch Gendarmen, die Mitglieder der Untergrundbewegung waren, einer, ein besonders feiner Kerl, hieß bei uns nur Pranta. Seinen richtigen Namen habe ich nie erfahren, er half uns sehr viel." Als ein wesentliches Ziel galt unter den gegebenen Umständen, die Versorgungslage der Häftlinge mit Lebensmitteln zu verbessern. Das im Umland von Theresienstadt produzierte Gemüse und die Feldfrüchte waren ausschließlich für die Besatzungstruppen gedacht – "nicht mal der Abfall war für uns, das ging in den Stall", so Werner Neufliess. In Verbindung mit dem kooperationswilligen Wach- und Begleitpersonal gelang es aber immer wieder, Feldgemüse abzuzweigen und in das KZ zu schmuggeln, um damit Insassen, die gesundheitlich besonders gefährdet waren, zu versorgen. Die weiblichen KZ-Häftlinge hatten die günstigsten Voraussetzungen zum "Schleusen" der Lebensmittel, "sie durften nur von der Frauenpolizei durchsucht werden, den sogenannten Beruschkis. Aber meistens bekamen wir rechtzeitig eine Warnung von den tschechischen Gendarmen. … Die Wach- und Begleitmannschaft hatte immer 24 Stunden Dienst, von 13 bis 13 Uhr den nächsten Tag. So wußten wir immer, ob eine gute Gruppe da ist oder Kollaborateure der Deutschen."

 

Im Rückblick schienen Werner Neufliess die zahlreichen Akte der Solidarität und der Kameradschaft unter den KZ-Häftlingen besonders hervorhebenswert. In Daubschitz wurden auf einer Fläche von rund fünf Hektar Tomaten an Stangen hochgezogen. Dort waren vier Gruppen zur Arbeit eingeteilt: Jugendliche, Frauen unter 24 Jahre, Frauen über 24 Jahre und Männer zum Tragen der schweren Kisten. "Damit sich die Jugendlichen nicht zu sehr anstrengen, hatten wir es so organisiert, daß immer ein Drittel zwischen den hohen Stauden liegt und sich ausruht. Einer der Aufseher mußte das bemerkt haben, schlich sich auf allen Vieren an und als ich mich meldete, stellte er fest, daß er um soundsoviel Leute weniger hätte arbeiten sehen. Als Strafe bekamen wir Arbeitsverlängerung, so daß wir oft zu spät zurückkehrten und um unser Essen kamen. Erst nach Intervention beim Lagerleiter wurde die Strafe aufgehoben. Auch er war ein brutaler Kerl, ein Schlossermeister, und er haßte alle Akademiker. Er brachte es fertig, einen Juden, gegen den er was hatte, vor dem Pferd oder dem Fahrrad um das ganze Ghetto zu jagen. Ich hatte bei ihm die Taktik, nie Angst zu zeigen und auf meinem Wissen als Fachmann zu bestehen und seinen Drohungen nicht nachzugeben."

 

In Theresienstadt traf Neufliess eines Tages den ehemaligen Legationsrat Hoffmann, der ebenfalls im Hause der Familie Löwenbach verkehrt hatte. – Eine fruchtbare Begegnung, wie sich sehr bald herausstellen sollte. Hoffmann hatte innerhalb des Konzentrationslagers einen mit Außenkontakten versehenen Prominentenstatus, und er war auch Mitglied des so genannten Ältestenrates im Ghetto. Als solcher konnte er Neufliess mit für den Widerstand wichtigen Informationen versorgen. Im Gegenzug schmuggelte Neufliess für ihn Nachrichten und Zeitungen ins KZ, wobei es sogar gelang, für Hoffmann eine Verbindung mit dem ehemaligen Außenminister der CSR herzustellen, der in der Nähe von Theresienstadt inhaftiert war. Durch Hoffmann kam Werner Neufliess in Kontakt mit dem Rabbiner Leo Baeck, der sich gleich im ersten Gespräch als ein entfernter Verwandter Neufliess’ entpuppte. "Daraus wurde eine große Freundschaft, ich besuchte ihn öfters und übersetzte ihm die tschechischen Zeitungen und bekam dafür deutsche Zeitungen, die er sich illegal verschaffte. Er arbeitete auf der Post und seine Aufgabe war es, alle Zeitungen zu entfernen, die als Einpackpapier in den Päckchen benutzt worden waren. Er war ein sehr liberaler Mensch und hat uns und anderen viel geholfen." Später, in Israel, sollte die Freundschaft zwischen Werner Neufliess und Leo Baeck ihre Fortsetzung finden. Der prominente KZ-Häftling Hoffmann überlebte die Kriegszeit übrigens nicht. Er wurde noch mit einem der letzten Transporte im Oktober 1944 nach Auschwitz gebracht.

 

In unmittelbarer Nähe zum Ghetto Theresienstadt gab es noch die so genannte Kleine Festung. In diesem Lager waren politische Häftlinge untergebracht. "Juden lebten hier nie länger als drei Wochen", berichtet Werner Neufliess. – "Eine Gruppe dieser Häftlinge arbeitete neben unserem Feld in Drabschitz. Wir konnten sehen, wie sie von den SS-Leuten gequält und auch erschossen wurden. Wir konnten auch mal mit ihnen ein Wort wechseln, das häufigste war ‚Hunger’. So beschlossen wir, ihnen von unserer Ration etwas abzugeben." Auf dem Weg zur Latrine wurde Brot versteckt, das sich die Gefangenen der Kleinen Festung bei Gelegenheit holen konnten. Selbst solche kleinen Hilfeleistungen untereinander waren äußerst gefährlich, da sie streng verboten waren. In der letzten Phase des Bestandes des Ghettos Theresienstadt war es Werner Neufliess aufgrund seines Durchlassscheines möglich, auch Menschen aus dem Lager hinaus zu bringen: "Wir rechneten noch immer mit der Vernichtung und so schmuggelten wir Juden raus, die nichtjüdische Verwandte und dort Chancen hatten, unterzukommen. Wenn eine Wachmannschaft Dienst hatte, die nicht genau zählte, nahmen wir (zu den Außenarbeiten) einen mehr und meldeten einen weniger, der blieb dann draußen. Wir nahmen auch mal nichtjüdische Verwandte mit rein, später sogar Partisanen, aber da waren die (mit dem lagerinternen Widerstand verbundenen) Gendarmen meist informiert."

 

Das Ende des Krieges kündigte sich für die Bewohner des Ghettos mit den ersten amerikanischen Flugzeugen an, die auftauchten, um die Kraftstoffwerke im nahe gelegenen Brüx zu bombardieren. Eine der KZ-eigenen Gärtnereien lag auf der Kreta, einem der Vororte von Theresienstadt. Hier begegnete Neufliess der aus Leitmeritz stammenden Frau Wagner, deren Mann als Antifaschist selbst in einem KZ einsaß. Sie wohnte damals in unmittelbarer Nachbarschaft der Gärtnerei, wo auch ein Reservelazarett untergebracht war. Zunächst hatte sie begonnen, die Häftlinge des nahen KZ mit Essbarem zu versorgen. In den letzten Tagen des Krieges ging sie dazu über, deutsche desertierungswillige Soldaten aus dem Lazarett mit Zivilkleidung zu versorgen. Die Russischen Truppen hatten zu diesem Zeitpunkt bereits Dresden erreicht. Im Gegenzug für die Bereitstellung der Kleidungsstücke bekam Frau Wagner Waffen ausgehändigt, die sogleich in das Lager Theresienstadt eingeschmuggelt wurden. "Wir dachten damals an einen Aufstand", berichtet Werner Neufliess. Es hatte sich herumgesprochen, dass die Einwohnerschaft von Theresienstadt vor dem Rückzug der deutschen Wehrmacht noch von SS-Einheiten vernichtet werden sollte. Dem wollte man mit einem Aufstand der Häftlinge entgegenwirken. Bevor es aber so weit kam, wurde das Lager vom Roten Kreuz in seine Obhut übernommen. Mit dem zu Ende gehen des Krieges trat auch die ganze Tragweite der nationalsozialistischen Verbrechen hervor: "Zu den schlimmsten Ereignissen in Theresienstadt gehörte die Ankunft der "Todestransporte", Ende März – Anfang April 1945. Sie kamen zu Fuß und mit der Bahn aus anderen Lagern, die aufgelöst worden waren. Wir von der Landwirtschaft mußten dann beim Ausladen helfen. Es waren meist offene Waggons, in ihnen standen oder lagen halbnackte Menschen, die gar nicht mehr wie Menschen aussahen. In jedem Waggon gab es Tote und die anderen standen auf ihnen. Wir mußten dann die Toten raustragen und auf einen Wagen laden, der zum Krematorium fuhr. Die Überlebenden kamen in eine Quarantäne, wo sie gebadet und entlaust werden sollten. Aber nach den traurigen Erfahrungen von Auschwitz trauten sie uns nicht, hatten Angst, daß aus den Duschen Gas käme, rissen aus und versteckten sich. Dadurch wurden Läuse und Typhus in unser Lager eingeschleppt und bald starben bis zu 250 Menschen täglich. – Am Anfang nahmen wir auch von unserem Brot für die Ankommenden mit, aber als wir sahen, daß sie sich untereinander um so ein Stückchen Brot erschlugen, wurde das verboten."

 

Theresienstadt wurde von der Roten Armee befreit, die in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 das Ghetto passierte. Dabei gab es noch Tote und Verwundete, da bei der Verfolgung einer SS-Brigade versehentlich auch das Lager unter Beschuss kam. Als Sofortmaßnahme wurde von der örtlichen Führung der Roten Armee die Bekämpfung des Typhus in Angriff genommen. Zu diesem Zweck wurde auch ein Sonderzug mit Ärzten, Krankenschwestern und Medikamenten angefordert. Die Sterblichkeitsrate im Lager ging damit rasch zurück. Ein Teil der Theresienstädter Häftlinge war bereits fünf Tage vor der Befreiung aus dem Ghetto verschwunden, um sich am Aufstand in Prag zu beteiligen. Ein anderer Teil hatte die Aufgabe übernommen, sich nach der Befreiung um den Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen in Theresienstadt zu kümmern. Werner Neufliess blieb mit seiner Frau noch bis Ende November in Theresienstadt, wobei er als verantwortlicher Gärtner vom neu errichteten Ministerium für Sozialfürsorge angestellt und bezahlt wurde. Nach dem Neubezug des Hauses in Liebeschitz trat er eine Stelle als Gärtner auf einem Gut in Zahoschan bei Leitmeritz an. Von der neuen öffentlichen Verwaltung ersucht, als Instruktor für Obstbau in der Gegend tätig zu werden, übernahm Neufliess die Aufgabe, fachbezogene Schulungen durchzuführen und praktische Fertigkeiten wie Baumschnitt oder Schädlingsbekämpfung weiter zu geben. Die Sudetendeutschen waren nach dem in Kraft treten der Beneš-Dekrete bereits ausgesiedelt und an ihre Stelle waren tschechische Landarbeiter getreten, die sich das notwendige Fachwissen erst aneignen mussten. Noch einmal kehrte das Ehepaar Neufliess nach Theresienstadt zurück, da Werner von der Jüdischen Kultusgemeinde in Prag den Auftrag erhalten hatte, den örtlichen Friedhof neu zu gestalten und vor allem die Rekonstruktion des Urnenhaines und der Gräber durchzuführen. "Da ich eine Wohnung außerhalb der Stadt auf der Kreta fand, übernahm ich den Posten. Innerhalb der Stadt hätte ich nicht wohnen können, schon allein der Geruch war nicht zu ertragen. Es war auch so schwer genug, aber es war doch eine Aufgabe, die erledigt werden mußte und schließlich wußte ich am besten dort Bescheid."

 

Den Überlebenden, denen so viele Jahre ihres Lebens geraubt worden waren, lag viel daran, rasch wieder in eine gewisse Normalität zurück zu finden. Für das Ehepaar Neufliess kam nach dem Erlittenen eine Rückkehr in Werners frühere Heimat nicht in Frage. Sollte man in unmittelbarer Nachbarschaft zu den ehemaligen Peinigern leben? Dazu kam: Breslau, dessen Verwaltung am 9. Mai 1945 von der sowjetischen Militärbehörde an Polen übergeben worden war, war in hohem Ausmaß zerstört; 65 bis 80 Prozent der Gebäude lagen in Schutt und Asche. Inzwischen war auch eine Tochter, Daschenka, zur Welt gekommen. Die Nachkriegsbedingungen boten für neue Erdenbürgerinnen und Erdenbürger alles andere als günstige Voraussetzungen, doch auf der Kreta, wo die Familie Neufliess nun Quartier bezogen hatte, waren die Verhältnisse immer noch besser als im dörflichen Bereich. Das Ansuchen bei den staatlichen Stellen um die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft zog sich allerdings in die Länge, und so war es Werner Neufliess nicht möglich, das zum Haus in Liebeschitz gehörende Grundstück zu behalten. Der rund einen halben Hektar umfassende Boden wurde als "deutscher" landwirtschaftlicher Grundbesitz deklariert und damit dem ursprünglichen Eigentümer entzogen. Als Neufliess einige Tage später auf der Bezirksbehörde erklärt wurde, dass alle seine Papiere "verloren" gegangen waren, war das Maß voll, und die Familie entschloss sich zur Auswanderung. Noch eine Schikane folgte, als man der Familie die Ausstellung der Pässe verweigerte – als wertvolle landwirtschaftliche Fachkraft wollte man Werner Neufliess nicht einfach ziehen lassen –, doch da "ich aber eben die Staatsbürgerschaft nicht hatte, konnte man mich nicht halten. So wanderten wir im Juli 1949 nach Israel aus. Ich war kein Zionist, ich wollte nur endlich einmal als Gleichberechtigter unter Menschen leben. Ich wollte natürlich in einen Kibbuz gehen, weil das meinen Idealen entsprach, aber Rosa wollte das auf keinen Fall. … Ich hatte alle meine Freunde im Kibbuz und wollte auch, daß meine Tochter in diesem Sinne erzogen werde, aber da eben Rosa nicht wollte, so gingen wir in ein Kollektiv, wo die Arbeit genauso wie in einem Kibbuz war, aber das Leben individueller gestaltet ist, es war ein Kompromiß … ."

 

Heimkehr nach Zion

 

Die Familie Neufliess zog in den Moschav Shavei Zion (Heimkehrer nach Zion) im westlichen Galiläa, wo der Gartenarbeiter seine Fähigkeiten im landwirtschaftlichen Sektor voll zur Geltung bringen konnte. Die drei Neuankömmlinge im gelobten Land waren Teil einer großen Einwanderungswelle; rund 700.000 Immigranten kamen in den ersten vier Jahren nach der Proklamation des Staates Israel am 14. Mai 1948 als neue Siedler ins Land. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte es noch zäher Verhandlungen und heftiger Auseinandersetzungen mit dem britischen Mandatsherrn bedurft, bis den Überlebenden der Shoa eine eigene neue Heimstätte gesichert war. Grundlage des Staates Israel waren der Beschluss der Vereinten Nationen (Resolution 181/II vom 29. November 1947), eine Aufteilung des ehemaligen britischen Mandatsgebietes Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat bei gleichzeitiger Internationalisierung des Gebietes von Jerusalem vorzunehmen, sowie der Abzug der Briten selbst. Shavei Zion war eine Gründung jüdischer Einwanderer, die nach dem Machtantritt des Nationalsozialismus aus Rexingen, einer südwestlich von Stuttgart gelegenen Ortschaft gekommen waren. In der kleinen Gemeinde Rexingen hatten sich auf der Flucht vor Pogromen in Osteuropa bereits um 1650 Juden niedergelassen, im Jahr 1710 wurde die örtliche Synagoge errichtet. Der Emanzipationsprozess des 19. Jahrhunderts ermöglichte es den Rexinger Juden, Land zu erwerben und es als Bauern zu bewirtschaften oder ein Gewerbe zu ergreifen. Um 1850 war rund die Hälfte der Bevölkerung Rexingens jüdischen Glaubens, danach schrumpfte die Gemeinde, so dass es 1933 nur mehr 262 jüdische Mitbürger gab. Davon wanderten in den 1930er Jahren rund 40 Prozent nach Palästina aus, wo sie sich in der Nähe von Naharija niederließen und Shavei Zion begründeten. In der so genannten Reichskristallnacht vom 8. auf den 9. November 1938 wurde die Rexinger Synagoge in Brand gesetzt, wobei die Inneneinrichtung komplett zerstört wurde. Aus Rexingen wurden während der NS-Zeit 126 Juden deportiert, die Gräuel des Dritten Reiches überlebten davon nur drei.

 

Der Moschav als Genossenschaftsform mit einer mittelständischen und familienbezogenen Ausrichtung – kollektivistisch in der Produktion, individualistisch im Konsum – war im Raum Palästina Anfang der 1920er Jahre entstanden. Diese, das Modell der Kibbuzim ergänzende Siedlungsform basierte auf der Idee des Agrarökonomen Wilkansky. Er hatte 1918 die Errichtung so genannter Moschvei Ovdim vorgeschlagen, ein Gemeinwesen, in dessen Rahmen intensive Landwirtschaft auf einer den Familiengrößen entsprechenden Bodenfläche betrieben werden sollte. Wilkansky trat dafür ein, Grund und Boden nicht in Form von Eigentumsrechten sondern nur mittels Pachtverträgen übertragbar zu machen. Der erste Moschav Ovdim, Nahalal, wurde 1921 gegründet und blieb mit 280 Einwohnern lange Zeit die größte Siedlung dieses Typs. Im Zuge der weiteren Besiedlung Palästinas bildeten sich nach und nach verschiedene Varianten dieser Genossenschaftsform heraus. Der Moschav Shitufi etwa betonte die kollektive Bewirtschaftung wieder stärker und bedeutete damit eine Wiederannäherung an den Prototyp der Kollektivsiedlungen im Raum Palästina, an den Kibbuz.

 

Die Siedlung Shavei Zion, die in den 1930er Jahren als Moschav Shitufi errichtet worden war, wird von dem anarchosyndikalistischen Publizisten Augustin Souchy, der die Kommune 1951 erstmals besuchte, wie folgt beschrieben: "Die zionistische Organisation (Souchy meint die Jewish Agency for Palestine und ihre Unterabteilung, die Rural and Suburban Settlement Company Ltd.) überließ den Gründern (damals rund vierzig Familien) Ödland, das sie selbst kolonisieren konnte. Wie alle Siedler legten sie gemeinsam Wege, Wasserleitungen und Kanäle an und bauten sich, gleichfalls mit gegenseitiger Unterstützung, Wohnbaracken. Bald ging man einen Schritt in gleicher Richtung weiter. Obwohl keine Sozialisten, beschlossen sie aus praktischen Erwägungen, nicht aus ideologischen Motiven, die ihnen anvertrauten 50 Hektar nicht individuell, sondern gemeinsam zu bebauen, wovon sie sich größeren Erfolg versprachen. Doch hielten sie an den alten Familientraditionen fest. Keine Großküche, kein Speisesaal für alle. Die Hausfrauen sollten zuhause kochen, Eltern und Kinder am Familientisch essen, alle unter dem gleichen Dach schlafen. Zur Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Gütern eröffnete man einen genossenschaftlichen Konsumladen (Tsarchania). Jeder fühlt sich als Schicksalsgenosse, es sollte keine Bevorzugten und keine Benachteiligten geben, der Bedarf aller gleichmäßig gedeckt werden. Das wurde erreicht durch die Einführung eines Einheitslohnes ohne Unterschied von Beruf, Alter, oder Geschlecht. Organisationssekretär oder Viehbetreuer, Traktorenführer oder Lehrerin, Mann oder Frau, haben das gleiche Einkommen."

 

Die Wirtschaftsverfassung des Moschav Shitufi sieht vor, dass die Betreuung hauseigener Tiere und die Bearbeitung der Obst- und Gemüsegärten von den Einzelbauern mitsamt ihren Familienangehörigen erledigt werden. Kleine landwirtschaftliche Arbeitsmittel befinden sich im Privateigentum. Die Bestellung der großen Felder aber, dort wo Traktoren und anderes großes Gerät erforderlich sind, wird auf genossenschaftlicher Basis vollzogen. Alle Siedlerinnen und Siedler gehören den einkaufs-, verkaufs- und arbeitsgenossenschaftlichen Bereichen der Kommune an. Sämtliche Verkaufsaktionen werden damit über die Kanäle des Moschav getätigt. Das soll ganz bestimmte Vorteile sicherstellen: Abnahmegarantie für alle Erzeugnisse durch überregionale Kooperation sowie Bereitstellung von Lagerhäusern und Transportmitteln. Der gemeinsame Bezug von Futter und Produktionsmitteln, Saatgut und ähnlichem bietet, betrachtet man die Einsparmöglichkeiten etwa durch Mengenrabatte, optimierte Lagerhaltung usw., erhebliche Wirtschaftlichkeitsgewinne.

 

Die Siedlungsgemeinschaften im Raum Palästina waren von Beginn an mit einem weit reichenden Selbstbestimmungsrecht ausgestattet. Als oberste Entscheidungsinstanz des Moschavs gilt die ordentliche Generalversammlung aller Kommunemitglieder. In dieser Generalversammlung wird über grundsätzliche Fragen – zum Beispiel über die Errichtung eines neuen Wirtschaftszweiges, Aufnahme neuer Mitglieder in die Genossenschaft – abgestimmt. Im Rahmen der Generalversammlung wird auch über die Zusammensetzung des Exekutivkomitees oder diverser Fachkommissionen (für die Bereiche Wirtschaft, Kultur, Gesundheitswesen, Schulbildung etc.) entschieden. Die Amtsdauer ist für die Kommissionen und das Exekutivkomitee jeweils für ein Jahr vorgesehen. Letzteres erfüllt im Wesentlichen die Aufgaben eines Gemeinderates, es entscheidet aber auch über die Zusammensetzung des Sekretariats, dem die Funktion des obersten "Managements" zukommt. Mittelpunkt des Moschavs ist das Gemeinschaftshaus, in welchem regelmäßig kulturelle Veranstaltungen stattfinden. Der Moschav sorgt zudem für Einrichtungen wie Kindergarten und Schule, aber auch für Krankenstationen und eine entsprechende Altersversorgung.

 

Aus den so genannten Rexinger Richtlinien vom 3./4. Juli 1937, die zur Grundlage des Statuts der Genossenschaft Shavei Zion wurden, geht hervor, dass mit der Errichtung der Siedlung ein Sonderweg zwischen dem mittelständischen Moschav Ovdim und dem sozialistischen Kibbuz angestrebt wurde. Unabhängig von Shavei Zion entschieden sich etwa zur gleichen Zeit auch die beiden Kommunen Moledeth und Kfar Chitim für den neuen Siedlungstyp des Moschav Shitufi. Die Errichtung von Shavei Zion vollzog sich jedoch in keiner Weise unter günstigen Bedingungen. Die britische Mandatsregierung hatte bereits begonnen, die Einwanderung in den Raum Palästina einzuschränken (zwischen 1932 und 1938 konnten sich noch etwas mehr als 250.000 Menschen in Palästina in Sicherheit bringen), nach Naharia war Shavei Zion erst die zweite jüdischen Siedlung im westlichen Galiläa, die zudem mit feindlichen Aktionen von Seiten der arabischen Bevölkerung zu rechnen hatte. Die massenhafte Vertreibung der mit Konzentrationslager und Vernichtung bedrohten Juden vom europäischen Kontinent ließ die ortsansässigen Palästinenser – die um die Aufrechterhaltung ihrer Lebensgrundlagen bangten und mit Aggression reagierten – mittelfristig zu "Sekundäropfern" eines ungezügelten Antisemitismus werden, und produzierte damit einen Konflikt, der bis heute nicht gelöst ist. Die Anfänge von Shavei Zion waren in jeder Hinsicht mehr als bescheiden. Nach dem Bau der ersten Siedlungshäuser und einer Zufahrtsstrasse begannen die Siedler mit Gemüseanbau und Viehzucht, später kamen Viehhaltung, Feld-, Futter- und Weinbau dazu. Baumwolle und Zuckerrüben ergänzten bald das Sortiment landwirtschaftlicher Produkte. Anfang der 1940er Jahre entstanden in unmittelbarer Nähe zu dem Moshav die ersten Häuser einer Strandsiedlung, die rund eine Dekade später mit Shavei Zion zu einer größeren Gemeinde zusammengeschlossen wurde. Nach dem Teilungsbeschluss der UNO vom 29. November 1947 wurde festgelegt, dass das westliche Galiläa Bestandteil eines arabischen Palästina werden sollte, wobei das Gebiet dem sich herausbildenden Staat Israel verloren gegangen wäre. Der Angriff arabischer Staaten auf die Israeli am 14./15. Mai 1948 führte zum ersten Unabhängigkeitskrieg, in dem das neu entstandene Israel das westliche Galiläa behauptete.

 

In der Folge begann sich Shavei Zion zu verändern. Einige Mitglieder der Gründergeneration waren zwischenzeitlich aus dem Moschav ausgetreten, Zuwanderer aus anderen Ländern führten zu einer bunter werdenden Einwohnerstruktur. Nach der Vergrößerung der Bodenfläche um rund das vierfache wuchs die Zahl der Siedlerfamilien auf über achtzig an. Konfliktpotentiale innerhalb der Gemeinschaft ergaben sich aus den unterschiedlichen Kapital-Einlagen, die die Genossenschafter im Laufe der Zeit eingebracht hatten. Vor allem in Anbetracht des Inflationsprozesses wurde die Sorge über die Wertbeständigkeit der geleisteten Einlagen laut. Erst mit der Reformierung der Statuten von Shavei Zion, mit der nun alle kleineren Einlagen verzinsbar gemacht und die großen Einlagen mit dem Bauwert der Siedlungshäuser gesichert wurden, war eine allgemein zufrieden stellende Lösung gefunden. In den ersten Jahrzehnten nach der Gründung widmeten sich die Mitglieder der Genossenschaft mit voller Energie aber auch mit zunehmendem Erfolg dem Aufbau eines modern ausgestatteten Landwirtschaftsbetriebes. Zusätzliche Einnahmen für die Siedlung ergaben sich nach der Eröffnung eines Hotels aus dem Tourismus. 1983 wurde mit der Errichtung einer Kunststofffabrik ein weiterer Betriebszweig hinzugewonnen, der nur fünf Jahre später bereits 60 Prozent des Gesamtumsatzes für die Kommune erwirtschaftete, wobei zu diesem Zeitpunkt auf den landwirtschaftlichen Sektor noch 30, auf den Tourismusbereich 10 Prozent entfielen.

 

Wie viele artähnliche Gemeinschaftssiedlungen in Israel befindet sich auch die Genossenschaft Shavei Zion heute im Prozess eines anhaltenden Strukturwandels. Die Bedeutung der Landwirtschaft geht drastisch zurück, wie Werner Neufliess in verschiedenen Gesprächen mit dem Autor im Jahr 1985 betonte, stellten damals die Abwanderung der jungen Kräfte in den urbanen Raum und das Phänomen einer beginnenden Demokratiemüdigkeit die größten Probleme dar. Nur mehr 30 Prozent der Gemeindemitglieder etwa waren zu diesem Zeitpunkt noch bereit, regelmäßig an den Generalversammlungen des Moschav teilzunehmen. Etwas mehr als zehn Jahre später hatte sich das Bild noch mehr verändert. In einem Brief an den Verfasser vom Dezember 1996 berichtet Werner Neufliess von weiteren "großen Problemen", die sich aufgetan hatten: "Die Landwirtschaft sieht böse aus, zu wenig Wasser und zu teuer. Bis jetzt war das Hotel sehr gut, … aber bei der jetzigen … Kriegsgefahr geht die Touristik stark zurück. Sehr gut geht die Plastikfabrik. Viele Mitglieder gehen jetzt auf Außenarbeit. Wir haben Boden abgeben müssen nach Naharia, dort wurde verstärkt gebaut und wir haben das Geld dafür in die Fabrik und das Hotel gesteckt." Als ein zentrales Problem erweist sich auch der vorhandene Kapitalmangel (Werner Neufliess: „Die Fabrik geht einigermaßen, es müsste aber viel Geld in neue Maschinen gesteckt werden, und das ist nicht da.“ Brief vom 16. Februar 1998), der seit den 1980er Jahren den Einfluss des Bankkapitals im Bereich der Siedlungsprojekte gestärkt hat. Der Strukturwandel und die anhaltenden Privatisierungstendenzen – die Siedlungshäuser in Shavei Zion wurden bereits 2002 privatisiert – könnten in nicht allzu ferner Zukunft den Bestand des gesamten Genossenschaftsbetriebes gefährden. Im Jahr 2003 hat die Kommune Shavei Zion zudem im Zuge einer Verwaltungsreform ihre bisherige Selbständigkeit verloren, und sie wird seither zusammen mit 31 anderen Siedlungen vom Bezirk Mateh Asher verwaltet. Die aktuelle Raumplanung sieht vor, dass bis 2020 die Zahl der Einwohner von derzeit rund 900 auf 2300 anwachsen soll. – Ein Szenario, das auf Grund der nach wie vor gegebenen starken Zuwanderung nach Israel realistisch erscheint.

 

Es scheint also absehbar zu sein, wann Shavei Zion in seiner ursprünglichen Gestalt verschwunden sein wird. Auskunft geben wird dann nur noch ein Archiv, das in Shavei Zion seit einigen Jahren mit viel Mühe und liebevoller Sorgfalt aufgebaut wird. Es beinhaltet unter anderem unternehmensbezogene Berichte, Betriebsplanungen und Bilanzen, Angaben zum Bodenerwerb und zur -entwicklung, zahlreiche Fotos, Dias, Filme und Videos (darunter ein von der Shoa-Spielberg-Gruppe aufgezeichnetes Gespräch mit Werner Neufliess), Angaben zur Bautätigkeit und zum Gesundheitswesen sowie Personenakten. Da die Gründer von Shavei Zion erst nach und nach die Landessprache Iwrit erlernten, sind die Sitzungsprotokolle zwischen 1939 und 1955 in Deutsch gehalten. Die von 1955 bis 1957 angefertigten Protokolle sind zweisprachig, ab 1957 nur noch auf Iwrit ausgeführt.

 

 

Werner Neufliess (1908 – 2004)

 

Das Ehepaar Werner und Rosa Neufliess übersiedelte 1994 in das Altenheim, das „Haus der Gründer“, von Shavei Zion. Im Februar 1996 musste Rosa ins Krankenhaus, wo sie nach kurzem Leiden aus dem Leben schied. Werner Neufliess überlebte seine Frau noch um acht Jahre. Obwohl ihm die Beschwernisse des Alters schon zu schaffen machten, pflegte er mit Hingabe seine weit reichenden persönlichen Kontakte. Werner Neufliess verstarb drei Monate vor seinem 96. Geburtstag, im Mai 2004. Wer das Ehepaar Neufliess kannte, wird die beiden als ruhige, warmherzige und gastfreundliche Menschen in Erinnerung behalten. Die große Lebens- und Leidenserfahrung hat Werner Neufliess zweifellos mit einem skeptischen Blick für die Zukunft ausgestattet. Was ihn aber besonders auszeichnete, war sein herzliches, humorvolles Wesen sowie die Vielzahl seiner Interessensgebiete. Fanatismus – egal von welcher Seite er kam – war ihm ein Gräuel. Den religiösen Fundamentalismus erkannte er, wie er einmal in einem seiner Briefe schrieb, als „große Gefahr“. Was bei ihm zählte, war, wie es Martin Buber einmal genannt hat, „Das dialogische Prinzip“. Bei allem, was er erlebt hatte, war er ein Menschenfreund geblieben, und in politischer Hinsicht der Sache des Sozialismus zugetan. Werner Neufliess war ein Gärtner nicht nur von Beruf aus, wie es in einem der Nachrufe auf ihn so schön formuliert wird, er war ein Gärtner „auch in seiner Seele“.

 

Persönliche Nachbemerkung: Bei unserem ersten gemeinsamen Rundgang in Shavei Zion zeigte mir Werner Neufliess unter anderem eine archäologische Ausgrabungsstätte, die übrig gebliebenen Mauerreste eines alten Gebäudes. Dabei wies er mich darauf hin, dass die Handwerker seinerzeit bei der Gestaltung des Fundamentes und des Bodens bewusst mit einer der Bodenfliesen eine Unregelmäßigkeit in das gegebene Muster hineingebracht hatten. Ein perfektes Werk zu liefern, sollte damals nur den Gottheiten vorbehalten sein. Dass auch der Mensch ein absolut unfehlbares Werk hervorbringen könne, wurde als Anmaßung betrachtet. Wann immer mich heute ein innerer Perfektionsdrang zu übermannen beginnt, fällt mir Werner Neufliess’ schöne und erhellende Erklärung der Bodenbeschaffenheit in den Überresten des alten Bauwerkes in Shavei Zion ein.

 

 

Grundlage des vorliegenden Textes sind die von Werner Neufliess 1974 verfassten Lebenserinnerungen. Das ursprüngliche  Manuskript wurde 1997 von seinem Verfasser nochmals durchgesehen und gekürzt. Kleinere orthographische Anpassungen wurden von Gerhard Senft vorgenommen.

 

Weiterführende Literatur:

 

Adler, H. G.: Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Göttingen 2005

 

Bracher, Karl-Dietrich: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln 2003

 

Blüher, Hans: Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung, Drei Bände, Prien am Chiemsee 1922

 

Buber-Neumann, Margarete: Von Potsdam nach Moskau. Stationen eines Irrweges, München 2002

 

Chomsky, Noam: Offene Wunde Nahost. Israel, die Palästinenser und die US-Politik, Hamburg 2002

 

Conze, Werner; Hentschel, Volker (Hg.): Ploetz. Deutsche Geschichte, Epochen und Daten, Freiburg – Würzbug 1996

 

Goytisolo, Juan: Weder Krieg noch Frieden. Palästina und Israel heute, Frankfurt am Main 1995

 

Haug, Wolfgang: „Eine Flamme erlischt“. Die Freie Arbeiter Union Deutschlands (Anarchosyndikalisten) von 1932 bis 1937. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 5. Jg., H. 3, September 1989

 

Kershaw, Ian: Hitler 1889-1945, Drei Bände, Stuttgart 2002

 

Kohlmann, Carsten: Das Archiv der Gemeinde Shavei Zion in Israel – Archivgeschichte, Beständestruktur, Ausstellungsplanung, Institut für Archivwissenschaft, Marburg an der Lahn 2005

 

Mayer, Egon: Der Moschav, Basel 1967

 

Mommsen, Hans: Von Weimar nach Auschwitz. Zur Geschichte Deutschlands in der Weltkriegsepoche, München 2001

 

Pauker, Arnold: Deutsche Juden im Kampf um Recht und Freiheit. Zu Abwehr, Selbstbehauptung und Widerstand der deutschen Juden seit dem 19. Jahrhundert, Berlin 2004

 

Petzold, Günther; Petzold, Leslie: Shavei Zion. Blüte in Israel aus schwäbischer Wurzel, Gerlingen 1993

 

Seelmann-Eggebrecht, Rolf: Schavei Zion. Studie eines gemäßigten Kollektivs – seiner Geschichte, seiner Bewährung, seiner Chancen, Führt - Erlangen 1970

 

Senft, Gerhard: Aufbruch in das Gelobte Land. Die Ursprünge der Kibbutz-Wirtschaft, Wien 1997

 

Souchy, Augustin: Reisen durch die Kibbuzim, Reutlingen 1984

 

Steinhauser, Mary (Hg.): Totenbuch Theresienstadt. Damit sie nicht vergessen werden, Wien 1987

 

Šupíková, Anna: Auch ich habe plötzlich gespürt, daß ich anders bin. In: Losová, Jana (Hg.): Kindheit in Böhmen und Mähren, Wien - Köln – Weimar 1996

 

 

Quelle: Erkennnis - Zeitschrift der Pierre Ramus Gesellschaft Wien, Nr. 14, 2006