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Berliner Morgenpost 1998

Mittwoch, 4. November 1998

Ein Fest für den verschwundenen Kunzelmann

Von Wilfried Mommert

Rainer Langhans, «Ober-Guru» der Studentenrevolte von 1968, gibt sich die Ehre, ganz in Weiß mit langem Schal, als am Montag abend in Berlin die Memoiren des einstigen Mit-Kommunarden Dieter Kunzelmann vorgestellt werden. Viele alte Freunde und Weggefährten kommen ins Mehringhof-Theater, nur der Hauptdarsteller nicht. «Die Leiche ist schon lange tot», meint eine Besucherin der transzendentalen Totenmesse oder Wiederbelebungsfeier, je nach Standpunkt oder Erkenntnisstand.

Das Rednerpult auf der Bühne zieren vier rote Grablichter (oder waren es vorgezogene Adventslichter?) vor einem schwarzem Vorhang, und im Publikum machen Rotweingläser oder Bierflaschen die Runde. «Wenn neben Ihnen jemand sitzt mit einer Sonnenbrille, einer gestrickten Mütze und Andeutungen von roten Haaren und in einem fränkischen Dialekt vor sich hinmurmelt, dann lassen Sie sich das Buch sofort signieren - soviel zur Frage, ob er kommt, nicht kommt oder überhaupt noch mal kommen wird», meint der Verleger Rainer Nitsche.

Er hat in seinem Berliner Transit Verlag in diesem Herbst Kunzelmanns Memoiren unter dem Titel «Leisten Sie keinen Widerstand! Dieter Kunzelmann - Bilder aus meinem Leben» herausgebracht.

Seit dem 3. April ist Dieter Kunzelmann spurlos verschwunden. In einer Berliner Tageszeitung war eine rätselhafte Todesanzeige erschienen, die neben den Lebensdaten Kunzelmanns 1939-1998 lediglich den Satz enthielt: «Nicht nur über sein Leben, auch über seinen Tod hat er frei bestimmt.» Nitsche weiß auch nach sieben Monaten nichts über den Verbleib seines Autors. Er hatte zunächst wie Kunzelmanns Freunde einen seiner üblichen makabren Scherze vermutet - dieser wäre nicht zum ersten Mal buchstäblich einem Sarg entstiegen, das gehörte zum Arsenal seiner «Happening-Kultur». Aber tatsächlich fehlt von ihm seitdem jedes Lebenszeichen, die letzte Spur führte nach Island.

Seine Memoiren hat er zum Kummer des Verlages in schwer lesbarer Schrift zusammen mit Unmengen Privatfotos vorher noch abgeliefert. Auch Kunzelmanns Familie in Bamberg habe kein Lebenszeichen mehr erhalten.

So wird Kunzelmann an diesem Abend in Filmausschnitten und Tonaufnahmen wieder lebendig, das Lachen im Publikum zeigt noch immer die Wirkung des «Spaß-Guerillas», der auch gerne mit dem Entsetzen Spaß trieb.

Ein ganz anderes Gelächter löst im Jahre 1998 die Bemerkung Kunzelmanns aus: «Was wäre die Revolte ohne die Frauen gewesen.» Die Alibi- und Statistenrolle der «Revolutionsgefährtinnen» in der vermeintlichen Sex-Revolution der «ideologischen Patriarchen» ist so manchen Frauen anders in Erinnerung - «Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment».

Die Technik des Eierwerfens

Daß man den Staat schon mit vergleichsweise harmlosen Aktionen, richtig gezielt herausfordern und dabei auch zu Überreaktionen provozieren konnte, hat Kunzelmann rasch erkannt. Ein Film zeigt an diesem Abend «Die Technik des Eierwerfens». Vorgeführt hatte er diese z. B. gegen Berlins Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen. Kunzelmann hatte Diepgen am 20. Dezember 1995 mit einem Ei beworfen und ihm zugerufen: «Frohe Ostern, du Weihnachtsmann.»

Die Memoiren des bei seinem Verschwinden 58jährigen Kunzelmann sind angereichert durch zahlreiche Dokumente, Faksimiles, Fotos (darunter eines mit Gerhard Schröder aus dem Jahr 1992) sowie Polizei- und Justiz-Protokollen, Stellungnahmen von bekannten Künstlern, Schriftstellern und Politikern sowie Weggefährten seiner einzelnen Lebensstationen. Seine Erinnerungen sind ein Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte, oft mit überraschendem Ernst, immer wieder aber mit Humor und Mut zur Selbstironie geschrieben.

Kunzelmann gründete 1959 in den Schwabinger Künstlerkreisen Münchens die «Situationistische Internationale», eine Art Widerstandszelle im Kulturbetrieb. Einer größeren Öffentlichkeit wurde Kunzelmann in den 60er Jahren als Mitglied der «Kommune I» in Berlin mit Fritz Teufel und Rainer Langhans bekannt. dpa