Für
angewandte Zeitgeschichte:
Das
Wirken von Reinhard Strecker
Reinhard Streckers Engagement für eine
Säuberung der bundesdeutschen Justiz stand von Anfang an
im Spannungsfeld von Aktualisierung und Historisierung
der Zeitgeschichte. In Paris Anfang der
Fünfzigerjahre erfuhr er im Umfeld des "Centre
de documentation juive contemporaine"
(CDJC) und der Zeitung Combat,
dass eine Vielzahl von früheren Funktionsträgern des
NS-Staates wieder wichtige Positionen in Westdeutschland
innehatte.
1954 siedelte er
24-jährig nach Westberlin über, um an der Freien
Universität indogermanistische Sprachwissenschaft zu
studieren. Hier bestätigten sich einerseits die
früheren Informationen, andererseits schien dies für
die wenigsten ein Problem zu sein: Der
Nationalsozialismus gehörte der Vergangenheit an. Strecker hingegen verstand die
beruflichen Kontinuitäten zwischen Diktatur und
Demokratie als persönliche Herausforderung. Sein
Engagement entsprang seiner Moral, "nicht in einer
Gesellschaft zu leben, deren Repräsentanten sich an
Mordaktionen beteiligt hatten und dafür noch
nachträglich mit Zustimmung der Bevölkerung monatlich
honoriert wurden".
Damit prüfte er
die Möglichkeiten einer wirklichen Veränderung und
zugleich seine eigene Fähigkeit, aktiv auf die
gesellschaftlichen Verhältnisse einzuwirken.
"Ich wollte wissen, ob man wieder mit Anstand in
Deutschland leben konnte und ob man den eigenen Kindern
eine Zukunft in Deutschland zumuten durfte."
In Westberlin
wurde vom Justizsenator heftig gegen die Aktion und ihren
Urheber polemisiert, die beiden Hochschulen untersagten
die Ausstellung in ihren Räumen. Der Berliner
Verfassungsschutz (VS) sorgte für Postüberwachung
und Einschüchterung. Im Ausland fand die
"Aktion Ungesühnte Nazi-Justiz" großen
Anklang. So wurde Strecker etwa ins britische
Unterhaus eingeladen, um die Ergebnisse seiner
Forschungen vorzustellen. Einladungen erhielt er auch
nach Amsterdam und nach Israel.
Solche
Unterstützung hat Strecker immer wieder darin
bestärkt, seine historischen Kenntnisse für gegenwartsbezogene
Handlungsstrategien zu nutzen. Stets setzte er sich
von denen ab, für die "Geschichte" nur ein
Synonym für "Vergangenheit" ist. Strecker hat auch nach der
Ausstellung "Aktion Ungesühnte Nazi-Justiz"
und seiner Dokumentation zu Globke (1961) darauf
bestanden, dass sich das Interesse an der Zeitgeschichte
nach ihrer Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung bemisst.
Strecker arbeitete in späteren
Jahren als Übersetzer (unter anderem aus dem
Polnischen, dem Tschechischen und dem Englischen) und als
Sprachlehrer am Goethe-Institut. Dort hat er das
Sozialreferat auf- und ausgebaut; daneben war er
langjähriges Mitglied des Betriebsausschusses des
Gesamtbetriebsrats der Goethe-Institute. Derzeit
bearbeitet er in in- und ausländischen Archiven ein zeitgeschichtliches
Forschungsprojekt, in dem es um die Beteiligung
deutscher Naturwissenschaftler und Mediziner an der
NS-"Euthanasie" geht.
M. K.
& C. F.
taz
Magazin Nr. 6002 vom 27.11.1999 Seite 3 Hintergrund 97
Zeilen
TAZ-Bericht
M.K. / C.F.
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