Maskerade und Wirklichkeit
Zu Gerd
Langguth: Mythos `68. Die Gewaltphilosophie von Rudi Dutschke
- Ursachen und Folgen der Studentenbewegung
Symbolismus und Revolte
Gerd Langguth gehört zu den vielen "Besessenen",
die vom Thema "1968" nicht loskommen. Aus seiner
Feder stammt: "Protestbewegung am Ende, die neue Linke
als Vorhut der DKP", eine Schrift, die schon sehr früh
gegen die Illusionen der Rebellen zu Felde zog, ihre Nähe zu
DDR und DKP offenlegte und zugleich einer eher konservativen
Öffentlichkeit die Ereignisse und Umbrüche der
Studentenrevolte erläuterte. Über die Ursprünge und Ziele
des Terrorimus hat er mehere Aufsätze verfaßt. Er gehörte
1968 zu den Gegenspielern der "Dutschkisten", die im
Ring Christlich Demokratischer Studenten (RCDS) sich abmühten,
eine Gegenposition zu gewinnen und den antiautoritären Einfluß
an den Universitäten zurückzudrängen. Es gelang nur bedingt,
denn in den eigenen Reihen war die Faszination vor dem "Kulturbruch
`68" groß. Später arbeitete er in den oberen Rängen
der CDU, ging jedoch zurück in die Wissenschaft und arbeitet
heute als Professor für Politikwissenschaften an der
Universität Köln.
Diese persönliche Vorgeschichte muß der Leser kennen, um die
Akribie zu verstehen, mit der Langguth die Stellungnahmen und
Zitate von Dutschke seziert, auseinandernimmt und abwägt, um
immer wieder deutlich zu machen, daß dieser nicht nur der
"gute Mensch von Sezuan" war, zu dem ihn ein
subtiler Kult der Erinnerung erhoben hat, sondern daß
Dutschke durchaus einen Anteil an der Glorifizierung von
Gewalt und Bürgerkrieg in Mitteleuropa hatte, zu deren ersten
Opfern er gehörte. Sich mit dem Mythos im Bereich des "Politischen"
auseinanderzusetzen, bedeutet sicherlich auch, den Stellenwert
der "politischen Religionen" nicht nur bei den
Extremparteien zu entschlüsseln. Auch bei dem Block der
bestehenden Staats- und Oppositionsparteien lassen sich in
Propaganda und Werbung durchaus Züge heidnischer Rituale
erkennen.
Die Legitimation politischer Entscheidungen, verlassen sie den
Bereich von Gesetz und Verfassung, arbeitet mit Legenden,
Inszenierungen, Ritualen, Persönlichkeitskulten, die eher
religiösen Charakter haben und nicht mehr zur rationalen
Staatspolitik gehören. Oft gilt es, Manipulationen,
Fehlverhalten, politisches Versagen, Korruption zu verdecken
und die innerparteiliche Demokratie über derartige
Kulthandlungen zu überspielen, um die Parteigänger und Wähler
zu beruhigen. Extremparteien als Sammlungsbewegungen, die die
allgemeine Unzufriedenheit und Aufbegehren im "Volk"
politisieren wollen, arbeiten immer wieder mit derartigen
religiösen Formen. Sie sind allerdings auch nicht den
herrschenden Staatsparteien fremd. Gerade auch die "Zirkulation"
und die Rekrutierung der Eliten verläuft in dem Rahmen "religiöser
Politik", falls die traditionellen Eliten keinerlei
Kontinuität von Machtwillen oder Herrschaft aufbringen. Die
beiden deutschen Teilgesellschaften lebten als abhängige
Republiken ab 1945 von der Einflußnahme der Großmächte auf
die Festlegung der Eliten. Es gab unterschiedliche Eingriffe
und Brüche in der Entwicklung der politischen Eliten.
Derartige Führungspersönlichkeiten bildeten im Westen etwa
mit Adenauer, Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder bestimmte
"Charaktermasken" oder "Typen" von Elite,
die den Aufstieg, die Diskontinuität, Abhängigkeit oder das
Selbstbewußtsein derartiger Politikmacher im neuen
Deutschland darstellten. Sie hatten jeweils ihre Gegenspieler
und Gegeneliten, die im Extremmilieu erzogen wurden und die
nicht selten trotzdem in die Zentren der Macht vorstießen.
Dutschke wäre deshalb als Gegentypus oder Gegenspieler zu den
Kanzlern Brandt und Schmidt interessant, der ähnlich wie
diese aus einem Sozialmilieu entstammte, das traditionell in
Deutschland kaum die Entscheidungsträger aus den oberen
Etagen von Staat und Macht gestellt hätte. War Dutschke
wirklich nur ein potentieller Gewalttäter, ein Vordenker der
RAF, wie Gerd Langguth zu beweisen sucht, oder verkörperte er
nicht auch zugleich einen anderen Typus von Politik? Die Frage
muß deshalb gestellt werden, weil andere Verkörperungen von
Politik wie etwa Andreas Baader, einzelne Exponenten aus den
ML-Parteien oder Josef Fischer seine Erbschaft von Führerschaft
und politischer Religion aufnahmen, so daß 1998 bei dem
Machtwechsel in Bonn der Eindruck entstand, daß ein Teil der
"Dutschkisten" als Eliteformation in die Zentren
politischer Macht vorgestoßen sei.
Langguth demonstriert den Zusammenhang an der Affäre Fischer.
Kurzfristig flimmerten Filmszenen über die visuellen Medien,
auf denen der Frankfurter Streetfighter in einem "Tanz"
mit einem jungen Polizisten gezeigt wurde. Fischer hatte sich
aus dem Kampfpulk der Mitstreiter gelöst und traktierte einen
jungen Beamten, der längst nicht so behend war wie sein
Gegner. Beide hatten sich wie Turnierritter mit schwerem Helm
und dicken Sachen verkleidet, um die Hiebe besser abwehren und
ertragen zu können. Diese Aufnahmen waren Anlaß für die
Presse, über die Rolle des Außenministers im Frankfurter
Gewaltmilieu zu spekulieren. Immerhin kamen aus diesen Reihen
Leute, die eine Nähe zur Roten Armee-Fraktion (RAF)
demonstriert hatten oder in die geheime Front der Revolutionären
Zellen gegangen waren. Noch ein Gerücht wurde verbreitet. Der
sportliche Fischer sollte derjenige gewesen sein, der eine
Benzinbombe in ein Polizeiauto geworfen hatte, das daraufhin
explodiert war. Ein Polizist konnte im letzten Augenblick das
brennende Gefährt verlassen. Auf einen Wink aus irgendeinem
"Rat der Götter" hin vestummten alle Mutmaßungen
über das Revolutionsleben des heutigen eher biederen Außenministers.
In den siebziger und achtziger Jahren noch waren Postboten und
Schaffner überprüft und aus dem staatlichen Dienst entlassen
worden, konnte ihnen die Mitgliedschaft in linksradikalen
Organisationen nachgesagt werden. Heute nun war ein
stadtbekannter Streetfighter Vizekanzler und wurde eingeweiht
in die höchsten Kriegsgeheimnisse von USA und NATO. Es konnte
nicht nur daran gelegen haben, daß der sprachgewaltige
Fischer eine relativ starke Friedenbewegung oder die grüne
Partei auf sein Machtkalkül hin umgepolt hatte, daß ihm nun
die Rolle des "Fürstens" von den Mächtigen dieser
Republik angetragen wurde. Über dieses Vorleben sollte so
wenig befunden werden wie über die alten Schatten der anderen
grünen Würdenträger wie Schlauch, Trittin, Vollmer u. a.,
die mit Fischer in die oberen Ränge des Staates eingerückt
waren und die alle aus den linksradikalen Parteien von KPD,
KBW, KB Nord usw. entstammten und früher als Umstürzler und
Revolutionäre vom "Verfassungsschutz" observiert
worden waren. Dieser "Opportunismus" der Parteigänger
der Grünen, die alle ihre Illusionen und Utopien über "Nacht"
für die Teilhabe an der Macht und für Geld und Privilegien
aufgegeben hatten, hätte auch Dutschke treffen können, so daß
die Studie neben der Gewalt die Quellen der "negativen
Integration" dieser Opposition in die bestehende Ordnung
bzw. die verschlungenen Wege von Elitenbildung in Deutschland
hätte untersuchen können. Diesen Fragestellungen folgt
Langguth nicht.
Die Frage bleibt jedoch, ob eine außerinstitutionelle Revolte
als "Generationsbewegung" sich über Einzelpersonen,
Ideengeber und Symbolfiguren, z. B. primär über Dutschke,
entschlüsseln läßt, oder ob andere Kriterien wie etwa die
Generationspsychologie, der Kulturbruch in den sechziger
Jahren, die Legitimationskrise von Staat und Parteien, der
Reformdruck, die mißratene Bildungspolitik, die
technologische Dynamik von Veränderung, die politische Veränderung
des Status quo zwischen den Großmächten, die
Kolonialrevolutionen, soziale Umschichtungen erst zu Rate
gezogen werden mußten, um Aussagen über eine neuartige
Opposition machen zu können. Aber nehmen wir den Ansatz von
Langguth ernst, so war Dutschke als Person, Idee, Position und
Rolle Symbolfigur für soziale Aufbrüche und Handlungen im
westlichen Nachkriegsdeutschland. Er stammte aus dem
intellektuellen Milieu der Universitäten und gehörte zu den
nachwachsenden Generationen, die nicht bereit waren die Werte
einer gesatzten Ordnung von Staat, Parteien, Verbände und der
Institutionen von Bildung und Kultur zu übernehmen. Im Denken
und Agieren von Dutschke entstand ein Generationsbild. Vom
Gesichtspunkt der bestehenden Ordnung war das jugendliche
Aufbegehren antiinstitutionell, außerhalb des Grundgesetzes
und als "Bewegung" in sich irrational und mystisch
geprägt. Dutschke wurde zu dem Symbol von `68, teils durch
die Medien in Szene gesetzt, teils von den Revolteuren
kurzfristig als Sprecher der Wünsche und Ziele anerkannt. In
seinem "Charisma" lag eine archaische Übereinstimmung
der Akteure mit ihrem Medienstar, der weniger als
"Duce" oder "Leader" einer Gewerkschaft
oder Partei wahrgenommen wurde, sondern den Revolutionär
vergangener Revolutionen nachspielte und in dieser
spielerischen Rolle auch anerkannt wurde. Seine Nähe zur
Gewalt, seine Machtphantasien, sein Radikalismus wären, so
jedenfalls Langguth, die Ideen und Tugenden einer Revolte und
ihrer unterschiedlichen Akteure. Sie besaß wie Dutschke
keinen positiven Bezug zur bestehenden Ordnung, sondern war
ihre abstrakte Negation. Diese allgemeine Verweigerung
konkreter Rebellen der gesetzten Gesellschaft gegenüber hatte
ihre Grenzen in ihren biologischen Lebensphasen. So konnten
die symbolischen Nachfolger von Dutschke, etwa Andreas Baader,
der Commandante der RAF, oder Josef Fischer, der Chef der
Putztruppe im Außenministerium der Republik, diese
Antihaltung nicht ewig fortsetzen. Der Commandante verübte in
Stammheim Selbstmord. Der Außenminister verteidigte die Ziele
der ehemaligen Feindmacht USA und machte sich für das
kapitalistische Europa verdient und verdrehte dadurch die
abstrakte Antihaltung ins "Positive" und blieb sich
trotzdem treu. Die abstrakte Verweigerung würde die Kehrseite
der allgemeinen Verzweiflung oder des großkotzigen
Opportunismus besitzen. Das Symbol Dutschke verkörperte den
Zwang zur Anpassung an die staatliche Ordnung, hatten Aufruhr
und Revolte keinen Erfolg. Jede Abweichung von der Normalität
trug neurotische und irrationale Züge und explodierte in Tod
und Terror oder sie mußte die herrschenden Normen akzeptieren
und sich "normalisieren". So jedenfalls würden die
Systemtheoretiker Revolte und Aufruhr interpretieren.
Schritte zur Entdämonisierung von Dutschke
Langguth interessiert sich weniger für eine Funktionsanalyse
der "symbolischen Interaktion". Auch die "Dialektik"
von Revolutionismus und Opportunismus ist nicht Gegenstand
seiner Untersuchung, obwohl Dutschke über Lenin und Lukacs
von der Absorptionskraft des "Faktischen" wußte und
gerade deshalb die "Naturwüchsigkeit" der Verhältnisse
unterlaufen wollte. Langguth will nachweisen, daß über das
symbolische Denken von Dutschke die Frage der Gewalt ohne
Vorbehalte in der neuen Linken diskutiert wurde, und er
dadurch ein Vordenker des Terrorismus wurde. Mehr noch, er
will nachweisen, daß das Linksdenken als abweichendes Denken
immer eine Nähe zum Irrationalismus besaß und sich in der
Spannung von Romantik und Faschismus bewegte. Dadurch gerät
kritisches Denken überhaupt in Verdacht und die Übermacht
des Bestehenden erhält die Weihe von Wahrheit und Realismus.
Langguth kann belegen, daß Dutschke die Gewalt als
Gegengewalt zur staatlichen Ordnung ausdrücklich akzeptierte.
Er war überzeugt, daß eine Opposition als "legale"
Organisation oder Verein, immer auch illegale Bezüge von
Widerstand und Gegenwehr besitzen mußte, um gegenüber einer
"wehrhaften Demokratie" bestehen zu können, die den
Gegner sehr schnell in den Verdacht bringen konnte, nicht auf
der Grundlage der "freiheitlichen Grundordnung" zu
stehen. Um dem Anpassungsdruck zu entgehen, sollte die neue
Opposition nicht als "Partei" konstituiert werden,
sondern die Gestalt von Bewegungsformen annehmen, zu denen
auch die eher illegale Verteidigung gehörte. Als "subjektiver
Faktor" zu gelten und in die Offensive zu gehen,
verlangte nach Dutschke die unterschiedlichen Initiativen und
Aktionen, die sich auf keinen Fall zu einer Interessenpartei
subsumieren ließen. Da diese Opposition gegen die us-amerikanische
Militärmacht Front machte und internationale Beziehungen
aufnahm, mußte ihre Illegalisierung als Tatsache vorgedacht
werden. Dutschke ging noch weiter und er plante Sabotageakte
gegen Militäreinrichtungen, Schiffe und Sendeanlagen der US-Streitkräfte.
Auf dem internationalen Vietnamkongreß wurden Beziehungen zu
den unterschiedlichen Partisanengruppen in Westeuropa, etwa
der IRA, ETA, den entstehenden Roten Brigaden aufgenommen, um
die Kämpfe zu koordinieren. Konspirative Wohnungen wurden
angemietet, Dynamit beschafft, eine Koordinationsstelle
geschaffen und trotzdem entstand aus der APO heraus keine
erste Partisaneneinheit. Langguth muß zugestehen, daß
Dutschke Vordenker der Stadtguerilla und der RAF war und nicht
ihr Begründer.
Langguth analysierte nicht, was Dutschke abhielt, den Schritt
in den illegalen Widerstand zu gehen. Er wurde sich sehr
schnell bewußt, daß nicht nur die Medien ihn zu einer
Kultfigur aufbauten, die er nicht sein wollte. Es gab auch
bestimmte Gefolgsleute, die ihm die Führerschaft und den
eigenen Gehorsam antrugen. Es gab vielfältige Erwartungen,
die er nicht bedienen wollte. Deshalb nahm er durchaus die
Kritik von Freunden auf, die seinen Existenzialismus von
Entscheidung und "letztem Gefecht" in Zweifel zogen.
Er hatte Bedenken, ob seine Gesellschaftsanalyse die
revolutionären Zuspitzungen aushielt bzw. die Wirklichkweit
richtig wiedergab. Ihm war bewußt, daß eine illegale
Organisation militärisch aufgebaut sein mußte, Befehl,
Kommando, Hierarchie dominierten und die Verfolger aus Polizei
und Militär die Logik der Kampfhandlungen festlegten.
Dutschke wollte kein Commandante sein. Ihm blieb auch ein
revolutionärer Militarismus unheimlich und er wußte daß die
illegale Armee schließlich die Gesamtheit der Opposition
bestimmen würde. Die Ideen von Freiheit und Emanzipation würden
der militärischen Disziplin und Hingabe weichen. Er machte
sich auch keinerlei Illusionen, daß eine derartige "Geheimarmee"
in der Waffenbeschaffung, Logistik, Training, Konspiration usw.
von anderen, meist ausländischen Kräften abhängig sein würde.
Eine derartige illegale Front verlor nicht nur ihren
demokratischen Status, sie wurde immer auch Objekt äußerer
Einflüsse und zerstörte dadurch die Unabhängigkeit und die
Selbsttätigkeit der radikalen Opposition. Deshalb gab
Dutschke dem Drängen seiner Frau nach, aus Deutschland
auszuwandern und in die USA nach Chicago zu gehen. Er
entwickelte die "Theorie der temporären Führer"
und machte dadurch deutlich, daß die neue Opposition
zumindest so demokratisch sein mußte, um die Verselbständigung
von Führerschaft, Politbüro oder "Küchenkabinett"
zu vermeiden. Führungspositionen mußten grundsätzlich
austauschbar und rotierend sein. Jeder Führerkult zerstörte
die demokratischen Anliegen der Opposition. Bevor Dutschke in
die USA emigrieren konnte, traf ihn der Schuß des Attentäters.
Nur deshalb scheinen Gewaltphantasien das letzte Fanal des
militanten Dutschke zu sein.
Revolution und Demokratie
Die Schriften über die "Demokratisierung" der
deutsch-deutschen Verhältnisse enthielten bei Dutschke
durchaus einen Widerspruch zu seinen Vorstellungen von
Widerstand und Gewalt. Sie finden bei Langguth nicht die
notwendige Aufmerksamkeit. Eine europäische Gesellschaft war
nach Dutschke nicht frei von den Ergebnissen ihrer Umstürze
und Revolutionen, sollte die Demokratie alle sozialen
Schichten erfassen. Das Grundgesetz blieb für ihn eine
amputierte Demokratie, lediglich bezogen auf den
Parteienpluralismus bzw. das Parteienprivileg, solange nicht
alle Elemente der kommunalen, plebiszitären und der
wirtschaftlichen Demokratie, die alle in den Revolutionen von
1848 und 1918 angesprochen und zum Teil in der Weimarer
Reichsverfassung verankert wurden, verwirklicht waren. Jede
Demokratie besaß unterschiedliche Ausprägungen und ihre
unterschiedlichen Formen führten die unterschiedlichen
Interessenträger an die politischen Entscheidungen heran.
Demokratie ließ sich nur durch die demokratische Vielfalt
kontrollieren und vollziehen. Deshalb bezog sich eine
Studenten- und Hochschulrevolte nicht zufällig auf die
historischen Revolutionen in Deutschland. Hier mußte der
Student als ein "abstrakter Bürger" die bürgerliche
Demokratie in allen Gremien und Bereichen verwirklichen und mußte
die "Universität" als gesellschaftliche Institution
erheben zum Faktor der Demokratisierung der Gesellschaft.
Kommunen, Behörden, Fabriken, Länder mußten vom Prozeß der
Demokratisierung erfaßt werden, der an der Hochschule seinen
Ausgangspunkt hatte. Die Studenten mußten den Status des
"Bürgers" ablegen und jeweils Bündnisse eingehen
mit den unterschiedlichen Schichten, Milieus und Berufsgruppen,
um den Funken der Rebellion zu verallgemeinern. Die APO konnte
deshalb nicht bloß "Partei" sein. Sie war
gleichzeitig Initiative, Bewegung, Bündnis, die jeweils
soziale Zusammenhänge herstellten. Unterschiedliche Kampagnen
und Ereignisse, etwa die Springerkampagne, die Anti-Vietnam-Manifestationen,
Hochschulstreiks sollten Ereignisse darstellen, die eine Nähe
zu Volksstimmungen herstellten. Die Studenten als Bürger
sollten ihr Studium abschließen und ihren Beruf aufnehmen,
dort jedoch im Sinne der demokratischen Umwälzung tätig
werden und verbunden bleiben mit dem großen Werk der
Demokratisierung Deutschlands. Das war der wirkliche Gehalt
des "langen Marsches durch die Institutionen", ein
Prozeß der Veränderung, der bewußt nicht mit "Bürgerkrieg"
gleichgesetzt wurde. Dutschke besaß allerdings die Überzeugung,
daß die USA eine derartige "Demokratisierung" nicht
dulden würde. Im Zuge der Aufstände der "dritten
Welt" in den "Metropolen" und in den USA sollte
diese Großmacht militant bekämpft werden.
Später, nach seiner Genesung, würde Dutschke vollends
Abstand nehmen von den Gewaltvorstellungen, gerade auch weil
RAF und "2. Juni" mit der Rücksichtslosigkeit und
Gewalt ihre Trennung von einem demokratischen Kampf
demonstrierten und deutlich machten, daß sie mit östlichen
Geheimdiensten kooperierten. Dutschke wußte allerdings auch,
daß diese Partisanen den "Gewalt-Mythos"
aufgenommen hatten, den er 1968 angestimmt hatte. Deshalb
wollte er sich nicht abstrakt distanzieren, sondern überzeugen,
den illegalen Kampf aufzugeben. Nach der Deformierung der APO
in den Autoritätskult der K-Gruppen oder der DKP, war
Dutschke bemüht, immer wieder aufzuzeigen, daß die
Bundesrepublik sich nicht zurückbewegte in die
Gesellschaftsform des 19. Jahrhunderts, sondern daß die
Klassengesellschaft in Auflösung begriffen war und Politik über
die Demokratisierung Zugang finden mußte zu den neuen
Sozialmilieus, Interessen und Vorstellungen. Dieses Mal war er
daran interessiert, neben der "heimatlosen Linken"
auch die "heimatlose Rechte" anzusprechen, um von
Anfang an eine Opposition zu begründen, die eine soziale
Breite aufwies und gerade auch die Wähler von CDU/CSU anrührte.
Für ihn war unbestreitbar, daß die Sowjetunion
zusammenbrechen würde, weil ihr "politisches
System" den sozialen und technologischen Ansprüchen
nicht mehr gewachsen war. Kam es zum Einsturz der sowjetischen
Macht, würde Osteuropa und die DDR zusammenbrechen und würde
auch das westliche Deutschland in den Sog politischer Veränderungen
geraten. Für diesen Fall mußte die neue Opposition gewappnet
sein.
Gerd Langguth hat äußerst gründlich die Aufsätze und
Stellungnahmen von Dutschke studiert und er hat sich zum großen
Teil auch auf meine Schriften über den "archaischen
Gehalt" von APO und SDS bezogen. In langen persönlichen
Gesprächen mit ihm habe ich erläutert, warum die APO in der
Gewalt den Geburtshelfer der neuen Gesellschaft gesehen hatte
und wieso dieser Gewaltkult den demokratischen Zusammenhalt
dieser Opposition zerstörte und die einzelnen Gruppen in die
Ideologien des 19. Jahrhunderts trieb. Dadurch wurde das
demokratische und emanzipative Anliegen dieser Opposition
aufgelöst und in das Gegenteil von Autoritarismus und
kultischem Handeln getrieben. Langguth hat deshalb ein
kenntnisreiches Buch geschrieben, aber er bleibt der Politik
des Faktischen verpflichtet, die ihre Struktur- und
Legitimationskrise seit 1968 nicht überwunden hat. Allein
deshalb wird es notwendig sein, auch an die andere Seite von
Dutschke zu erinnern.
Gerd Langguth, Mythos `68. Die Gewaltphilosophie von Rudi
Dutschke - Ursachen und Folgen der Studentenbewegung, Olzog -
Verlag, München 2001, 223 S., € 24,80
published in www.kalaschnikow.de
Update: Berlin Fr.,
05.04.2002 |