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68
- mea culpa Eine heute 33jährige Frau, die sich selbst einen Namen ("nom de plume") ausgewählt hat, Sophie Dannenberg, beschreibt sich in einem Spiegel-online-Interview vom 18.11.04 selbst als geschädigt, geschädigt von ihren Eltern, genauer gesagt von 68er Eltern. Sie versucht diese Schädigung in einem Roman (Das bleiche Herz der Revolution) zu verarbeiten, der von der Kritik (z.B. von Klaus Harpprecht in der Zeit vom 2.9.04 ) weithin zerrissen wird. An diesem Verriss sind, wie kann es anders sein, ihre Eltern, bzw. deren Kumpane, also die 68er schuld. Wie Sophie richtig heißt, will sie uns nicht verraten, weil dann ihre Privatsphäre in Gefahr käme. Nun ja, wir brauchen ihre Behauptung der direkten Betroffenheit auch nicht überprüfen. Ob sie sich nun selbst als Opfer porträtiert oder jemanden anderes, ist prinzipiell egal. Es gibt diese Opfer, das ist nicht zu bestreiten. Ich selbst kenne einige davon. Der krasseste Fall war der Sohn eines Psychologenehepaars. Die Eltern schleusten Hunderte durch ihre Hellinger-Seminare während sie gleichzeitig ihren Sohn wochenlang völlig allein ließen in ihrer altberliner Wohnung in Berlin-Charlottenburg, vollgestopft mit marxistisch-leninistischer und psychologischer Literatur. Der 17jährige zeigte tatsächlich Züge von geistiger Verwahrlosung, er spielte mit rassistischen und rechtsextremistischen Gedanken, glücklicherweise ohne sie jedoch in Praxis umzusetzen. Die auf diesen Fakt hin angesprochenen Eltern fanden die Intervention als ungehörig und stritten alles ab. Wir kennen die Fälle der Kinder von Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Ina Siepmann, Ilse Schwipper, Georg von Rauch, Peter Paul Zahl usw. Diese sich selbst als revolutionär verstehenden Frauen und Männer haben in der konkreten historischen Situation der damaligen Bundesrepublik Deutschland eindeutig falsche Prioritäten gesetzt, sie glaubten, es sei wichtiger, den Kapitalismus/Imperialismus/Faschismus aus dem Untergrund mit Gewalt bekämpfen zu müssen, als sich um die Überwindung althergebrachter Rollenverteilungen in der Gesellschaft zu kümmern. Sie waren nicht mehr in der Lage, sich um die wohlbehütete Aufzucht ihrer Kinder zu kümmern. Die von ihnen erhoffte Revolution sollte nicht nur den Imperialismus stürzen, sondern auch völlig neue gesellschaftliche Modelle hervorbringen, in denen Kinder einen besseren Platz finden würden. Viele von ihnen konnten aus ihrem Irrglauben keine Lehren mehr ziehen, denn sie verbanden ihn mit dem Einsatz ihres Lebens und verloren. Während der erst genannte Fall des 17jährigen Psychologensohnes als eklatanter Fall individueller Verfehlungen angesehen werden kann, sind die im Stich gelassenen Kinder der UntergrundkämpferInnen Opfer eines Trends geworden, der ursächlich mit der Bewegung der 68er zusammen hängt. 68 steht für Vieles, für Freiheit, für Hippietum, freie Liebe, für freie Drogen etc, 68 wird aber auch verstanden als eine Chiffre, die für Kritik an Kolonialismus, Kapitalismus, Imperialismus, Faschismus, Stalinismus, Autoritarismus und Patriarchat steht. Der Schritt von symbolischer Solidarität mit den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt zur direkten Praxis, zur Übernahme gleicher Kampfmethoden war zwar objektiv gesehen falsch, aber aus damaliger Sicht nicht allzu weit hergeholt. Diese Fehlinterpretation der damaligen Situation nicht sofort erkannt und ausreichend kritisiert zu haben, ist tragisch, ist unser Versäumnis. Ob dadurch einige Mitbürger und viele unserer ehemaligen GenossInnen am Leben geblieben wären, ist ungewiss. Hier hat Sophie recht, sie und wir alle müssen diese historische Schuld seitdem "ausbaden". Die Frage ist aber, wird durch diesen schlimmen Fehler die Kritik, die wir an der damaligen Gesellschaft entwickelt haben, falsch? Was wäre geschehen, wenn wir nichts gesagt oder getan hätten, wenn sich die "formierte Gesellschaft" (Ludwig Erhard) statt die "Zivilgesellschaft" durchgesetzt hätte? Sophie könnte sich an Volks- und Schlagermusik rund um die Uhr erfreuen, "Negermusik" wäre aus deutschen Radio- und Fernsehkanälen verdammt, Sophie wäre als Teenager zum "Teenager Tanztee" gegangen, um sich einen Jungen zu angeln, sie wäre rund um die Uhr von ihrer Mutter, einer braven Hausfrau, betreut worden. Der Kinderladen wäre ihr erspart geblieben. Ihr Papa hätte sich mit Alkohol vollgepumpt und er hätte die Mama verprügelt statt nach einem Joint im Wohnzimmer blöd rumzukichern. Der Abitur-Besinnungsaufsatz wäre über die Wichtigkeit der Sauberkeit im Kinderzimmer gestellt worden, statt über Kafkas Prozess. Männliche Oberschüler und Studenten würden mit Schlips zum Unterricht erscheinen, Schülerinnen mit adretten Kleidchen, statt mit "Kuhaugen" durch die Unis "schlurfen". Sophie wäre jetzt verheiratete Hausfrau, hätte zwei oder drei Kinder aufzuziehen und würde keine Zeit mehr haben, um verquere Romane zu schreiben. Zweimal wöchentlich würde sie ein Kopftuch übers Haupt ziehen und zum lokalen Markt laufen, um Eier, Gemüse, Fisch am Freitag, usw. einzukaufen. Ihre Kinder wären häuslich geborgen, höflich, immer pünktlich und gut auf das Leistungsprinzip vorbereitet. Die Schule wäre sauber und frei von Graffiti und Sexualkundeunterricht. Die SchülerInnen hätten Respekt vor den Lehrenden und würden aufstehen, wenn letztere den Klassenraum betreten. In den meisten Bundesländern würde strikt getrennt nach Geschlechtern unterrichtet, die SchülerInnen wüssten, wie schädlich onanieren oder masturbieren, vorehelicher Geschlechtsverkehr usw. wirklich ist. Die drei Millionen Toten im Indochinakrieg der USA hätten wir alle freudig begrüßt (Berlin wurde bekanntlich in Saigon verteidigt), die von den USA inspirierten faschistischen Putsche im Iran, in Guatemala, Griechenland, Chile (incl. systematischer Folter) usw. als zivilisatorisch notwendig gegen den Kommunismus gerichtet gefeiert, die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition als Teufelszeug bekämpft, die Aufhebung der Kuppel- und Homoparagraphen verdammt, die Gleichberechtigung der Frauen verhindert.... Ja, sagt Sophie, das meine sie gar nicht so. Diese Errungenschaften wisse sie auch zu würdigen. Die wären aber auch ohne die 68er gekommen, die hätten ja was ganz anderes gewollt. Ja, wirklich? Woher weiß sie das? Hat sie Brigitte Asdonk oder Inge Viett (beide ehemals RAF) gehört, wenn diese das auch jetzt noch so formulieren? Dürfen wir die RAF oder die K-Gruppen mit 68 gleichsetzen, nur weil auch diese Fraktionen ihren Ursprung in 68 hatten? Was ist mit all den anderen, die undogmatisch und antiautoritär geblieben sind, die keine Angst vor der eigenen Courage bekommen haben, die nicht irgend welche Führerfiguren (Lenin, Mao etc.) als "Ersatzväter" glorifizierten? Zählen die nicht? In ihrer Rage wirft Sophie alles in einen Topf, obwohl Stalin, Ché, Ho Tschi Minh nun wirklich nur gemeinsam haben, dass sie sich alle drei als Kommunisten sahen. Von den Verbrechen Stalins brauchen wir nicht zu reden, die sind seit den Moskauer Prozessen und Kruschtschows Geheimrede allgemein bekannt. Was wirft Sophie dem tragisch geendeten Ché vor, was dem gegen Goliath kämpfenden "Onkel" Ho? Ché half einen blutigen Diktator in Kuba (Battista) zu stürzen und wurde von CIA-Agenten in Bolivien ermordet, als er versuchte, das zu erreichen, was den Indios im letzten Frühjahr mit ihren Mitteln gelang, den korrupten Präsidenten zu verjagen. Gegen den einstigen Alliierten, der gegen die japanischen Faschisten den 2. Weltkrieg mit gewann, also gegen Ho Tschi Minh, führten Franzosen und USA einen erbarmungslosen 30jährigen Krieg, um seine Wahl zum Präsidenten Vietnams zu verhindern. Seriösen Quellen zufolge hätte er mit etwa 80% jede demokratische Wahl gewonnen. Ché und Ho wird vorgeworfen einige vermeintliche Verräter und ideologische Abweichler auf dem Gewissen zu haben. Das war und ist zu kritisieren. Im Vergleich zu den Verhinderern der demokratischen Wahlen in Kuba und Vietnam, also den US-Präsidenten von Eisenhower bis Nixon, die als Aggressoren die drei Millionen toten Vietnamesen, Laoten, Kambodschaner, Franzosen und US-Amerikaner auf dem Gewissen haben, stehen sie allerdings als Musterknaben da. Hat nun 68 verloren, was einige "Ehemalige" fälschlicherweise annehmen, oder gewonnen, wie Sophie behauptet? Ihre Gleichsetzung von 68 mit allen möglichen Verirrungen ist zwar grotesk, aber hier ist mir Sophies Position trotzdem sympathischer als die einiger meiner ehemaligen GenossInnen, anerkennt sie uns doch wenigstens als denkende und handelnde (und irrende) Subjekte, die etwas (teilweise falsches) erreicht haben. Einige von uns wollten die Anarchie, andere den Sozialismus oder Kommunismus, wieder andere schlicht eine bessere Demokratie. Sophie macht die 68er verantwortlich für den "Gottesverlust", also für die fortschreitende Säkularisierung der Gesellschaft, für den "Zerfall der Institutionen", also die Fortschritte in den Bildungseinrichtungen Schule und Universität, für den "Werteverlust", als da wären "Etikette und Anstand", "Verlässlichkeit und Geborgenheit", "Respekt", für die "Zerstörung der Familie", für "Schlüsselkinder", für den "Bruch zwischen Eltern und Kindern", für "alleinerziehende Frauen", "Patchworkfamilien", "Graffiti", "Müll", für den Verlust des "Leistungsprinzips" usw. Sie lässt fast nichts aus, wofür die 68er nicht verantwortlich wären und das obwohl sie denen bescheinigt, weder wirklich antifaschistisch, bzw. antiautoritär, noch antikonformistisch gesonnen gewesen zu sein. Das alles zusammen genommen, ist doch eine wahnsinnige Leistung. So viel hat uns seit Horst Mahlers geistigem Mentor, dem CSU-Philosophen Günter Rohrmoser (Der Ernstfall) niemand mehr zugetraut, wir selbst am allerwenigsten. Freuen wir uns zusammen mit Sophie: Die Anarchie oder der Kommunismus ist zwar nicht ausgebrochen, etwas mehr Demokratie aber schon. Im Gegesatz zu Sophie bin ich der Meinung, wir hätten mehr, wir hätten es besser machen und mehr erreichen sollen. Vielleicht wären uns dann die Pogrome von Mölln, Solingen, Rostock und Hoyerswerda, der Krieg im Kosovo usw. erspart geblieben. Immerhin ist die DDR friedlich aufgelöst worden, immerhin stehen wir an der Seite Frankreichs gegen den Krieg im Irak, immerhin mussten Möllemann und Hohmann aufgrund ihrer antisemitischen Ausfälle von ihrer prominenten Bühne abtreten. Das wäre unter den Globkes, Kiesingers, Lübkes und Filbingers, gegen die wir antreten mussten, sicher nicht passiert. Trotzdem, mea culpa, Sophie hat Recht, wir sind verantwortlich für die heutige Gesellschaft, so wie es unsere Eltern waren für das Tausendjährige Reich. Verändern wir, was falsch ist oder nicht mehr in die Zeit passt, entwickeln wir uns und wenn nötig, schaffen den Kapitalismus eben jetzt ab. Sophie hat den Hut in den Ring geworfen, sie will (auch von ihren Eltern, von uns?) anerkannt werden und nicht länger außen vor bleiben.
28.11.2004 Hier die einzige positive Rezension (in Publik 2/2005, ver.di): "Das ist starker Tobak, aber mal eine echte Aufforderung zum Tanz mit den selbst erzeugten Klischees". (von JM) Kommentar in der Berliner Zeitung vom 23.12.04: Nie wieder ins Grips-Theater Ende eines Pseudonyms: Annegret Kunkel ist Sophie Dannenberg und ihr Buch ist nicht autobiografisch und stammt nicht von Jolo (Joachim Lottmann - siehe dazu taz vom 18.1.05) (Welt, 18.1.05) Sophie ist nicht die Tochter Otto Schilys:
Die wahre Identität der Sophie
Dannenberg (Spiegel,
17.1.05) |