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| Vom
Nachttisch geräumt |
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24.06.2003 |
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von
Arno
Widmann
Fachidiot der Revolution |
Sechzehn
Jahre umfasst das Tagebuch von Rudi Dutschke. Es ist eine
sensationelle Publikation. Es wird aufräumen mit dem Mythos von 1968.
Damals fand keine Befreiung statt. Der Muff unter den Talaren wurde möglicherweise
beseitigt. Aber nicht um endlich frische Luft zu haben, sondern um
besser im eigenen Mief ersticken zu können. Auf 370 Seiten ist der
mit weitem Abstand bekannteste Sprecher der außerparlamentarischen
Opposition (APO), Rudi Dutschke (1940-1979), an keiner Stelle von
irgendetwas begeistert. Nicht von der Liebe, nicht von der Natur,
nicht von Schönheit. Nicht einmal. Es gibt zwei Stellen, an
denen er vermerkt, dass es ihn freut, wenn er seine Kinder Musizieren
hört. Sonst kommt Musik nicht vor. Essen und trinken spielen
bei dem Anhänger des historischen Materialismus keine Rolle. Kein
einziger Roman wird gelesen, kein Gedicht. Malerei kommt nicht
vor. Die Natur lässt ihn kalt. Alles lässt ihn kalt.
Und doch ist er immer erregt. Denn er hat eine Freundin, die
ihn immer auf Touren bringt: die Theorie. "Savonarola"
nannten ihn damals viele. Sie hatten Recht. Wie sehr, können sie und
wir, die wir ihnen damals widersprachen, diesen Tagebüchern entnehmen.
Die Bücher, mit denen er seine Aktentasche vollstopfte, beschäftigten
sich mit nur einem Thema. Dutschke war ein Fachidiot der Revolution.
Er sah die Welt und alles darin durch diese einzige Brille. Wer auf
dem Vietnamkongress in Berlin war und die riesige Fahne sah, auf der
stand "Die Pflicht des Revolutionärs ist es, die Revolution zu
machen", den mochte damals schon für ein paar Schrecksekunden
die Wahnsinnigkeit dieses Anspruches anwehen, wer aber heute Dutschkes
Tagebücher liest, der wird entsetzt sein, wie ernst, wie exklusiv das
gemeint war. "Tote auf Urlaub" seien die Revolutionäre,
hatte Eugen
Levine gesagt. Es ist Dutschkes Lieblingszitat und er sagt es nie
mit Trauer, sondern immer mit Stolz. Als sei es ein Ehrentitel, das
einzige Leben, das man hat, wegzuwerfen wie einen Köder, um so
anderen möglicherweise ein besseres Leben zu verschaffen.
Die Welt, wie sie ist, wird immer wieder beschworen, aber sie wird an
keiner Stelle analysiert. Er weiß schon, wie sie ausschaut. Nämlich
so, wie er sie sich aus Marx
und Engels, aus Lukacs und
Karl
Korsch, aus Paul A. Baran und Paul M. Sweezy ("Monopolkapital",
1967, Suhrkamp), aus Ernest
Mandel und Hegel
zusammengekleistert hat in seinem ständig arbeitenden, aber stets am
selben Material sich abrackernden Geiste. Dutschke interessiert sich für
nichts, das außerhalb des von seinen Hausheiligen definierten
Terrains sich abspielt. Er ist darin ein durch und durch autoritärer
Charakter.
Selbst seiner Frau gelingt es nicht, ihn aus seiner Kapsel zu holen.
Natur zum Beispiel interessiert ihn erst, als sie sich in der Ökologiebewegung
als Opposition konstituierender und mobilisierender Faktor erweist.
Der Umsturz der bestehenden Verhältnisse ist seine idee fixe.
Nicht nur, dass er die damals gerne gestellte Frage, was er denn an
deren Stelle zu setzen vorhabe, nicht beantworten konnte, nein, es
bleibt auch ganz und gar unverständlich, warum die bestehenden Verhältnisse
überhaupt abgeschafft werden sollen. Es gibt keine einzige Stelle in
diesen über sechzehn Jahre hin geführten Aufzeichnungen, an denen er
sich - angesichts der Schwierigkeiten und der Möglichkeiten - diese
Frage stellt. Die Revolution ist Dutschkes Glaubensartikel. Sie ist
nicht - so sehr er das immer wieder mit Zitaten der "Klassiker"
zu belegen versucht - die notwendige - freilich immer auch vom Stand
des Erkenntnisvermögens der Erniedrigten und Beleidigten abhängige -
Folge des Status quo.
Dabei weiß Dutschke besser als die meisten Angehörigen der APO um
die Schwierigkeiten der sozialistischen Alternative. Er war in der DDR
aufgewachsen. Er war erbitterter Gegner jeder Liebäugelei mit
diesem angeblich realen Sozialismus. In diesen Tagebüchern finden
sich zahlreiche Stellen, an denen er klarmacht, dass die Revolution
ohne Lösung der deutschen Frage undenkbar ist. Es vergeht kaum ein 17.
Juni, ohne dass er die aufständischen Arbeiter verteidigt gegen
die Angriffe nicht nur der SED, sondern auch seiner APO-Genossen. Die
Lektüre seiner Tagebücher ist auch deshalb so deprimierend, weil man
davon ausgehen muss, dass Rudi Dutschke einer der intelligentesten,
wachsten, hellsten Köpfe der Studentenbewegung war. Der Rest dieser
Generation war über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte noch um vieles
verbohrter, blinder und tauber als dieser in seinem revolutionären
Spiegelkabinett sich selbst gefangen haltende rastlose Geist.
Gretchen
Dutschke, Rudi Dutschkes Witwe, ist zu danken. Sie hat diese Tagebücher
herausgegeben. Sie hält damit ihrer und meiner Generation einen wenig
schmeichelhaften Spiegel hin. Wir erkennen uns darin und sind froh,
dass wir so lange keine Chance bekamen, die Geschicke dieses Landes zu
bestimmen. Dutschkes und unsere Räterepublik wäre ein fürchterliches
Desaster geworden. Das Rätsel, wie fast eine ganze Generation, die
doch mit Hannah Arendt aufgewachsen war, die Eschenburgs und
Dahrendorfs Analysen der Bundesrepublik kannten, die Habermas'
klarsichtige Kritik hörten, sich mit Enthusiasmus in die
Auseinandersetzungen der kommunistischen Weltbewegung, der
sozialistischen Strömungen der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts
stürzen konnte, wird mit der Veröffentlichung dieser Tagebücher nur
deutlicher, rückt aber einer Lösung keinen Millimeter näher.
Gretchen Dutschke ist auch dafür zu danken, dass sie die Stärke
hatte, die anderen Frauen im Leben ihres Mannes und auch dessen autoerotische
Reflexionen nicht aus den Tagebüchern zu streichen.
Rudi Dutschke, Jeder
hat sein Leben ganz zu leben - Die Tagebücher 1963-1979,
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, 430 Seiten, zahlreiche
s/w Fotos, 22,90 Euro, ISBN 3-462-03224-0. Bestellen.
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