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Myriaden
von Minirebellionen Keine
Atempause, Geschichte wird gemacht: Mit der 68er-Debatte wollen die
Altkader die große Erzählung der Linken schreiben. Pure
Geschichtsklitterung, die eine heldenfreie Mikropolitik nach 1977
verleugnet. Von MARK
TERKESSIDIS IN DEN FRÜHEN
NEUNZIGER Jahren führte die Zeitschrift Tempo ein Interview mit Oskar
Lafontaine. Darin wurde der saarländische Ministerpräsident gefragt,
was ihm zum Jahr 1977 einfallen würde, worauf der erwartungsgemäß
antwortete: „Deutscher Herbst." Der Interviewer jedoch bohrte
weiter: Er wollte dem Politiker eine Wissenslücke nachweisen. Die ganz
große Erzählung 1977 stand nämlich
ebenfalls für den Durchbruch von Punkrock in Großbritannien. Danach
entwickelte sich auch in Deutschland eine neue Jugendkultur, deren
lebendige Auswirkungen in Musik, Kleidung und Organisationsformen
(Independent-Label, Clubs, Zeitschriften) noch bis Anfang der
neunziger Jahre wirksam waren. Gleichzeitig machte 1977 eine neue
Protestbewegung bestimmte Orte in Deutschland nachhaltig bekannt:
Brokdorf, Gorleben, Kalkar. Demonstrationen gegen Atomkraftwerke hatte
es zwar schon vorher gegeben, doch 1977 war zweifellos ein erster Höhepunkt
des Widerstandes. Dass
Lafontaine nur der „Deutsche Herbst" in den Sinn kam,
entspricht einer weit verbreiteten Erinnerungskultur, die letztlich für
die zweite Hälfte 20. Jahrhundert in Deutschland nur vier historisch
bedeutende Ereignisse kennt: Der Dreh-
und Angelpunkt ist selbstverständlich Auschwitz, dann kommt 68
als Nachgeschichte von Auschwitz und 77 als Nachgeschichte von 68.
Schließlich geschah 89 und damit das Ende der Geschichte: seitdem nur
noch Kapitalismus und Demokratie. Zwar wird um
diese Daten bekanntlich kräftig gestritten, doch erscheinen sie dabei
stets als kohärente Ereignisse. Das gilt auch für 68 und 77 -
Nebenschauplätze und Brüche werden einfach vergessen. Wenn Außenminister
Fischer heute über seine Vergangenheit sagt, dass ihm 77 klar wurde,
wie sehr „wir uns selbst genau dem Bild der Väter anverwandelt
hatten", dann vergisst er, dass manche in der Protestbewegung
sowohl mit diesem "Wir"
Probleme hatten als auch schwerlich „den Vätern" ähnlich
werden konnten. Auf der
Delegiertenkonferenz des SDS 1968 sprach die Filmstudentin Helke
Sander davon, dass die Organisation aus feministischer Sicht ein
„Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse" sei, und
warf nach ihrem Referat Tomaten auf den Vorstand. Kurz zuvor hatte der
Frankfurter Weiberrat in einem Flugblatt darauf hingewiesen, dass die
„sozialistischen Eminenzen" Frauen hauptsächlich als Objekte
„potenter Geilheit" betrachteten. „Frauen sind anders!",
stellten die Pionierinnen der zweiten deutschen Frauenbewegung fest. Vom
Verschwinden der kleinen Kämpfe Tatsächlich
wird derzeit die gesamte Geschichte der Widerstandsbewegung von Leuten
Beschrieben, die solche Spaltungen immer schon zugunsten einer Fiktion
von „der Revolution" oder ,,der Linken" zurückgewiesen
haben und deren Perspektive des großen Ganzen sich heute prima mit so
etwas wie Regierungsverantwortung verträgt. Fischer, sein Berater
Joscha Schmierer, der Historiker Gerd Koenen, der Journalist Cordt
Schnibben - wer auch immer sich momentan äußert, hat eine
Vergangenheit als K-Gruppler oder Sponti und während der siebziger
Jahre nüchtern‑verächtlich herabgeblickt auf die ,,kleinen Kämpfe"
von Friedensfreunden, Haschrebellen, Patientenkollektiven,
Hausbesetzern oder Migranten. Fischer ist bekanntlich erst zu den Grünen
gestoßen, als die damals noch bunte Mischung der Aktivisten
erfolgreich wurde. Und da sich durchgesetzt hat, haben er und
seinesgleichen heute das Recht, die zahlreichen „kleinen Kämpfe"
ihres Wertes zu berauben und umstandslos wieder in die Geschichte
„der Linken" zu integrieren. Und danach in die nationale Erzählung
der Bundesrepublik Deutschland (siehe auch Zitty 4/ 2001). Sogar die
achtziger Jahre erscheinen nur noch als Folge von 68. Im Spiegel
schreibt Cordt Schnibben, dass der „68er" in dieser Zeit zum
Trottel wurde, weil die Jugend der Achtziger es „rebellisch fand,
nicht rebellisch zu sein. Rebellisch war nur, wer die richtigen
Platten hörte und die richtigen Schuhe trug und das richtige Leben im
falschen genoss". Tatsächlich jedoch waren die achtziger Jahre
angefüllt mit Myriaden von Minirebellionen gegen die Auswirkungen von
Macht auf das Individuum. Ob es die immer noch konservativen Eltern
und Lehrer waren, die lauernden Nachbarn in der Provinz, die Einschnürungen
des eigenen Körpers, die Strahlen der Kraftwerke, die schmutzigen Flüsse,
die Blicke von Männern, die Überwältigung durch angebliches
Expertenwissen oder bedrohliche Raketen - stets ging es um autoritäre
Einschränkungen der eigenen Person. Flexible
Schufterei Letztlich
waren die Kämpfe zutiefst flüchtig und wurden durch Großereignisse
wie etwa Demonstrationen zusammengehalten. An der Basis
experimentierten die Beteiligten mit ihren Differenzen sowie den Möglichkeiten
von Kollektivität und schufen sich dabei eigene Räume. Der Genuss
eines richtigen Lebens im falschen, das Schnibben heute lediglich für
ein Ergebnis von Kaufentscheidungen hält, setzte viel Arbeit und
Diskussion voraus: In besetzten Häusern oder Clubs wurde
ununterbrochen über die Bedingungen eines Zusammenlebens gesprochen,
das keine Kopie der Gesellschaft „draußen" werden sollte. Das Problem
der kurzlebigen und oft wenig theoretisch
fundierten "kleinen Kämpfe" war freilich die immer drohende
Auflösung im Falschen: So ist das Lob der Differenz heute kein Mittel gegen Anpassung mehr, sondern ein Konsumideal. Die
Selbstausbeutung im Dienste eines alternativen Raumes wiederum ging in
der Unternehmensphilosophie der „Global Player" auf. Einer der
wenigen Filme, der die Stimmung der achtziger Jahre einfängt -
Hans-Christian Schmidts 23 über einen Hacker, der sich in den Fängen
der Geheimdienste verstrickt - hat
gezeigt, wie das Verlangen nach Selbstverwirklichung in flexibler
Schufterei endet. Wenn
Philosophen fehlen Dass die
„kleinen Kämpfe" über ihre eigene Geschichte nicht mehr verfügen,
ist kein Wunder schließlich ging es ja gerade nicht um große Erzählungen,
sondern um kleine Unterschiede. Im Gegensatz zu Frankreich haben diese
Kämpfe hierzulande nie philosophische Weihen erfahren: Es gab keine
Deleuze/Guattari, keinen Lyotard oder Derrida. In Deutschland haben
sich nur praxisferne und staatstragende Großsoziologen wie Jürgen
Habermas oder Ulrich Beck paternalistisch über die Neuen Sozialen
Bewegungen gebeugt. Der einzige Denker, der sich stets an den
Protesten orientierte - Peter Brückner - ist heute völlig
vergessen. Aber
vielleicht ist dieses Vergessen auch produktiv. Es bewahrt vor dem
Irrtum, Demokratisierung für ein singuläres Ereignis zu halten. Und
öffnet den Raum für die nächste Politisierung. Mark
Terkessidis, 34, ist Journalist und Autor in Köln. Zuletzt
erschien von ihm Migranten (Rotbuch 2000). Zusammen mit Tom Holen hat
er das „Institute for Studies inVisual Culture" in Köln gegründet. ZITTY 5/2001 |