Faszinierend sind die großen politischen Debatten des
Landes; noch faszinierender manchmal die merkwürdigen
Koalitionen, die sich dabei bilden. Über Nacht sind ein paar
alte Fotos aufgetaucht, über eine weitere Nacht schon hageln
die heftigsten Vorwürfe von rechts und links auf den
Fotografierten ein. Schwer getroffen ist bald der Mann – und völlig
egal ist, dass sich die Hagel-Produzenten in der Eile noch nicht
darauf haben einigen können, warum der Außenminister Fischer
„eine Schande für unser Land“ ist, wie die CDU-Abgeordnete
Bonitz herausgefunden hat: Ist es, weil der alte
„Antiamerikanismus“ des jugendlichen Straßenkämpfers auch
den nadelgestreiften Außenminister zu einem „distanzierten
Verhältnis zu den USA“ treibt, wie dieser Tage der
Chefredakteur der Welt befürchtet hat? Oder stimmt genau
das Gegenteil, weil doch der Mann Fischer, damit er Minister
wurde, sich vor den kriegstreibenden Amerikanern in den Staub
geworfen hat – dieser „typische deutsche Opportunist“, wie
ihn Willi Winkler am Montag an dieser Stelle porträtiert hat?
Der interessantere Vorwurf ist natürlich der des
Opportunismus: Da hat sich einer, soll das heißen, heftig
verbogen, als er nicht mehr Häuser besetzte, hat seine Ideale
aufgegeben, nur um eines Tages in Luftwaffen-Sondermaschinen die
Welt bereisen zu dürfen. Eine „modernisierte Version“ von
Heinrich Manns „Untertan“ soll Fischer nach dieser These
sein, „wie dieser eine Stütze der Gesellschaft“ – und das
ist schon eine verblüffende Feststellung: War Manns Diederich
Heßling nicht jener feistnackige Speichellecker, der Hurra
schreiend und Hut schwenkend neben der Kutsche des Kaisers
einher rannte? Wenn Joschka Fischer auch so ist, dann hat er
sich seinerzeit aber missverständlich ausgedrückt, als er den
Bundestagspräsidenten, bevor er zu Recht aus dem Saal flog,
erregt ein Arschloch nannte. (Freilich, nicht ohne ihn zuvor –
„mit Verlaub, Herr Präsident“– um Nachsicht gebeten zu
haben. Opportunistisch vermutlich.)
Aber mal abgesehen von solchen Details, die vielleicht auch
nicht allzuviel besagen: Richtig ist ja trotzdem, dass der Straßenkämpfer
Joschka Fischer nicht mehr sehr viel gemeinsam hat mit dem
gleichnamigen Außenminister – nicht die Anzüge und nicht die
Ansichten. Um es erst einmal neutral zu formulieren: Herr
Fischer hat sich entwickelt, wie immer man diese Entwicklung
danach im einzelnen bewerten mag.
Nichts gegen den geraden Weg
Die erste Frage wäre also, ob man es jemandem vorwerfen
muss, wenn er sich verändert. Ist es wirklich die
hervorragendste Eigenschaft eines Menschen, seinen einmal
eingenommenen Standpunkten (und damit – wie es gerne heißt
– sich selbst) ein ganzes Leben treu zu bleiben? Eigentlich
hatte man ja gehofft, zu dieser Frage sei alles Nötige gesagt,
seit in Brechts Kalendergeschichte Herr K. erbleichend „oh“
sagte, als ihn jemand – man hatte sich lange nicht gesehen –
mit den Worten begrüßte, er habe sich „gar nicht verändert“.
Veränderung ist der Sinn des Lebens, mindestens macht es dieses
Leben interessant: Was anderes fesselt uns am Helden des Romans
als die Frage, wohin er sich entwickelt und warum ? Und möchten
wir wirklich von Politikern regiert werden, deren Programm es
ist, sich niemals zu korrigieren? Wer ernst genommen werden
will, muss sich Standpunkte erarbeiten, sie ständig überprüfen,
daraus Konsequenzen ziehen und dann auch die neuen Erkenntnisse
wieder in Frage stellen.
Man sollte das sicher nicht verallgemeinern und niemanden
heroisieren, nur weil er im Zickzack lebt. Manchmal hat jemand
das Glück, sehr früh die richtigen Ideale gefunden zu haben;
daraus kann sich ein stringenter Lebenslauf entwickeln, der
aller Ehren wert ist. Andererseits hat die Erfahrung zum
Beispiel gezeigt, dass es oft die früheren Terroristen sind,
die irgendwann – in Irland, hoffentlich in Palästina – die
Kraft aufbringen zum Frieden mit den alten Feinden. Andere
Staatsmänner waren in ihrem früheren Leben Geheimdienst-Chefs
der Sowjetunion und feiern nun Weihnachten mit dem deutschen
Bundeskanzler, der seinerseits auch schon erheblich andere ökonomische
Ansichten hatte als heute. Möglich ist ja beides, wie man
sieht: In der deutschen Republik gibt es genug Leute, die ihre
Karriere vom Tag ihres Eintritts in die Schülerunion
systematisch vorangetrieben haben. Da tut es dem Gemeinwesen
ganz bestimmt gut, wenn es andere gibt, die irgendwann
herausfinden, warum ihr übersteigerter Nationalismus ein Irrweg
war; oder wieder andere, die im Protest gegen das
konservativ-kleinbürgerliche Elternhaus erst
militant-linksradikal werden und sich später wieder mit großer
Mühe von ihren Illusionen verabschieden. Interessanterweise
scheinen die deutschen Wähler solche Biografien besonders zu
respektieren: Andernfalls wäre nicht J. Fischer, sondern G.
Beckstein der beliebteste deutsche Politiker, der seit seiner
Zeit als JU-Bezirksvorsitzender immer ungefähr das Gleiche
gesagt hat.
Zum Nutzen der Republik
Gemeint ist freilich etwas konkret Ehrenrühriges, wenn man
jemandem Opportunismus vorwirft: die Charakterlosigkeit um
schneller Vorteile willen, die Bedenkenlosigkeit, mit der nicht
nur Politiker – aber die sehr öffentlich – in
atemberaubender Geschwindigkeit ihre Positionen wechseln können,
sofern es nützlich für sie ist. Jeder kann sehen, dass es
solche Politiker gibt, die, vielleicht bevor sie für oder gegen
den Euro votieren, panisch auf Meinungsumfragen starren oder auf
die Schlagzeilen der Bild-Zeitung oder auf das
Stirnrunzeln des Parteivorsitzenden. Der opportunistische
Polit-Untertan hält den Daumen in den Wind und wedelt dann mit
dem Hut in die richtige Richtung; den Politiker Fischer hingegen
konnte man – lange vor jeder Aussicht auf
Lufthansa-Sondermaschinen – viele Jahre dabei beobachten, wie
er vom Gegenwind in seiner eigenen Partei fast umgeblasen worden
wäre. Mindestens diese Kämpfe waren eher tapfer als
charakterlos, und sie werden nicht dadurch fragwürdig, dass am
Ende die Grünen in einer Bundesregierung gelandet sind. (Was
diesen Erfolg angeht, käme es freilich schon darauf an, sich
nicht von der eigenen Bedeutung so besoffen machen zu lassen,
dass man irgendwann selbst nicht mehr genau weiß, wo und wofür
man steht: In dieser Gefahr ist der Politiker Fischer durchaus.)
Vielleicht sollte man sich ja noch einmal vor Augen halten,
welche Alternativen der Straßenkämpfer F. in den frühen 70er
Jahren hatte: Er hätte irgendwann feststellen können, dass
friedliche politische Veränderungen in der erstarrten,
verfilzten Bundesrepublik weder innerhalb noch außerhalb des
Parlaments möglich seien; dann hätte er entweder resigniert
ganz groß ins Taxi-Geschäft einsteigen – oder abtauchen können
zu den Revolutionären Zellen, wo man gegen Polizisten nicht
mehr mit der bloßen Faust vorgegangen ist. Dass er beides nicht
getan hat, dass er sich, mit vielen anderen, eingelassen hat auf
die nervenzerreißenden Mühen der Ebene, war objektiv von
Nutzen für die Republik. Auch weil die bestimmt nicht schwächer
geworden ist, als sich ihre Institutionen überraschenderweise
als Magnet erwiesen haben für einige der begabtesten ehemaligen
Systemveränderer.
Opportunismus ist im übrigen kein Privileg von Politikern,
den haben viele Schriftsteller in der DDR genauso gekonnt wie
US-Intellektuelle in den Zeiten McCarthys oder deutsche Groß-Intendanten
im Dritten Reich. (Es war nicht Heinrich Mann, sondern sein
Neffe Klaus, der mit dem Mephisto Hendrik Höfgen den
klassischen deutschen Opportunisten beschrieben hat). Dass wir
es mit keinem typisch deutschen Phänomen zu tun haben, liegt
auf der Hand. Umso lustiger, wenn nun ausgerechnet Joschka
Fischer – die Schande für unser Land – auch
noch den deutschen Phänotyp abgeben soll: Der
Metzgersohn, der sich im Selbststudium nächtelang seine Bildung
und seine Sicht der Welt angelesen hat; der Schulabbrecher, der
in Gretna Green zum ersten Mal geheiratet, in Paris die Pflaster
bemalt, sich in Frankfurt mit Polizisten geprügelt und später
noch erbitterter mit Jutta Ditfurth gestritten hat, bevor er das
alles samt seiner großen Karriere in Marathonläufen
verarbeiten musste.
Typisch deutsch? Wäre ja schön, wenn wir ein so aufregendes
Volk wären.
HERBERT RIEHL-HEYSE
SZ
11.1.2001