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Geb. 1942: Peter Tautfest
Der Kopf ist zum Denken da – aber er taugt auch, um gegen die
Wand zu rennen. Ein Kopfmensch ist durch und durch rational. Er
raucht nicht und treibt Sport. „Dann ist es ja gut, dann wird das
harmlos sein, was Sie da haben“, sagte der Lungenarzt.
Die Welt ist alles, was der Fall ist. Es gibt gute Politiker,
schlechte Politiker; falsche Entscheidungen, richtige Entscheidungen;
logische Sätze, unlogische Sätze, und es gibt den Krebs. Die häufigsten
Arten bei Männern sind Bronchialkrebs, Prostatakrebs, Darmkrebs und
Lungenkrebs. Letzterer lässt sich vermeiden, wenn man nicht raucht.
Logisch. Peter Tautfest war Nichtraucher. Militanter Nichtraucher.
Er war Schlittschuhläufer, Schwimmer, Fahrradfahrer, Skater,
Antialkoholiker, Drogenverächter.
„Sie sind starker Raucher?“, fragte der Arzt. „Ich habe mein
Lebtag nie geraucht!“ „Dann ist es ja gut, dann wird das harmlos
sein, was Sie da haben.“ Das Röntgenbild zeigte einen
tennisballgroßen Fleck auf der Lunge. Dem Lebenswandel nach hätten
die Röntgenbilder vertauscht sein müssen, waren sie aber nicht.
Lungenkrebs. Tochtergeschwülste bereits gestreut. Nicht nur in der
Lunge, im ganzen Körper. Auch im Kopf. Die Standardfrage: Wie lange
noch? Der Arzt schätzt einige Monate, im günstigsten Fall.
Tschernobyl, Pestizide, Kerosin, Nitrofen – wer trägt die Schuld?
Keine Ahnung. Die Frage zermürbt, ohne auch nur einen Funken
Hoffnung auf Antwort zu lassen. Drei Chemotherapien, zwei
Strahlentherapien – alles in allem zwei Jahre Zugewinn, nachdem
die Diagnose gestellt wurde. Doch noch zwei Jahre. Nur zwei Jahre.
Der Kopf ist zum Denken da, aber in diesem Fall taugt er auch, um
damit gegen die Wand zu rennen. Peter Tautfest war ein Kopfmensch,
durch und durch rational, zumindest verstand er sich selbst so. Der
Vater Amerikaner, die Mutter Deutsche. Peter wird in Deutschland
geboren, geht in Texas aufs College, kehrt zum Studium zurück nach
Berlin. In Deutschland legt er Wert darauf, als Amerikaner zu gelten.
Was für viele seiner linken Genossen im SDS, dem Sozialistischen
Deutschen Studentenbund, schon fast Vaterlandsverrat an der Idee der
klassen- und grenzenlosen Gesellschaft ist, dass er sich als
amerikanischer Patriot sah, als Verfassungspatriot, Anhänger der
bewaffneten Rebellion, die einst Amerika im Namen der Menschenrechte
einte – gegen die Briten. In Amerika wiederum kokettierte er mit
seinem Deutschtum. Ein Zweifrontenkrieg gegen Phrasen und Vorurteile,
den er gern führte, denn er war ein Debattierer aus Leidenschaft.
Eloquent, überzeugt von der Sache – und von sich selbst, zuweilen
an der Grenze zur Selbstgerechtigkeit. Das mennonitische Erbe.
Einige mochten ihn deshalb nicht. Allein wie er dasaß: Die Beine
auf dem Tisch. Cowboyhut, Stiefel, kesse Sprüche – ein arrogantes
Arschloch. Und prompt einer der Ersten, die in Berlin als Lehrer
Berufsverbot bekamen.
Im Rückblick – eine Posse: der Kampf des Staates gegen seine
linken Kritiker. Denn der Vietnamkrieg wurde keineswegs zum Fanal für
den Umsturz der Verhältnisse hierzu- lande. Keine der Revolten und
Revolutionen weltweit realisierte jene Utopie, die den Kopfmenschen
der teilzeitrevolutionären studentischen Intelligenz so greifbar
nahe schien.
Was blieb von den aufgeregten Zeiten? Die Lust an der Aufklärung
– im bürgerlichen Brotberuf Journalist, die Sympathie für die Grünen,
für die Umweltpolitik, und die sporadische Rebellion. Keiner konnte
so vehement gegen die Narrheit der automobilversessenen „Republik
Schumi“ lästern wie Peter Tautfest – wenige hatten so viel
Zivilcourage.
Ein Informationsstand der Rechtsradikalen nahe der Gedächtniskirche.
Ihre Flugblätter fordern „Ausländer raus“. Peter Tautfest ist
mit seinen Söhnen unterwegs, bemerkt den Stand, tritt interessiert
heran – schnappt sich den Stapel Flugblätter und schleudert sie wütend
in die Luft. Hätten die Söhne ihn nicht weggezerrt, er hätte auch
noch den Tisch umgestürzt und dafür vermutlich Prügel kassiert.
Was ihm in diesem Moment völlig gleichgültig war. Er hatte Mut,
was er selbst nicht als absoluten Wert begriff, sondern nur als
Gradmesser der Feigheit anderer.
Kein Kampf ist aussichtslos – es sei denn, man kämpft gegen Krebs
im letzten Stadium. Ratschläge gibt es zuhauf, vom Arzt, im
Internet: den Krebs visualisieren, als Geschenk begreifen, als
Strafe, als Symptom der Lebensunlust, der Lebenslust, als
Aufforderung zum Paktieren. Ein Deal mit dem Krebs machen: „Kann
ich zum Krebs nicht sagen: Lass mich in Ruhe, dann lass ich dich in
Ruhe?“ Glasperlenspiele. Keine List, kein Aberglaube, der nicht in
den Sinn kommt. Fakt: Es blieben zwei Jahre. Zwei Jahre, die ein
Gewinn sind im Zusammenleben mit den Kindern und der Frau. Und
vielleicht auch für den Kopf.
Vierzig Dinge, die man gern macht, listete er auf: in Flüssen und
Seen schwimmen, trommeln, in kleinen Flugzeugen fliegen, essen,
reden, lesen, streiten, in die Ferne sehen . . . Ihm fallen mehr als
vierzig Dinge ein, viel mehr. Aber - „irgendetwas davon soll mal
jemand machen, der sich kotzelend nach einer Chemotherapie fühlt“.
Dennoch, er hat getan, was er tun konnte. Und er hat sein Sterben öffentlich
gemacht, in der Zeitung, für die er auch vier Jahre als
Korrespondent in Washington war. Das Protokoll eines angekündigten
Todes. Zu dem Buch über den Krebs kam es dann allerdings nicht mehr,
auch nicht zu der Familiengeschichte.
Er konzentrierte sich darauf loszulassen. Das ist zuweilen
schwieriger als zuzupacken. Mit einem Freund hatte er vor Jahren
eine gemeinsame Reise in den Jemen unternommen. Eine Wanderung über
die Hochebene. Peter Tautfest immer voran. Auch als das Gelände
schwieriger wurde. Den Felsen schließlich erkletterte er noch aus
eigener Kraft. Aber ohne die Hilfe des Freundes gelangte er nicht
mehr nach unten. Diesmal half ihm seine Frau herabzusteigen. Von dem
Gipfel der Erwartungen.
Der Mut besteht darin, irgendwann zu sagen: Jetzt ist es gut. Ich
kann nicht mehr. Nicht, dass er klein beigegeben hätte, er wollte
nur zur Ruhe kommen: „Vom Strecken der Waffen geht ein seltsamer
Friede aus“. Gregor Eisenhauer
tagesspiegel
21.3.03
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