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Joschka Fischer

"Halten wir fest: Die 68er sind an allem schuld“

Joschka Fischer, 59, war bis 2005 sieben Jahre lang Außenminister einer rot-grünen Koalition. Vom Straßenkämpfer zum Staatsmann: Kein Politiker war so geschmäht und bewundert. Fischer ist zum fünften Mal verheiratet und lebt inzwischen in Berlin. Kürzlich erschien sein Buch „Die rot-grünen Jahre“ (Kiwi). 1968 beschloss Joschka Fischer, sich selbst und die Welt zu verändern. Von revolutionärem Kampf, fatalen Irrtümern und dem Glück in Grunewald.

Herr Fischer, hier in Ihrer Villa in Grunewald gibt es ein Büro, die Joschka-Fischer-Consulting. Was für ein Problem müssten wir haben, damit wir gut beraten werden?

Ich mache keine Werbung für mich, wir machen ein Interview.

Und wie viel Geld sollten wir für eine vernünftige Beratung mitbringen?

Rechenschaft schuldig bin ich nur noch dem Finanzamt. Schauen Sie, das ist der große Gewinn meiner letzten Transformation.

Sie sind als Joseph geboren, als Joschka berühmt geworden und …

… Falsch! So geht es schon los.

Ich bin als Joseph Fischer in eine Ungarn-Deutschen-Familie geboren worden, und jeder Joseph in Ungarn, der als Joseph geboren und getauft wird, wird von seinem ersten Augenblick an Joschka gerufen.

Mit langem oooo.

Und mit geschlossenem a. Mein Vater hieß genauso.

In Schwaben, wo Sie Ihre Kindheit verbracht haben, konnte man das aber nicht richtig aussprechen.

Stimmt. Auf der Straße wurde ich vom ersten Augenblick an der Joschka, kurzes o, offenes a. Meine Eltern haben mich so gerufen, meine Schwestern haben mich so gerufen. Das ist also weder ein Künstlername noch ein „nom de guerre“ aus 68. Trotzdem schreibt die „FAZ“ immer Joseph. Schon erstaunlich, dass ausgerechnet diese Zeitung, die ansonsten immer so vertriebenenfreundliche Traditionspflege betreibt, in meinem Fall gegen alle Grundsätze verstößt und, ironisch gesagt, mein ungarn-deutsches Geburtsrecht brutalst mit Füßen tritt.

Sie schreiben in Ihrem Buch von „68er-Veteranen“. Hippie-Mädchen, Langhaarige, Lederjackenträger, wilde Zeiten waren das. Sie lebten damals im Schwäbischen. Was hat man dort davon gemerkt?

Sie haben so Ihre Vorstellungen! Um 68 heute zu verstehen, muss man vor allem in Erinnerung rufen, wogegen sich 68 gerichtet hat. Man muss wissen, wie Deutschland damals war. Als ich zum ersten Mal nach London kam, im Frühjahr 1966, da sah ich, wie die Leute auf dem Rasen in den öffentlichen Parks lagen. Ich war schockiert! In Stuttgart wäre das undenkbar gewesen.

Ihr bürgerlicher Ordnungssinn war durcheinander.

Wenn Sie damals im Stuttgarter Schlossgarten auch nur den großen Zeh auf den Rasen gesetzt haben, kam innerhalb von Minuten garantiert einer, der Sie angeherrscht hat. „Könned Se net sähe, des isch verbode!“ Es herrschte eine Stickigkeit, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Liberalere Eltern standen, wenn sie ihre Kinder mit Freundinnen oder Freunden zu Hause übernachten ließen, mit einem Bein im Gefängnis. Das galt als Kuppelei und war strafbar!

Ihre Politisierung begann auf der Schlossparkwiese in Stuttgart?

Politisch war für mich das Jahr 68 ein sehr wichtiges, aber eigentlich war für mich der Wendepunkt der 2. Juni 67. Der Schock über die Schüsse auf Benno Ohnesorg ging tief. Das war der entscheidende Wendepunkt, so kamen wir zum Stuttgarter SDS. Damals dachten wir: Jetzt kommt das alte Deutschland wieder. Es war die Zeit des großen Auschwitz-Prozesses, des Bewusstwerdens über die eigene deutsche Geschichte. Im Rückblick würde ich sagen, es war die entscheidende Phase, in der die historische Identität der westdeutschen Nachkriegsdemokratie eine sehr positive Entwicklung genommen hat.

Inwiefern?

Deutschland hat sich gegen große Widerstände und unter großen Schmerzen zu seinen historischen Verbrechen bekannt. Das war eine unglaubliche Leistung, die dieses Land damit erbracht hat. Es war eine der ganz entscheidenden Weichenstellungen, die unser eigenes Selbstverständnis und auch die Sicht auf unser Land von außen bis heute prägen. Als Außenminister habe ich erlebt, dass wir das gar nicht hoch genug einschätzen können.

Sind Sie darauf angesprochen worden?

Ja, sehr oft, zum Beispiel in China. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird weltweit gelobt, so schmerzhaft sie war. Andere Länder haben das nicht gemacht. Ganz entscheidend waren dabei Persönlichkeiten, die als Gründerväter der deutschen Demokratie leider in unserem Bewusstsein nicht mehr wirklich vorhanden sind. Aber noch mal zum kulturellen Mief jener Zeit: Können Sie sich noch an die Aktion „Saubere Leinwand“ erinnern? Die stammt nicht aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, nein, die lief zur Zeit der großen Koalition, Mitte der 60er.

Da wurden auf den Schaukästen der Kinos durch Sittenwächter die nackten Brüste der Schauspielerinnen überklebt.

Heute würde man das eine fundamentalistische Aktion nennen. Sexualaufklärung in der Schule kannte unsereins nicht, eher die Schocktherapie im Religionsunterricht.

Wie sah die aus?

Heftig.

Für einen Katholiken wie Sie.

Ja. Da wurden einem sämtliche Vorurteile über die verderblichen Folgen fleischlichen Tuns kräftig eingeimpft. Das fiel bei mir ja alles auf einen kulturellen Erziehungshintergrund, wo das besonders wirkte. Heute würde man darüber lachen.

Sie sind nach London gefahren, um dieser Enge zu entfliehen?

Auch, ja. Die Entwicklung der Popkultur, die Beatles, die Rolling Stones, Bob Dylan, spielten für uns alle eine große Rolle, auch für mich. Es entstand ein anderes Lebensgefühl. Dann kam politisch die große Enttäuschung durch die USA hinzu, wegen Vietnam. Selbst im beschaulichen Südwestdeutschland wirkte das traumatisierend. Amerika, das waren bis dahin ja immer die Guten. Unsere Vätergeneration – das war der autoritäre Ton, die Marschmusik. Wenn du das dann verglichen hast mit Glenn Miller, den coolen amerikanischen Soldaten in den Kasernen Süddeutschlands, AFN, dann lagen da Welten dazwischen.

Haben Sie noch Platten von damals?

Sehr viele. Ich höre sie aber nicht mehr. Ich wollte sie neulich weggeben, brachte es aber nicht übers Herz. Ich habe noch viele alte Stones-Platten, Pink Floyd, die Doors und natürlich die ganzen Dylan-Platten. Die mit „Blowin’ in the Wind“ drauf war die erste Platte, die ich mir gekauft habe.

Gekauft oder genommen, ohne zu bezahlen?

Gekauft. „The free wheelin’ Bob Dylan“. Die Musik hat damals eine viel größere Rolle gespielt als heute. Wir hörten Radio Luxemburg, Kurzwelle. Das rauschte heran, rauschte weg. Man war heilfroh, dass es den Popshop im SWF gab, der aktuelle Musik für Leute wie mich spielte.

Die Rebellion ging eher über den Bauch als über den Kopf?

Als ich Bob Dylan zum ersten Mal gehört habe, wuchs in mir dieses Gefühl eines weiten Landes, dieses: Lass das alles hinter dir! Ich spürte die ganze Sehnsucht, auch die Tragik in seiner Musik. Die Texte hast du ja damals gar nicht wirklich verstanden, das war viel mehr die Musik. Ich bin zwar kein besonders musikalischer Mensch, das alles aber hat etwas in mir zum Klingen gebracht, etwas, das einfach nicht mehr kompatibel war mit Öffingen oder Stuttgart.

Sie gelten als manischer Leser. Was war ihre Erweckungsliteratur 68?

Marcuse, eindeutig.

Für den theoretischen Überbau. Keine Romane?

Nein, kein Kerouac, kein Hermann Hesse. Wenn Sie die emotionale Ebene meinen, dann war es mehr die Musik.

Was hat Sie bei Herbert Marcuse gepackt?

Das war der Widerstand des Einzelnen gegen eine Staatsgewalt, die gegen ihre eigenen Grundsätze handelte und sich deswegen delegitimierte. Die Kritik der repressiven Toleranz, das hat die entscheidende Rolle gespielt. Sie fragen sich jetzt bestimmt, wie wird ein Junge, der in einem katholischen Heimatvertriebenen-CDU-Milieu aufwächst, zum Linksradikalen? Gute Frage. Eigentlich hätte ich vom Milieu her eher in die Junge Union gepasst. So kam es aber nicht.

Sie haben Schule und Lehre abgebrochen, das muss in einem katholischen Elternhaus der größte Affront gewesen sein.

Richtig, das war die größte Katastrophe überhaupt. Wenn Sie aus dem Facharbeitermilieu kommen, mein Vater war Metzger, dann haben Sie immer die Angst vor dem Absturz ins damals sogenannte Asozialenmilieu gespürt. Da gab es im Dorf ein paar Familien, die wurden immer als abschreckendes Beispiel hingestellt, die Männer lebten zwischen Sozialhilfe und Gefängnis. Viel Alkohol, nur dass es damals noch kein Fernsehen gab.

Haben Sie die Bücher von damals noch?

Viele.

Der Stuttgarter Buchhändler Wendelin Niedlich sagt, jetzt wäre es mal an der Zeit, dass Sie die auch bezahlen. Sie haben die damals einfach mitgehen lassen. Ihr weiter Mantel mit den vielen Taschen war legendär.

Wir schreiben heute nicht meine Autobiografie über diese Zeit.

Manchmal ist es ganz reizvoll, in Bücher aus der vergangenen Zeit zu gucken. Man sieht, was man angestrichen hat, kann die eigenen Kommentare lesen.

Ja, ich habe damals fleißig angestrichen. Das „Kapital“ natürlich oder Kant oder die „Phänomenologie des Geistes“ von Hegel. Da würden Sie dann die Anmerkungen und Unterstreichungen eines Lernenden sehen, der verzweifelt versucht hat, einen Text zu durchdringen, der aber für mich nur schwer durchdringbar war.

Hegel war harter Stoff?

Ich habe 80 Prozent der „Phänomenologie“ gelesen und festgestellt: Du hast nichts verstanden. Ich habe mich wirklich durchgequält, und dann habe ich das Buch zugeklappt und vorn angefangen. Es war ein Versuch, die Welt zu verstehen.

1968 gilt als Zeit der sexuellen Revolution. Sie sind zum Heiraten ein Jahr zuvor nach Gretna Green gefahren, nach Schottland. Sie wollten doch ins bürgerliche Lager gehören.

Völliger Blödsinn.

Eine richtige Hochzeit, das muss doch Ihren Eltern gefallen haben.

Totaler Quatsch. Wenn die das so gesehen hätten, wäre ich damals ja heilfroh gewesen. Es wurde vielmehr als Akt der Rebellion gesehen. Ich war 20 und hätte in Deutschland noch gar nicht heiraten dürfen.

68 war auch das Jahr, wo Sie mal eine Nacht in Stammheim einsaßen.

Nicht eine, drei Nächte.

Warum?

Wegen ungebührlichen Betragens vor Gericht. Ich bin nicht aufgestanden.

Was wurde Ihnen vorgeworfen?

Bei einer Demonstration gegen den südvietnamesischen Botschafter, der zu Besuch in Stuttgart war, haben wir uns, einige wenige Leute, im Hof des neuen Schlosses aus Protest hingesetzt, ohne zu wissen, dass es so was wie eine Bannmeile gab. Wir waren uns wirklich keiner Schuld bewusst, schon gar nicht, damit grundsätzlich die Staatsgewalt angegriffen zu haben. Landfriedensbruch war der Vorwurf.

In der linken Szene war es der Ritterschlag, im Knast gesessen zu haben.

Nee, nee.

Was war das für eine Erfahrung?

Ja, Gott, Spaß hat es nicht gemacht.

Und für Ihre Eltern war es ein Fiasko?

Damals schon nicht mehr. Meine Familie traf eine große persönliche Tragödie im November 1966, weil da mein Vater und meine zweitälteste Schwester innerhalb von zehn Tagen gestorben sind. Damit war unsere Familie praktisch nicht mehr existent. Aber mein Verhältnis zu meinem Vater war in den letzten Jahren schlecht gewesen. Wir haben kaum noch miteinander gesprochen. Das Verhältnis zu meiner Mutter blieb immer intakt, aber wir lebten in zwei völlig unterschiedlichen Welten.

Sie sind dann 1968 nach Frankfurt gegangen. Es war der Ausflug in die politische Theorie, aber auch in den politischen Kampf.

Ausflug kann man das wohl kaum nennen, es war der Einstieg.

Und das Etikett war: Sponti, abgeleitet von Spontaneität. Während die kommunistischen Gruppen von der Revolution des Proletariats träumten, forderten Leute wie Sie „freie Sicht aufs Mittelmeer“, gründeten Kinderläden, lebten in Wohngemeinschaften.

Das entwickelte sich alles sehr viel später, zuerst kam der SDS. Zudem habe ich niemals „freie Sicht aufs Mittelmeer“ gefordert, sondern bin dort lieber hingefahren.

Wenn Sie mal eine Kurzdefinition für Sponti abgeben könnten.

Das war eine undogmatische, Politik und Alltag im Hier und Jetzt verändern wollende, linksradikale Bewegung. Eine Revolution, um wirkliche Freiheit und Gleichheit durchzusetzen, war der Traum. Eine Verbindung von radikaler Politik und neuer Lebensweise – gemeinsames Wohnen, Arbeiten, Leben.

Ihre kleine Tochter denkt bestimmt, „Sponti“ sei ein Spülschwamm. Und wenn sie Sie heute nach den Zielen von damals fragt?

Dann sage ich ihr: eine freie Gesellschaft ohne Herrschaft zu schaffen, in der der Einzelne die Begrenzungen von Herkunft, Klasse, Religion, Eigentum und all seinen Macken überwindet.

Das klingt fast nach Französischer Revolution.

Ja. Unser Gründervater war ja auch Dany Cohn- Bendit. Aber wenn Sie das versuchen im Alltag zu realisieren, dann wissen Sie, wie schwer das ist mit der Revolution, glauben Sie mir.

Revolution allein war nicht drin. Man musste dazu auch den einen oder anderen Arbeiter mit auf die Seite ziehen. Sie sind zu Opel gegangen, ans Band. Sie haben mal gesagt, die Zeit war lehrreich. Inwiefern?

Ich hatte, anders als diejenigen, die aus der Mittelschicht kamen, mit der Bandarbeit ein Riesenproblem. Die Urangst, die mir zu Hause eingeimpft worden war, kam da wieder hoch: Wenn es gut läuft, endest du am Band, wenn es schlecht läuft, in der Gosse.

Sie wollten damals nicht das Leben kennenlernen, Sie wollten Revolution machen!

Ja, die Intention war naiv, teilweise sogar falsch, teilweise unverantwortlich. Das Verhältnis zur Gewalt war unverantwortlich, und diese ganzen Revolutionsvorstellungen waren naiv. Wären sie realistisch gewesen, wären sie gefährlich geworden, weil sie zu sehr viel Gewalt und Unrecht geführt hätten.

Sie sind froh, dass es anders gekommen ist.

Oh ja, und dies nicht erst seit heute. Die Vorstellung, dass man unter den Bedingungen des Rechts- und Sozialstaats Bundesrepublik Deutschland eine Revolution machen könnte, die hatte mit der Realität nicht allzu viel zu tun. Der durchschnittliche Opelianer wollte vor allen Dingen seine Lage verbessern, der wollte nicht Revolution machen. Der wollte mehr Geld, mehr Urlaub, bessere Arbeits- und Lebensbedingungen.

Man könnte sagen, Sie waren damals mit beiden Füßen auf der Erde und mit dem Kopf in der Luft …

Nee, nee.

… und als Außenminister war es genau umgekehrt?

Sie täuschen sich! Schauen Sie, dieser Radikalisierungsschritt war zugleich auch die Übernahme von historischen Kostümen aus der heroischen Zeit der alten Arbeiterbewegung, auch die Übernahme der Theorien, die nur hinten und vorne nicht stimmten. Zugleich war es aber auch ein Aufbegehren gegen Verhältnisse, die schlicht überholt waren.

Ihre Frankfurter Zeit im Zeitraffer. Sie waren 1970 Mitbegründer der Karl-Marx- Buchhandlung, dann kam der revolutionäre Kampf, auch bei Opel, dann begann Ihre militante Phase, die dokumentiert ist in Fotos, wo Sie mit einem Motorradhelm zu sehen sind und auf einen Polizisten einprügeln. Das knallte mitten in Ihre Regierungszeit. Manche haben damals gesagt: Jetzt ist er weg.

Ja, es war knapp.

Und dann kamen 1976 noch mal Aktionen, die Ihnen zumindest eine Nacht im Gefängnis eingebracht haben.

Ich wurde entlassen, ohne dem Haftrichter vorgeführt worden zu sein.

Es ging nicht um wenig. Es ging um einen Polizisten, der schwere Verbrennungen erlitten hat, und um den Vorwurf: versuchter Mord.

Ja, das war bei der Ulrike-Meinhof- Demo, nach ihrem Tod. Es kam zur Gegenüberstellung im Polizeipräsidium mit Zeugen. Das endete dann bei mir damit, dass ich vor Ablauf der gesetzlichen Frist wieder auf freien Fuß gesetzt wurde, ohne dem Haftrichter vorgeführt zu werden.

Nur wenig später, an Pfingsten 1976, haben Sie eine Rede auf dem Frankfurter Römerberg gehalten. Sie plädierten für die Abkehr vom Terrorismus …

Die Nacht im Polizeigewahrsam oder die Verhaftung waren nicht das Entscheidende, sondern die Tatsache, dass ein Polizist fast zu Tode gekommen ist. Vor allem aber ging es um die Eskalation des Terrors der RAF, die in Frankfurt begonnen hatte.

Manche sagen, diese Römerbergrede sei Ihre größte politische Leistung gewesen.

Das weiß ich nicht. Schauen Sie, natürlich spürte man die Anwerbeversuche, natürlich war die Spontiszene eine Szene, in der man sich persönlich sehr nahestand, das war nicht nur eine politische Organisation, das war immer auch ein Lebenszusammenhang. Natürlich merkte man, wie da geworben wurde, wie da gebaggert wurde …

… und auch Leute abgedriftet sind.

Ja, wobei in Frankfurt das relativ wenige waren, Gott sei Dank. Ich glaube, da spielte die Spontiszene eine große Rolle, weil sie eben als Lebenszusammenhang viele Leute festgehalten hat. Leider nicht alle.

Herr Fischer, seit Monaten tobt ein Kampf um die Deutungshoheit dessen, was 68 war und …

… ja, ja, nachdem jetzt der Titan Kai Diekmann 68 endgültig zertrümmert hat …

… Der Chefredakteur von „Bild“ hat ein Buch über diese Zeit geschrieben …

… können wir Alt-68er nur noch die weiße Fahne hissen. Ich bekenne: Wer nach 40 Jahren immer noch solche Gegner hat, der muss irgendetwas gründlich falsch gemacht haben.

Die Wochenzeitung „Freitag“ hat zusammengefasst, wofür Sie Schuld tragen: „Staatsgläubigkeit, kryptosozialistische Versorgungssysteme, Selbsthass und Identitätsverlust.“

Halten wir lieber fest: Die 68er sind schuld an allem, auch, dass die „Bild“-Zeitung so ist, wie sie ist.

Der ZDF-Journalist Peter Hahne beklagt „das gezielte Kappen kultureller Wurzeln unter dem Deckmantel der Toleranz“ durch die 68er.

Was heißt das? Dazu reicht, ehrlich gesagt, meine Bildung nicht aus, um dieses raunende Deutsch zu verstehen. Der liebe Hahne scheint da eher die deutsche Sprache zu kappen. Also: Welche Wurzeln wurden denn gekappt? Es tut mir leid. Im Deutschaufsatz, bei meinen strengen Lehrern von damals, die ich, wie gesagt, überhaupt nicht gemocht habe, hätte das eine desaströse Note gegeben.

Wahrscheinlich meint er Tugenden wie: Pflicht, Ordnung …

… und Reschpekt, mit s-c-h. Dabei war das gar nicht so einfach mit dem Reschpekt vor den Eltern und den Lehrern. Aus Gründen, die in der jüngeren deutschen Geschichte lagen. Sollst du vor Lehrern, die üble Schläger waren, Reschpekt haben? Ich war neulich wieder bei einem Klassentreffen in meiner alten Grundschule. Das Erste, was angesprochen wurde, war die Prügelei und: Dieser Lehrer war ein „Russenfresser“ gewesen, jener ein „Franzosenfresser“. Und welcher war in der NSDAP und Schlimmeres gewesen? Also, alles nicht so einfach mit dem Reschpekt!

Mit der Aufsässigkeit auch nicht.

Sie sagen es! Die Reaktion war damals auf der Straße dreigestuft: Geht nach drüben, geht ins Arbeitslager oder: Ihr gehört vergast. Das war in jener Zeit der klassische Dreisatz der vox populi gewesen. Es gab viel Hetze gegen die Apo, vor allem in West-Berlin. Dass Springer und „Bild“ als die eigentlich Verantwortlichen gesehen wurden für die Schüsse auf Rudi Dutschke, hatte ja seine Gründe.

Der Publizist Willi Winkler hat gerade in einem Buch über die RAF geschrieben, 68 habe Deutschland, zumindest dem Westen, den lange überfälligen Modernisierungsschub beschert.

Da hat er recht. Und da spielen viele Faktoren zusammen, nicht nur die antiautoritäre Revolte der Studenten, sondern auch 1969 die sozial-liberale Koalition, ihre große Strafrechtsreform, die Frauenbewegung. Es war vieles, was sozusagen Demokratie von unten bedeutet hat. Sie sehen es heute an der Union. Wenn jetzt die Frage anstünde, ob man tatsächlich in die Zeit vor 68 zurückwollte, würde man auch dort mit großer Mehrheit dagegen stimmen. Selbst Diekmann und Hahne würden es in den deutschen Verhältnissen vor 68 nicht mehr aushalten!

Wir reden mit Ihnen, weil Sie Exponent dieser Generation sind, aber es gab auch viele Verlierer unter Ihren Mitstreitern. Klassisch ist der heute noch kiffende promovierte Taxifahrer. Denken Sie manchmal, Mensch, ich habe Glück gehabt?

Ich war auch Taxifahrer. Promoviert habe ich nicht. Aber jetzt dürfen Sie nicht fragen, ob ich gekifft habe. Doch im Ernst, Sie haben recht, es gab und gibt Verlierer dieser Zeit, wie in jeder Generation. Die Mehrheit der 68er allerdings hat ihren Weg ganz ordentlich gemacht.

Sie haben jetzt eine 300 Jahre alte Eiche in Ihrem schönen Garten und leben in einer Villa in Grunewald …

... Worin besteht der Vorwurf?

Kein Vorwurf, nur: Das ist alles nicht so schlecht für einen Schulabbrecher.

Oha! Das ist jetzt ein Vorurteil, wie es deutscher nicht sein könnte. Es darf nur einen Weg geben, und zwar den vorgezeichneten. So habe ich das aber in meinem Leben niemals gesehen und schon gar nicht gehalten.

Das Credo Ihrer politischen Szene war: keine Karriere, Rente interessiert mich nicht, Bausparvertrag ist uncool – das hat eine breite Generation von Leuten hinterlassen, die im Alter von 60 langsam mittellos dastehen. Das sind die Kollateralschäden der Rebellion.

Dass Altersarmut das mehrheitliche 68er-Schicksal wäre, halte ich schlicht für falsch. Meinen Sie etwa, ich hätte damals nach schwäbischer Tradition Bausparverträge in der linken Szene verkaufen sollen? Ich ahne, worauf Sie hinauswollen. Da machen Sie es sich zu einfach. Dass 68 auch noch für die Altersarmut verantwortlich sein soll, das hat selbst Kai Diekmann nicht behauptet. Aber vielleicht ist er da einfach nur nicht draufgekommen.

Otto Schily hat Ihr neues Buch besprochen, er schrieb in der „Welt“: „Dass Fischer nicht an übermäßiger Bescheidenheit leidet, kann ihm angesichts seines außergewöhnlichen Lebenswegs keiner verdenken.“

Da erweise ich mich als gelehriger Schüler meines Meisters Otto.

Wann haben Sie eigentlich das erste Mal erfahren, dass die Mitarbeiter im Ministerium Ihnen Spitznamen gegeben haben wie „Gottvater“ und „der Erleuchtete“?

Das habe ich nur in den Zeitungen gelesen. Also, wenn Gottvater so viel Macht gehabt hätte wie ich, dann würde das zwar manche Verwirrung auf dieser Welt erklären, aber ich glaube, er hätte sie nicht zustande gebracht.

Nun wohnen und arbeiten Sie in Grunewald, einem beschaulichen Bezirk. Wenn Sie rausgucken, sehen Sie einen prächtigen Garten, keine politischen Feinde mehr. Sie haben selbst gesagt, Sie brauchten die Aggression, das Adrenalin, um richtig gut zu werden. Ihnen muss langweilig sein.

Das mit dem Grunewald scheint ja in Ihnen richtig zu arbeiten! Jetzt hören Sie doch auf, selbst die 68er unterliegen dem Alterungsprozess. Offensichtlich muss ich Zeit meines Lebens 20 bleiben, schön wär’s ja.

Sie sind glücklich so.

Seien Sie beruhigt: Ja! Aber was ich aus unserem Gespräch lerne, ist, dass uns 68er die Verratsvorwürfe bis ins Grab verfolgen werden. Dann wird es heißen: Was sterben die nun auf eine bürgerliche Art und Weise dahin! Und niemand wird die Gräber besetzen, sondern Grabplatz und Beerdigung werden ordentlich bezahlt werden! Wie etabliert! Und am Ende rauscht da noch eine 300-jährige Eiche! Das wird der letzte Vorwurf sein.

Tagesspiegel, 30.12.2007