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Christoph
Jünke Ein Zyniker war er nie
Am 4.Mai starb der Politikwissenschaftler und Sozialist Johannes Agnoli.
Am 4.Mai ist im Alter von 78 Jahren Johannes Agnoli in Norditalien gestorben, wohin er sich nach seiner Emeritierung im Jahre 1990 ganz zurückgezogen hatte. Zeitlebens zwischen Italien und Westdeutschland pendelnd, lehrte Agnoli bis 1990 Politikwissenschaften an der FU Berlin und war als im besten Sinne politischer Wissenschaftler auch ein herausragender Vertreter der westdeutschen neuen Linken.Johannes Agnolis Schriften kreisen um die Politik und ihr konzentriertes Feld, den modernen Staat. Seine Staatskritik ist Kern einer Kritik bürgerlicher Politik in Zeiten des Spätkapitalismus, an die sich zu erinnern nicht nur lohnt, weil ihr Protagonist gestorben ist. Denn »gerade der Gegenstand Kapitalismus und sein Staat ist nicht nur nicht überholt, hat vielmehr alles übrige überholt und weggeräumt« (Agnoli). Daß Johannes Agnoli in seinem langen Leben einiges mehr geschrieben hat als nur die 1967 erschienene Schrift »Die Transformation der Demokratie«, davon legen seine im Freiburger Ça Ira-Verlag verlegten »Gesammelten Schriften« ausreichend Rechenschaft ab. Trotzdem bleibt »Die Transformation der Demokratie« vollkommen zu Recht ein Klassiker zeitgenössischer Demokratietheorie. Agnoli beschreibt und analysiert darin die dem Spätkapitalismus immanente Tendenz zur sogenannten Involution. Als Gegenbegriff zur Evolution bezeichnet Involution, so Agnoli, »sehr genau den komplexen politischen, gesells chaftlichen und ideologischen Prozeß der Rückbildung demokratischer Staaten, Parteien, Theorien in vor- oder antidemokratische Formen«. Der der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegende Klassenkampf zwischen Lohnarbeit und Kapital werde mittels des Verfassungsstaates zum bloßen Verteilungskampf zurückgebildet und der Antagonismus dadurch pluralistisch entschärft. Der seiner demokratischen Substanz zunehmend entleerte Staat erscheint vor diesem Hintergrund als neutraler Schiedsrichter zwischen den vielfältigen Interessen und verschleiere so seine ihm eigene soziale Gewalt.Agnoli zeigt auf, daß und wie das staatliche System zum aktiven Organisator des zum Überleben des Kapitalismus so wichtigen sozialen Friedens, zum »Instrument« der herrschenden Klasse wird – nicht im verschwörungstheoreti schen, sondern im funktionellen Sinne. Der Staat läßt sich weder auf formaldemokratische Regeln, Normen und Verteilungsbestimmungen reduzieren noch auf seine Funktion für die kapitalistische Ökonomie und/oder ihre herrsch ende Klasse. Er ist auf spezifische Weise in die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft als Ganzes eingeschrieben und so auch einem Funktionswandel unterworfen. Agnolis Einsicht in den integrierenden Strukturcharakter bürgerlicher Demokratie war immer auch offen für einen gewissen Linksradikalismus, der die Möglichkeiten linker Politik nur noch als »Antipolitik«, als anti-institutionelle »Kraft der Negation« zu fassen vermag – zumal in einer Zeit des Niedergangs sozialistischer Bewegung. Doch so sehr er mit solchen Positionen auch kokettiert hat, den politischen Nihilismus mancher seiner selbster nannten Schüler hat er nicht mitgemacht. Ein Zyniker war er nie.Sein Vermächtnis bleibt die immer wieder aktualisierte Erkenntnis, daß der Staat als solcher, prinzipiell und egal in welcher Form, ein gesellschaftliches Zwangsverhältnis von Herrschaft und Unterordnung ist. Ein Zwangsverhältnis, das es in Anlehnung an den aufklärerischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes, verächtliches und entwürdigtes Wesen ist, abzuschaffen gilt.Dies verband Johannes Agnoli nicht nur mit dem marxistischen Sozialismus, es verband ihn auch mit jenem radikalen Humanismus vermeintlich bürgerlicher Provenienz, der sich theoretisch niederschlug beispielsweise in seinem Buch über die Geschichte der Subversiven Theorie (Band 3 der Gesammelten Schriften), der sich aber auch praktisch niederschlug in seinem offenen und lebendigen Wesen, das jene faszinierte, die ihn auch persönlich kennenlernen durften.
Junge Welt vom 07.05.2003 |
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