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Rüdiger Stuckart
Geb. 1944
gest. 7. Juni 2004
Die Sache mit dem Vater, der Berufsweg, das Private: ein 68er.
Im Grunde betraf es jeden, nicht nur ihn. Sechs Millionen ermordete
Juden. Rüdiger Stuckarts Vater war einer jener fünfzehn Funktionäre,
die im Januar 1942 am Konferenztisch der Villa am Wannsee den
Holocaust organisierten. Er war Jurist und Staatssekretär im
Reichsministerium des Inneren.
Eine Spruchkammer stufte Wilhelm Stuckart nach dem Krieg als
"Mitläufer“
ein, für Rüdiger blieb der Vater zeitlebens ein Krimineller.
Wie hätte er auch seinen Frieden mit ihm machen können? Rüdiger
Stuckart hat seinen Vater kaum kennen gelernt. Nach dem Krieg saß
er in Haft, als Rüdiger sechs war, wurde Wilhelm Stuckart entlassen.
Er zahlte 50000 Mark Geldstrafe. Liebenswertes konnte sein Sohn an
ihm nicht finden. Sein Vater war ein harter, autoritärer Brocken.
1953 starb Wilhelm Stuckart bei einem Autounfall. Aber die Schuld
lebte leise weiter.
Die Mutter schwieg. Die beiden älteren Brüder hielten sich bedeckt.
Nur langsam sickerte die Wahrheit durch. Als Rüdiger begriff, was
sein Vater getan hatte, war er alt genug, die Familie zu verlassen
und nach West-Berlin zu gehen. Hier musste er keinen Wehrdienst
leisten, hier war alles anders. Er nahm ein Soziologie-Studium auf,
fuhr nachts Taxi und las sich die Augen wund. Während seine Brüder
im Lichtjahre entfernten Westdeutschland ordentliche bürgerliche
Karrieren machten, der eine als Ingenieur, der andere als Jurist,
gehörte Rüdiger zu den Studenten, die demonstrierend durch die
Straßen zogen – gegen den Vietnamkrieg, für eine andere
Gesellschaft.
Dem Soziologie-Studium folgte eine Sonderschulausbildung. Denn da
war noch etwas, ein zweiter schwarzer Fleck in der
Familiengeschichte. Dass es einen dritten Bruder gegeben hatte, der
Anfang der Vierziger Jahre in einer Klinik gestorben war, das wusste
Rüdiger schon länger. Dass es ein behindertes Kind gewesen war,
das erfuhr er erst jetzt. Er konnte es nicht beweisen, aber er
vermutete einen Fall von Euthanasie.
Und also verschrieb er, der immer Konsequente, sich im Arbeitsleben
ganz der Integration behinderter Kinder und Jugendlicher. Mit "Integrativen
Kinderläden“ fing es an, später wurde er bei Rektoren vorstellig
und erklärte ihnen, dass und wie man Behinderte in den ganz
normalen Schulbetrieb einbeziehen muss.
Rüdiger Stuckart war ein Achtundsechziger, im Beruflichen wie im
Privaten: Als er Francine kennen lernte, eine junge
Kinderpsychologin aus der französischen Schweiz, wohnte er noch mit
seiner Tochter und der Ex-Freundin zusammen in einer
Wohngemeinschaft, doch das Verhältnis war längst geklärt. Nun
bezog Francine ein Zimmer in der Nachbar-WG. Mal war er drüben bei
ihr, mal kam sie zu ihm. Als das permanente Türenaufschließen lästig
wurde, zogen sie gemeinsam mit vier weiteren Freunden in ein
ehemaliges besetztes Hinterhaus in Kreuzberg.
Rüdiger Stuckart blieb bei seinen Idealen – nicht nur auf Kosten
einer geschmeidigen Karriere, manchmal auch zu Ungunsten des
Familienlebens mit Francine und den zwei Kindern, die noch kamen.
Erst der Prostata-Krebs veränderte seinen Blick auf das Eigene. Ein
neuer Kampf begann. Nicht nur gegen die Krankheit, auch gegen die
Eilfertigkeit der Ärzte. Eine Operation kam nicht in Frage, er
wollte seine Sexualität nicht aufs Spiel setzen. Er suchte nach
alternativen Heilmethoden und nach Leidensgenossen, mit denen er
eine Selbsthilfegruppe gründete.
Fünf Jahre lang ging es mit dem Krebs hin und her – und Rüdiger
Stuckart wurde sanfter, weicher. Er lernte, die schönen Dinge des
Lebens sehen: Einen blühenden Krokus, den Sonnenaufgang, wenn er am
Wintermorgen in den Treptower Park zum Chi-Gong radelte. Die Familie
beglückte er als hingebungsvoller Koch.
Nur mit einer Sache kam er nicht ins Reine. Sie verfolgte ihn bis in
die Träume. Worin er die Ursache seines Krebses sehe, fragte ihn
ein Alternativmediziner. Rüdiger Stuckart zögerte nicht: "In der
Geschichte meines Vaters.“
Stephan Reisner
tagesspiegel
am 5.11.04
Weitere Links zum Staatssekretär im Reichsministerium des Innern
Wilhelm
Stuckart (engl) und die Wannseekonferenz:
Wilhelm
Stuckart (deutsch)
W.S.
in the Encyclopedia of the Holocaust
Forschung zu W.S.
in HU Berlin (Leitung: Hans-Christian Jasch)
Bibliography
Berenbaum, Michael, ed. Witness to the Holocaust. New
York: HarperCollins, 1997.
Browning, Christopher. "Wannsee Conference." Encyclopedia
of the Holocaust. Ed. Israel Gutman. Vol. 4. New York: Simon
& Schuster, 1990. 1591-94.
Hilberg, Raul. The Destruction of the European Jews. 3
vols. New York: Holmes & Meier, 1985.
Yahil, Leni. The Holocaust: The Fate of European Jewry.
New York: Oxford University Press, 1991.
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