Für Kommunikationswissenschaftler war die Debatte um die
Vergangenheit zweier grüner Minister interessant. Sie bestätigte
mit Aplomb die sogenannte Agenda-Setting-Hypothese – Medien
sind in der Lage, ein Thema auf die Tagesordnung einer
Gesellschaft zu setzen. Über Kohl ist genug geredet worden;
reden wir über Fischer. Inzwischen stöhnt man gemeinsam mit
Hans Magnus Enzensberger: „Liebe Meinungsfabrikanten, lasst es
gut sein“. Der Versuch, eine Regierung in Verlegenheit zu
bringen, ist legitim, darf aber nicht langweiliger werden als
eine durchschnittliche Debatte des Landwirtschaftsausschusses
des Bundestages . In der Ausdrucksweise des Herrn
Bundeskanzlers: Fischer bleibt Minister und basta.
Wäre da nur nicht ein Satz des sympathisch-verstrubbelten
Rezzo Schlauch: „Wir sind doch aufgestanden gegen diese
Mainstream-Biographien“. Da fühlt man sich irgendwie
angesprochen, wenn man nie einer Putzgruppe angehörte, wenn man
den „eindimensionalen Menschen“ von Herbert Marcuse immer
schon für ein schlechtes Buch hielt und den rotzigen
Spontaneismus des Göttinger Mescalero schon 1977 inhuman fand.
Schlauch hat etwas Richtiges getroffen. Es ist die Kritik der
„allzu glatten Passage“. Am präzisesten hat das der große
amerikanische Romancier James Salter formuliert: „Ich mag Männer,
deren Leben alles andere als eine glatte Passage war. Stürme
haben sie niedergeworfen, dann wieder trieben sie monatelang in
der Flaute. Selbst wenn sie scheitern, bleibt ihnen etwas
erhalten. Nicht alles war Geklimper; es gab auch große
Akkorde“. Nur gibt es auch glatte Passagen von links unten
nach rechts oben, aus einem Bürgergarten in München-Grünwald
oder Düsseldorf-Mettmann ins grünliche Establishment, aus dem
Asta ins Ministeramt.
Romantische Gesinnungsethik
Ich bin 1961, als 22-jähriger, in die Kleine-Leute-SPD am
Schwabinger Kurfürstenplatz eingetreten. Beeindruckt hatte mich
ein damals schon gebrochener und heute gänzlich vergessener
Mann von Mitte Fünfzig, nie Kommunist gewesen, fern jeder
Demagogie, stolz darauf, sein Leben lang einer
kompromisslerischen sozialen Bewegung gedient zu haben, Waldemar
von Knoeringen. Er ahnte die Kulturrevolution von 1968 voraus.
Deswegen schrieb er mit ein paar jungen Leuten, darunter mir, im
Jahr 1966 eine kleine Schrift „Mobilisierung der
Demokratie“. Die 68er lachten sich über diesen Reformismus
kaputt. Ich gehörte schon zum Establishment.
Als Assistent an der Universität hielt man Seminare, die
gesprengt werden konnten. Als Funktionär der SPD verteidigte
man Gesetzgebungsprojekte der Großen Koalition. Was für eine
Lust: Wo immer man kandidierte, hatte man sechs Gegenkandidaten
von den Jusos, die die verschiedenen Spielarten marxistischer
Theorie (Lukacs, Korsch, Luxemburg) vertraten und von liberalen
Vaterfiguren als „kritische junge Generation“ liebevoll in
Schutz genommen wurden.
Man soll nicht kleinlich sein. Der Juso Vorsitzende von Fürstenfeldbruck,
der während eines schwierigen Wahlkampfes gegen Richard Jaeger,
einen Repräsentanten des rechten Flügels der CSU, Plakate für
das „jugoslawische Modell“ klebte, hat mich damals zwar zu
bebender Wut getrieben. Aber mein Juso ist heute ein höchst
erfolgreicher Unternehmensberater, der mir schon mehrfach
gutbezahlte Vorträge verschafft hat. Ich habe mit ihm Frieden
geschlossen.
Und auch mit dem Juso-Führer, der seinerzeit Walter Ulbricht
besuchte, bin ich später gut Freund geworden. Zwar gestehe ich,
dass ich in den 90er Jahren gelegentlich irritiert war, wenn er
mich wegen meiner Skepsis gegenüber Militäreinsätzen der NATO
mild kritisierte. Er war ein eiserner Verbündeter der USA in
der Nato-Parlamentarierversammlung geworden; aber schließlich
hatte ich der amerikanischen Politik von Jugend auf ein
gewisses, (wenn auch nicht grenzenloses) Verständnis
entgegengebracht.
Natürlich, gelegentlich ärgert man sich auch. Als ich mich
als Berliner Wissenschaftssenator 1977 weigerte, gegen zwölf
Professoren, die den Mescalero-Artikel als hochbedeutsames
Zeitdokument herausgegeben hatten, Disziplinarverfahren zu eröffnen,
bekam ich gewaltigen Ärger. Ich war gegen staatliche
Disziplinierung; aber ich legte mich mit den Herren an, deren
Dienstvorgesetzter ich war, und forderte sie auf, ihre
Beamtenpatente zurückzugeben. Das löste eine monatelange
Debatte aus, die zu manchen Klärungen führte. Dass heute ein
leibhaftiger Bundesminister – Jürgen Trittin – behauptet,
man habe diese Leute „disziplinieren“ wollen, ist ärgerlich.
Eben nicht.
Es gibt es auch richtig unangenehme Erinnerungen. Zwei der
Studierenden, die das Münchener Universitätsinstitut, an dem
ich 1968 arbeitete, besetzten, sitzen noch heute im Gefängnis.
Sie heißen Brigitte Mohnhaupt und Rolf Heißler. Die Freie
Universität Berlin als eine von Politikern gänzlich befreite
Zone, in die man sich erst hinein wagen musste, war kein Vergnügen.
Die Entwicklung von radikalen Pazifisten zu antiserbischen
Gesinnungskriegern wird von der Frankfurter Allgemeinen
inzwischen lobend hervorgehoben. Ich fand sie zum Kotzen.
Jetzt vergesse ich meine Mainstream-Biographie und weise auf
zwei systematische Probleme hin. Das eine bezieht sich auf die
Weigerung der älteren Generationen, die Jüngeren ernst zu
nehmen. Ich spreche von der tätschelnden Überheblichkeit, mit
der zum Beispiel die SPD-Führung über viele Jahre mit ihrer
Jugendorganisation, den Jusos, umgegangen ist. Zwar war niemand,
der in und mit der SPD etwas werden wollte, gezwungen, über den
Kanal der Jugendorganisation aufzusteigen. Aber es war natürlich
der nächstliegende Weg. Wenn aber mehrere Generationen junger
Leute über fünf oder zehn Jahre dazu angehalten werden, Thesen
zu vertreten, die sie auf der Stelle weglegen müssen, wenn sie
irgendwo praktische Verantwortung übernehmen, erzeugt dies
Zynismus.
Und wie bewerten wir eigentlich die Veränderung der
Studentengenerationen? Schon hört man ein paar
achtungsgebietende Weise wieder murmeln, dass die heutige
Generation allzu angepasst und karriereorientiert sei. In der
Tat begegnet man heute mehr Studierenden, die Start-Ups gründen
wollen, als Streetfightern. Unter dem Pflaster liegt der Strand,
hieß es auf dem Tunix-Kongress. Dieser Strand scheint verödet.
Wir sollten überlegen, wie wir uns auf diese Entwicklung
einstellen. Ich gestehe offen, dass mir die mit Businessplänen
und Case Studies ringenden Studierenden lieber sind als die „lächerlichen
K-Gruppen der 70er Jahre“ (Hans Magnus Enzensberger).
Vielleicht bin ich aber inzwischen doch zu sehr Mainstream?
Mit Rezzo Schlauch würde ich mich gern einigen. Vielleicht
so: Es gibt Figuren mit „gebrochenen Karrieren“, die sehr zu
Recht Ministerämter bekleiden. Es ist aber keine triumphierend
vorzuzeigende Heldentat, wenn einer selbst mit 25 noch nicht
begriffen hat, dass die Marktwirtschaft das leistungsfähigere
Wirtschaftssystem ist als Planwirtschaft oder „jugoslawisches
Modell“. Es sollte keinem zur Pflicht gemacht werden, sein
drittes Lebensjahrzehnt mit der Verbreitung von romantischer
Gesinnungsethik und ökologischer Volksgeistmystik zu
verbringen. Kurz und gut: Es gibt haltlose Dummköpfe mit
„gebrochenen Karrieren“. Es gibt natürlich auch haltlose
Dummköpfe mit Mainstream-Biographien. „Aufstehen“, lieber
Schlauch, sollten wir weder für das eine noch das andere.
Besser sitzen bleiben und ein vernünftiges Rentengesetz zu
Stande bringen.
Der Autor, der 1980 bis 1987 Bundesgeschäftsführer der
SPD war, lehrt Kommunikationswissenschaften an der Universität
St. Gallen.
SZ
30.1.2001